Direkt zum Inhalt

Naturschutz: Falsches Ideal

Ein nettes Tal, durchzogen von einem fröhlich dahin plätschernden Bächlein, das in weiten Kurven, mal schnell, mal langsam durch die Wiesen mäandriert: Das ist Natur. Das Bild dient daher als Vorlage für zahlreiche Renaturierungsmaßnahmen seelenloser, zu begradigten Drainagegräben degradierter Gewässer im ländlichen Raum. Doch womöglich bauen Naturschützer damit ausgerechnet die bis heute wirkenden ersten massiven Eingriffe des Menschen ins Fließgeschehen nach.
Kanal im Emmental
Die Großen zuerst, lautete lange Jahre das Motto im Gewässerschutz: Im Rhein sollten wieder Lachse schwimmen und nicht nur Umweltminister baden gehen können. Also wurden Kläranlagen gebaut, um die Gewässergüte – festgemacht an verschiedenen biologischen und physikalisch-chemischen Qualitätsanzeigern – zu steigern. Durchaus mit gewissem Erfolg.

Doch hilft kein Großreinemachen vor Ort, wenn die Zuflüsse nicht sauber sind. Also richtete sich der Blick zunehmend auf die kleineren Flüsse und Bäche im Hinterland – und brachte noch ein weiteres Thema auf: die Renaturierung der einst natürlichen Gewässerläufe. Ganz abgesehen von dem Ideal, einfach ein Stück Natur wiederherzustellen, wollte man deren Selbstreinigungskräfte fördern und ihre früheren Auen im Hochwasserschutz nutzen. Was bei Vater Rhein nur noch in Form von Altarmabschnitten gelingt, sollte doch für einen Bach im ländlichen Raum kein so großes Problem sein.

Was ist Natur?

Stellte sich nur die Frage: Wie sieht sie denn aus, diese ursprüngliche Natur? Welchem Idealbild sollte man folgen? Nun schlug die Stunde der Gewässermorphologen, die sich weniger um die Wasserqualität, als vielmehr um die Umgebungsstruktur von Bach und Fluss kümmern: Gewissenhaft beschrieben und kartierten sie verschiedene Typen und ermittelten in als naturnah angesehenen Gebieten, wie wohl der Ursprungszustand eines Mittelgebirgsbaches bei mittlerem Talgefälle oder auch ein schmaler Flachlandfluss auf vorwiegend sandigem Untergrund ausgesehen haben dürfte, bevor der Mensch sie mit Schaufel und Wehr zu puren Entwässerungsgräben oder Fischteichketten verdammte.

Alter Mühlkanal | Ein alter Mühlkanal am Pickering Creek in Chester County. Er durchzieht das gesamte Tal und ist bis an den Rand gefüllt mit Sedimenten.
Aus diesen Analysen ergab sich für viele flach geneigte Täler die Vorstellung eines darin Schleifen ziehenden Baches mit ruhigen und schneller strömenden Abschnitten sowie klassischen Uferbänken – so genannten Gleithängen –, auf denen sich bei niedriger Fließgeschwindigkeit feiner Sand und Ton ablagern. Ihnen gegenüber entwickeln sich Prallhänge, scharfe Abbruchkanten, die von der stärkeren Strömung immer weiter unterspült und abgetragen werden und so das Material für die Sedimentation liefern. Im Gewässerbett finden sich je nach Fließgeschwindigkeit und geologischem Untergrund von feinem Schlick und Sand bis zu Kieseln abwechslungsreiche Lebensräume für Organismen aller Art. Und im Tal selbst schließlich zeugen teils mehrere Meter mächtige Ablagerungen davon, dass der Lauf keineswegs konstant ist, sondern mit jedem Hochwasser einen neuen Pfad einschlagen kann – eine Eigenheit, durch den schon so manche zuvor angelegte, teure Renaturierungsmaßnahme buchstäblich den Bach runterging.

Sich dieses Bild als natürliches Ideal vorzunehmen, sei jedoch falsch, erklären nun zwei amerikanische Forscher. Denn dieser Zustand sei keineswegs der von Menschenhand unbeeinflusste, sondern im Gegenteil sogar die bis heute anhaltende Folge massiver Eingriffe. Verursacht durch eine in Nordamerika wie Europa vom 17. bis 19. Jahrhundert weit verbreitete Nutzung der kleinen Gewässer als Mühlenbäche.

Die Mühlen der Geschichte ...

Robert Walter und Dorothy Merritts vom Franklin and Marshall College in Lancaster ermittelten anhand historischer Karten für die Piedmont-Region im Vorland der Appalachen im Osten der USA, dass in diesem flachen Hügelland die Bäche durch tausende Mühlen aufgestaut wurden – die Täler waren regelrecht damit gepflastert, etwa alle 2,5 bis 5 Kilometer befand sich ein entsprechendes, bis zu knapp vier Meter hohes Bauwerk. Bodenuntersuchungen und detallierte Höhenvermessungen belegten, dass die feinen Ablagerungsschichten im Talboden, die als alte Überschwemmungsbereiche gedeutet wurden, wohl eher die Überreste der alten Staubecken sind, da sie immer wieder bachaufwärts keilartig ausdünnen. Auch weisen enthaltene Ziegelbruchstücke, Kohlereste und andere Funde darauf hin, dass die Sedimente aus einer Zeit stammen, da der Mensch seine Spuren bereits hinterließ. Eine Isotopen-Kartierung ergab zudem, dass die Ablagerung bis vor 300 Jahren anhielt.

Tal-Topografie | Mit Hilfe von Radar-Luftaufnahmen vermaßen die Forscher die Taltopografie und konnten so die Folgen alter Mühlenanlagen erkennen: Jeweils oberhalb der inzwischen nicht mehr genutzten Anlagen ließen sich charakteristische Höhenveränderungen feststellen.
Zwischen dieser Auflage und einem kiesigen Untergrund, den sie als Erosionsmaterial der umliegenden Hänge der vergangenen Jahrtausende deuten, entdeckten die Forscher jedoch noch eine dünne Schicht, die deutlich reicher war an organischem Material und sich auch sonst von den vermuteten Teichablagerungen unterscheidet. Sie enthielt zahlreiche pflanzliche Überreste von Samen bis Wurzelgängen und wird oben teilweise von alten Straßenholzplanken begrenzt.

Dies sei, so Walter und Merritts, die eigentliche natürliche Basis aus der Zeit vor den Mühlen: ein begrabenes Feuchtgebiet aus Wiesen- und Waldflächen, in dem die Bäche nicht etwa mäandrierten und sich immer wieder neu in ihre selbst aufgeschütteten Ablagerungen einschnitten, sondern sich in ein Netzwerk aus vielen schmalen Gerinnen mit Inseln und kleinen, durchflossenen Tümpeln aufspalteten. Das würde auch viel besser zu den Beschreibungen der frühen Siedler passen, die von versumpften Wiesen, gespeist von Quellen an den Talhängen, berichteten.

... mahlen lange

Was nun also so naturnah wirkt, ist der Versuch des Gewässers, die menschengemachten Sedimentlasten in seinem Tal wieder loszuwerden. Möglich wurde dies erst, als mit der Aufgabe der Mühlen die Dämme verfielen, sich somit das Erosionsniveau senkte und die Fließgeschwindigkeit erhöhte. Die beispielsweise für Eisvögel so wichtigen Prallhänge sind damit aber keineswegs natürlicher Ausgangszustand, sondern Überrest der alten Nutzung – und müssten daher in Diskussion geraten, wenn man allein dem Ideal "Ursprungszustand" nachhängt. Diese kritische Debatte rankt sich allerdings auch um Orchideenwiesen und aufgelassene Steinbrüche und zeigt, dass Schutzwürdigkeit gar nicht so einfach zu definieren ist.

Für Bach-Renaturierungsprojekte bestätigt das aber vor allem eins: Es ist eine schlechte Idee, einem Bach mit dem Bagger einen neuen Lauf vorzugeben. Sinnvoller ist es, ihm schlicht Raum zur Selbstentwicklung zu lassen und ihm dabei eventuell noch, wenn er sich schon sehr tief eingegraben hat, durch abgeschrägte Ufer und gezielte Störstellen beim Ausbrechen zu helfen. Das kostet Geld für den Flächenankauf, verringert aber den Frust, wenn er sich beim nächsten Hochwasser sowieso seinen eigenen Weg sucht.

Und es verlangt vor allem einen anderen, langfristigeren Blick auf das Thema Renaturierung: Es ermöglicht eben nicht, nach drei Jahren beim Fototermin "neue Natur" zu feiern und entlang schön angelegter Wege eine "Grünverrohrung" zu bestaunen, bei der eng gepflanzte Bäumchen den wiederbelebten Bach im Bett halten sollen. Nein, auf diesem Weg wird Natur als unberechenbar erkannt und akzeptiert – ebenso wie der Fakt, dass nicht in Jahren beseitigt ist, was der Mensch in Jahrzehnten angerichtet hat.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.