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Familienaufstellung: Esoterischer Humbug oder heilsames Schauspiel?

Familienkonflikte mit wildfremden Personen nachstellen und darüber lösen: Bei Aufstellungen fließen schnell Tränen. Doch ist die Methode wirksam – oder eher gefährlich? Unser Autor hat zugeschaut.
Holzfiguren stehen auf einer roten Oberfläche vor einem blauen Hintergrund. Die Figuren sind gleichmäßig verteilt und symbolisieren möglicherweise soziale Interaktion oder Teamarbeit. Die Szene ist minimalistisch und kontrastreich gestaltet.
Bei einer Familienaufstellung werden Stellvertreter realer Personen im Raum angeordnet. Ziel ist es, verborgene Dynamiken sichtbar zu machen und belastende Beziehungen oder Konflikte besser zu verstehen.

Als sie vor dem fremden Mann steht und ihn Papa nennt, hat Gabriele Tränen in den Augen. Sie habe die konservative Ehe ihres echten Vaters nicht genug respektiert, wurde ihr gerade gesagt. Das solle sie nun geraderücken – mit dem Fremden, der ihren Vater darstellt. Dann erst könne sie mit ihrem Ex-Mann abschließen, den habe sie nämlich auch nicht respektiert.

»Papa, ich habe mir einen Mann ausgesucht, der ganz anders ist als du. Und ich habe ihn nicht respektiert«, sagt Gabriele (die in Wirklichkeit anders heißt) unter Tränen.

Gabrieles Vater ist schon seit Jahren tot. Eigentlich glaubt sie nicht, dass er irgendetwas mit ihrem aktuellen Problem mit dem Ex-Mann zu tun hat. Um die Erfahrung mit ihrem Ex zu überwinden, hat sie eine Familienaufstellung gebucht. Und dazu gehört meist auch die Auseinandersetzung mit toten Verwandten.

Wildfremde »Familienmitglieder«

Bei einer Familienaufstellung stellt man fremde Menschen als Stellvertreter für die eigene Familie und sich selbst in einen Raum. Dann kann man analysieren, wie die Verhältnisse in der Familie sind und wie sie besser sein könnten. Das Versprechen: Löst man einen Konflikt unter den Stellvertretern, soll er auch in Wirklichkeit verschwinden. Eine einzige Sitzung soll genügen, um tief liegende Konflikte zu lösen oder sogar chronische Krankheiten zu heilen.

Es wäre einfach, das Ganze als Schwurbelei abzutun. Doch immerhin genießen ähnliche Methoden auch unter manchen ernst zu nehmenden Therapeuten einen guten Ruf: als nützlicher Baustein in einer längeren Psychotherapie; als Stellvertreter können dann freilich auch Playmobilfiguren herhalten. Es gibt aber auch wissenschaftliche Studien, die der Familienaufstellung eine immerhin akzeptable Wirkung bescheinigen. Zwar nicht als Therapie gegen echte Krankheiten, aber als Stütze für psychische Alltagsprobleme.

»Wir haben inzwischen Hinweise darauf, dass Familienaufstellungen wirken«, sagt Christina Hunger-Schoppe. Sie ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke und weltweit eine der wenigen Expertinnen, wenn es um Aufstellungen geht. Zusammen mit ihren Kollegen hat sie 2013 die erste – und bis heute umfassendste – empirische Untersuchung zu dem Thema veröffentlicht. Als sie mit der Studie anfing, war die Familienaufstellung noch verschrien. »Uns wurde damals gesagt: Wenn ihr Karriere machen wollt, dann befasst euch lieber nicht mit dem Thema.«

Vom Menschenfischer zum Menschensteller

Verantwortlich für den schlechten Ruf der Aufstellungen ist Bert Hellinger (1925–2019). Während der Apartheid war er katholischer Priester in Südafrika, wandte sich dann aber von der Kirche ab und wurde Familienaufsteller. Nicht irgendeiner, sondern der Familienaufsteller. Seine Aufstellungsseminare wurden überrannt, es kamen Hunderte, um ihn zu sehen und von ihm geheilt zu werden.

»Wenn Bert auf der Bühne stand, war absolute Stille im Saal. Alle hatten das Gefühl: Hier passiert etwas Wahres. Es hat sich heilig angefühlt.« Das sagt Wilfried Nelles. Der Psychologe stand Hellinger persönlich sehr nahe. Er hat selbst nach Hellingers Methode gearbeitet und viele von Hellingers Aufstellungen miterlebt.

Hellingers Seminare waren stark nachgefragt. Laut der Sekteninfo NRW lag das vor allem daran, dass er einfache Lösungen für komplexe Probleme versprach. Konflikte mussten nicht mehr langwierig mit der Familie ausgehandelt werden, chronische Krankheiten brauchten keine aufwendige Behandlung mehr. Es reichte eine kurze Intervention mit Fremden auf einer Bühne, und alles wurde wieder gut – so zumindest das Versprechen.

Obwohl Hellinger und seine Aufstellungen wohl kaum schrulliger sein konnten, interessierten sich Hunger-Schoppe und ihr Co-Autor Jan Weinhold für die wissenschaftliche Bewertung der Methode.

Das Konzept der Aufstellungen klingt erst einmal absurd – selbst wenn ein gemäßigterer Therapeut sie durchführt. Ein psychisches Problem oder ein Konflikt soll sich nach gerade mal einer Stunde Behandlung in Luft auflösen? Der Therapeut, meistens ein Heilpraktiker, weiß über die Hintergründe der Person fast nichts. Nach Ansicht der Befürworter ist das aber gar nicht so wichtig. Diese würden sich ja ohnehin von selbst offenbaren.

»Die Familienaufstellungen nach Hellinger sind im Grunde eine spezielle Variante der Skulpturarbeit. Und das ist eine altehrwürdige Technik aus der Familientherapie, die ich im Grunde für sehr sinnvoll halte. Doch Hellinger selbst hat womöglich mehr Menschen geschadet als genützt«, sagt Kirsten von Sydow. Sie ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Medical School Hamburg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. Dieses Gremium erstellt Gutachten für Behörden und Fachverbände zu der Frage, welche psychotherapeutischen Verfahren wissenschaftlich anerkannt sind und welche nicht.

Skulpturarbeit: Mit Figuren Gefühle verkörpern

Bei der Skulpturarbeit werden Beziehungskonstellationen räumlich dargestellt. Das geht mit Spielfiguren, die Personen und Gefühle darstellen, oder, wie bei Hellinger, mit echten Personen. »Wenn der Patient die wichtigen Personen aufgestellt hat, kann man die anderen Rollenspieler und ihn fragen, wie die Skulptur von außen auf ihn wirkt, welche Gefühle und Impulse die Skulptur bei allen Beteiligten auslöst«, erklärt von Sydow. Dadurch könne man gemeinsam erarbeiten, wo Probleme liegen. »Danach kann der Patient eine weitere Skulptur aufstellen, die seine Wunschsituation bei Therapieende abbildet. Dadurch entwickelt er eine Zielvorstellung, auf die in der Therapie hingearbeitet werden kann.« Setzen gut ausgebildete Therapeuten diese Technik ein und akzeptieren dabei die Grenzen der Patienten, ist das für von Sydow ein spannender und nützlicher Ansatz. Nur gebe es bisher wenig Forschung zu den Skulpturen mit Spielfiguren und kaum welche zur Arbeit mit echten Personen.

Wer verkörpert wen? | Zu Beginn einer Aufstellung wählt der Klient aus einer Reihe fremder Personen Stellvertreter für die eigenen Familienmitglieder und sich selbst aus.

Genau das wollte Christina Hunger-Schoppe mit ihrer Studie ändern. Für insgesamt 208 Teilnehmende führte sie in dreitägigen Seminaren Familienaufstellungen durch – zuerst nur die eine Hälfte der Studienteilnehmer, damit die andere noch als Kontrollgruppe dienen konnte. Die Aufstellungen waren zwar inspiriert von dem umstrittenen Bert Hellinger, doch durchgeführt wurden sie von ausgebildeten Psychotherapeuten, die sich auf Beziehungsprobleme oder psychische Belastungen fokussierten, nicht auf die Heilung körperlicher Symptome. Und wichtig: Keiner der Teilnehmenden war ernsthaft krank; die Intervention war also eher eine Wohlfühlbehandlung.

Das Ergebnis, das Hunger-Schoppe im Fachmagazin »Journal of Counseling Psychology« veröffentlichte, konnte sich trotzdem sehen lassen: Im Schnitt fühlten sich die Teilnehmer noch vier Monate nach dem Seminar allgemein besser, litten weniger an Symptomen von psychiatrischen Erkrankungen und hatten den Eindruck, ihren persönlichen Zielen näher zu sein. Im Vergleich zur Wirkung von mehreren Sitzungen Psychotherapie war der Effekt zwar eher klein, aber er bewegte sich immerhin ungefähr im Rahmen der Wirkung von kurzen psychologischen Wochenendseminaren. Und vielleicht am wichtigsten: Niemand schien durch die Aufstellungen ernsthaft gefährdet.

Stichprobe klein, Aussage begrenzt

Bei der Interpretation dieses Ergebnisses muss man jedoch vorsichtig sein. Die Stichprobe war nicht besonders groß, und das Ergebnis lässt nur Rückschlüsse auf solche Umstände zu, in denen auch getestet wurde. Also: mehrtägige Aufstellungsseminare mit psychisch gesunden Teilnehmenden, geleitet von erfahrenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Und es gibt noch ein schwerwiegendes Problem: Es gab keine Placebo-Gruppe, niemand wurde nur zum Schein aufgestellt. Man kann also nicht sicher sagen, ob es wirklich die Aufstellung war, die einen positiven Effekt hatte. Möglicherweise war es einfach das intensive Wochenende, der rege Austausch mit anderen Menschen oder der bloße Kontakt zu den Therapeuten.

Trotzdem kann man aus den Ergebnissen eine Tendenz herauslesen: Wer zu einer Aufstellung geht, scheint sich im Durchschnitt hinterher besser zu fühlen als vorher und auch besser als Menschen, die nicht zu der Aufstellung gegangen sind.

Das mit dem Durchschnitt ist allerdings wichtig. Denn laut den Daten von Hunger-Schoppe war nur ein recht kleiner Teil der Probanden für den insgesamt positiven Effekt der Behandlung ausschlaggebend: Etwas weniger als ein Drittel fühlten sich hinterher psychisch besser. Das waren nur etwa 15 Prozent mehr als in der Kontrollgruppe.

Seit der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse im Jahr 2013 sind weitere kleine Studien unter anderem des Psychologen Barna Konkolÿ-Thege vom Waypoint Research Institute der University of Toronto erschienen, die die zentralen Befunde unterstützen: Die Familienaufstellungen scheinen kein Allheilmittel zu sein, aber auch nicht völlig nutzlos oder gar gefährlich. Zumindest, wenn sie von professionellen Psychotherapeuten ausgeführt werden. Hunger-Schoppe konnte inzwischen auch die Langzeitwirkung der Intervention prüfen: Noch nach einem Jahr ging es ihren – psychisch gesunden – Studienteilnehmern besser als vor der Aufstellung, spätestens innerhalb von fünf Jahren war ihre psychische Gesundheit jedoch wieder auf dem Anfangsniveau.

Für Kirsten von Sydow sind diese Untersuchungen ein guter Anfang – aber nicht mehr. »Es gibt bisher nur sehr wenige Studien, die sich mit lebenden Skulpturen oder sogenannten Aufstellungen beschäftigt haben. Wie sie sich auf Menschen auswirken, die wirklich psychische Probleme haben, wissen wir noch überhaupt nicht. Und die Studien zeigen auch, dass es zum Teil negative Effekte gibt. Man müsste das alles noch viel intensiver untersuchen.«

Familienaufstellung im Praxistest

Verschwendet Gabriele also ihre Zeit, wenn sie dem fremden Mann, der ihren Vater darstellt, ihren Respekt versichert? Nicht zwangsläufig. Obwohl die Studienlage sehr dünn ist, liefert sie immerhin Hinweise darauf, dass die Aufstellungen zumindest manchen Menschen helfen könnten.

Rückblende an den Anfang von Gabrieles Tag: Es ist Sonntagmorgen. Neben Gabriele hören noch elf weitere Frauen und Männer mittleren Alters aufmerksam zu, als die Aufstellungsleiterin Heidi Schäfer (die in Wirklichkeit anders heißt) erklärt, was nachher passieren wird: drei Aufstellungen für drei Frauen, die anderen neun Teilnehmer sind Beobachter und können als Stellvertreter für Probleme oder Familienmitglieder ausgewählt werden, wenn sie möchten.

Das Ganze findet in einem schlichten Raum statt. Es gibt einen Stuhlkreis mit einem Blumenstrauß auf dem Fußboden in der Mitte und sonst eigentlich nichts. Keine Gemälde, keine Wandfarbe, kein Fenster, kein Spiegel, kein Teppich. In diesem Raum möge man auch bitte kein Smartphone benutzen oder private Gespräche führen. Das lenke alles nur ab, sagt Schäfer.

Die hier versammelten Menschen (die wie Gabriele in Wahrheit andere Namen tragen) wirken bunt zusammengewürfelt. Sabine hat lange im Controlling gearbeitet, setzt sich aber in letzter Zeit gerne mit spirituellen Themen auseinander. Thorsten ist Schulpädagoge und sagt, er habe seinen Vater nie gekannt. Christiane war mal Krankenschwester, interessiert sich mittlerweile jedoch mehr für den Zusammenhang zwischen Krankheiten und Familienproblemen als für Medikamente. Rainer ist hier, weil er von den Problemen anderer Menschen mehr über seine eigenen lernen möchte.

Die Sehnsucht nach der Gemeinschaft

Niemand ist heute das erste Mal da. Die meisten haben schon ein paar Aufstellungen hinter sich, zwei Frauen machen gerade sogar eine Ausbildung, um selbst Aufstellerin zu werden. Laut der Sekteninfo NRW ist das typisch für Familienaufstellungen. Viele seien geradezu süchtig nach einem euphorischen und gemeinschaftlichen Gefühl des Miteinanders und würden sich immer wieder anmelden.

Gabriele setzt sich nach vorn. Ihr gegenüber sitzt Heidi Schäfer, die Aufstellerin. Die beiden kennen sich noch nicht richtig. Der ganze Raum hört aufmerksam zu, während Gabriele ihr Problem schildert: Sie will ankommen und abschließen, sagt sie. Ankommen bei ihrem neuen Mann und in ihrem neuen Leben, abschließen mit ihrem Ex. Der habe sich nach 25 Jahren Ehe eines Abends einfach von ihr verabschiedet. Sei ohne Erklärung einfach gegangen und nie wiedergekommen. Sie sei schwer depressiv geworden, habe sogar versucht, sich umzubringen, sagt Gabriele.

Gebannte Stille, alle schauen sie an.

Standortbestimmung | Auch sich selbst weist man bei der Aufstellung einen Platz zu. Die Positionen und Abstände der Stellvertreter repräsentieren emotionale Nähe, Distanz oder Spannungen.

Irgendwann, mit viel Kraft und Psychotherapie, sei es ihr gelungen, wieder ins Leben zurückzufinden und einen neuen Partner zu finden, mit dem sie jetzt glücklich sei. Ganz abgeschlossen habe sie aber immer noch nicht. Sie denke noch zu oft an den Ex-Mann, habe Angst, dass ihr neuer Partner sie auch aus dem Nichts heraus verlassen könnte. Deswegen ist sie hier. Sie hat 220 Euro bezahlt und jetzt ungefähr eine Stunde Zeit, um ihr Problem durch die Aufstellung in den Griff zu bekommen.

Dazu wählt sich Gabriele ein paar Stellvertreter aus der Gruppe aus. Rainer stellt ihren Ex-Mann dar, Thorsten ihren Vater, Christiane ihre Mutter, Dieter ihren neuen Partner und Irene sie selbst.

Den Ex stellt sie weit weg von ihrem neuen Mann, die Eltern nebeneinander, sich selbst irgendwo dazwischen.

Wenn alle an ihrem Platz stehen, soll der fast magische Aspekt der Aufstellung einsetzen. Die Stellvertreter bekommen angeblich Zugriff auf Wissen über die Person, die sie darstellen. Ihre Empfindungen und Regungen werden nicht mehr als die eigenen verstanden, sondern es sollen diejenigen der echten Personen sein.

Für einen Fremden fühlen

Wenn Thorsten zum Beispiel wütend wird, seien das in Wahrheit nicht seine Gefühle, sondern die von Gabrieles totem Vater. Schaut er Christiane, die Stellvertreterin der Mutter, intensiv an, dann möge der Vater sie. Schauen die »Eheleute« sich nicht an, deute das auf Streit hin. Und schaut einer von beiden zu Boden, dann habe sich das reale Elternteil für etwas geschämt. Ob man wohl auch einfach in die Gegend schauen kann, ohne dass es etwas bedeutet? Unklar.

Nachdem sich in dem schmucklosen Raum alle in ihre Rolle eingefühlt haben, ist der jungen Frau, die Gabriele darstellt, auf einmal seltsam kalt. Sie stellt sich neben Thorsten, den Vater, und fühlt sich besser.

»Warst du ein Papakind?«, möchte Heidi Schäfer von Gabriele wissen. »Ja, vielleicht so ein bisschen.«

Wie sollte es einen Zusammenhang zwischen den Stellvertretern und den echten Personen geben können? Dazu kursieren die schillerndsten Erklärungen. Das »morphogenetische Feld« sei dafür verantwortlich, behaupten manche Aufsteller, ohne weiter auszuführen, was das genau sein soll. Andere verorten den Ursprung in der Quantenphysik. In einem Artikel von 2025 im Journal »New Ideas in Psychology« werfen zwei spanische Psychologieprofessoren noch Telepathie und die Evolutionstheorie in die Debatte.

Bianca Liebrand von der Sekteninfo NRW sieht das alles kritisch. »Am Ende weiß man natürlich nicht, was wirklich dahintersteckt. Es kann aber gut sein, dass Stellvertreter einfach wiedergeben, was aus ihren eigenen Erfahrungen heraus sinnvoll erscheint.« Oder sie würden unter einem Druck handeln, irgendeine sensationelle Erkenntnis zeigen zu müssen. Nehme man so etwas allzu ernst, könne das auch gefährlich werden. »Bei uns gab es schon Fälle von Leuten, die nach solchen Aufstellungen auf einmal geglaubt haben, dass ihr Onkel ein Vergewaltiger sei. Ohne dass es dafür irgendwelche echten Anzeichen gegeben hat.«

In der Aufstellung starren sich Thorsten und Christiane – Vater und Mutter von Gabriele – gegenseitig an. »Er sieht so bedrohlich aus«, sagt sie. »Ich wollte immer einen Sohn haben«, sagt er.

»Was war das für eine Ehe, die deine Eltern geführt haben?«, fragt Aufstellerin Heidi Schäfer. »So eine Standard-Nachkriegsehe«, sagt Gabriele. »Er war sehr dominant und hat gearbeitet, sie war die meiste Zeit in der Küche.« »Das hört sich sehr respektlos an, wie du über die Ehe deiner Eltern sprichst«, sagt Schäfer, nachdem sie eine Weile nachgedacht hat. »Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass die eigene Beziehung misslingt, wenn man die eigenen Eltern und ihre Beziehung nicht achtet.«

Ein stummer Hinweis auf Hellinger. Er hat daran geglaubt, dass Kinder ihre Eltern relativ bedingungslos respektieren müssen.

Toter Guru mit viel Macht

Bert Hellinger verstarb 2019. Er hat ein enormes Vermächtnis hinterlassen. Sein Name ist zur eingetragenen Marke geworden, unter anderem für therapeutische Dienstleistungen und Lehre, es gibt eine Hellinger®-Schule, an der seine Ideen gelehrt werden, eines seiner Bücher ist bereits in 19. Auflage erschienen, und es gibt nach wie vor unzählige Aufsteller, die sich auf ihn berufen.

Doch auch seine Kritiker sind nicht leiser geworden. Die Sekteninfo NRW warnt ausdrücklich vor Familienaufstellern, die unreflektiert Hellingers Methode weiter praktizieren. Sie seien oft schlecht ausgebildet und würden deshalb die Grenzen ihrer eigenen Fähigkeiten und die ihrer Klienten nicht gut erkennen.

Zurück in den Aufstellungsraum. »Danke für die schöne Zeit«, sagt Gabriele zu Rainer, der den Ex heute vertritt. »Wir haben uns gesucht und gefunden. Aber dann war es irgendwann nicht mehr richtig, und ich habe es nicht gemerkt.« Rainer schaut teilnahmslos, während sie das sagt. Dann sagt er: »Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Ich kann mir anhören, was du zu sagen hast, aber ich bin mit dem ganzen Thema durch.«

Wieder werden Gabrieles Augen feucht. Diesen letzten Satz zu hören, das sei wie ein Schlag in die Magengrube gewesen, sagt sie hinterher. Aber es war auch der Moment, in dem sie endlich realisiert habe, dass ihr Ex-Mann wirklich nichts mehr von ihr will.

Ob der Ex wirklich keine Gefühle mehr für sie hat, kann hier freilich niemand wissen. Nicht Rainer, nicht Gabriele und auch nicht Heidi Schäfer. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig. Gabriele hat jetzt eine vermeintliche Klarheit, die ihr echter Ex-Mann ihr nie gegeben hat.

Die Aufstellung beendet Gabriele im Arm von Dieter, dem Stellvertreter ihres neuen Mannes. »Ich bin da«, sagt er liebevoll und drückt sie fest. »Das hat sich gut angefühlt«, erinnert sich Gabriele später. »Während der Aufstellung habe ich komplett ausgeblendet, dass das ja eigentlich alles fremde Menschen sind.«

Am Abend der Aufstellung fühlt sie sich noch ganz aufgewühlt. Der Satz ihres »Ex-Mannes« lässt sie einfach nicht los.

Aber schon eine Woche später sieht das anders aus. »Es hat mich total befreit, das einmal so deutlich von meinem Ex-Mann zu hören. Ich kann jetzt loslassen«, sagt sie am Telefon und klingt zuversichtlich.

Ziel erfüllt. Mit nur einer Stunde Aufwand?

Aus Sicht von Gabriele scheint das Versprechen der Familienaufstellung aufgegangen zu sein. Laut den Studien ist sie damit aber nur eine von wenigen. Was ihr am Ende wirklich geholfen hat, kann die Forschung nicht beantworten. Vielleicht hat sie durch die Visualisierung ihrer Situation im Raum eine neue Perspektive auf ihr Problem bekommen. Vielleicht war es gut, ein Ritual zu haben, mit dem sie ganz explizit Abschied nehmen konnte. Ihr echter Ex-Mann redet ja nicht mehr mit ihr.

Vielleicht war es aber auch tatsächlich der eine Satz des Stellvertreters, genau im richtigen Moment. Nur: Dann wären die Aufstellungen äußerst fragil. Ein anderer Stellvertreter hätte wahrscheinlich etwas ganz anderes gesagt. Mehr noch: Ein ungünstiger Blick zur falschen Zeit und sein Verhalten wäre womöglich als heimliche Liebe interpretiert worden. Was für ein Chaos.

Wenn man die Zahlen aus Hunger-Schoppes Studie auf Gabriele anwendet, dann ist sie aus der Gruppe der zwölf eine von zwei Teilnehmern, denen es nach dem Aufstellungstag etwas besser geht. Den Effekt spürt sie möglicherweise noch in einem Jahr, aber spätestens in fünf Jahren dürfte er verpufft sein. Ein Wunderheilmittel ist das ganz sicher nicht.

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  • Quellen
Hellinger, B., Ordnungen der Liebe: ein Kursbuch, 2007
Hunger-Schoppe, C., Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 10.1024/1661–4747/a000424, 2020
Konkolÿ Thege, B. et al., Family Process 10.1111/famp.12636, 2021
Konkolÿ Thege, B., Sándor Szabó, G., Journal of Psychiatric Research 10.1016/j.jpsychires.2024.07.027, 2024
Weber, G., Zweierlei Glück. Das Familienstellen Bert Hellingers, 2007
Weinhold, J. et al., Journal of Counseling Psychology 10.1037/a0033539, 2013

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