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Familiengrüfte: In der Welt der Toten

Wovor sich viele Menschen gruseln, haben die Forscher Regina und Andreas Ströbl zu ihrem Beruf gemacht. Sie untersuchen neuzeitliche Grüfte, retten die Stätten vor dem Verfall und sorgen für eine würdige Totenruhe.
Im Kellergewölbe der Berliner Parochialkirche stehen Särge aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Im Kellergewölbe der Berliner Parochialkirche stehen Särge aus dem 18. und 19. Jahrhundert. In den Totenkästen liegen Verstorbene, die einst der gehobenen Gesellschaft des preußischen Staats angehörten.

Gusseiserne Särge, kein alltäglicher Anblick, nicht einmal für Andreas Ströbl. »Einzigartige Zeugnisse der frühen Industrialisierung im Sargbau«, nennt Ströbl den Fund. Drei Tage haben seine Frau Regina und er in einem Kellergewölbe des Schlosses Lichtenstein im Westen Sachsens verbracht – vermessen, fotografiert, Befunde notiert und angepackt, wenn es galt, bis zu 400 Kilogramm schwere Eichensärge ans Tageslicht zu schaffen, um sie zu restaurieren.

Lichtenstein zählte zu den Residenzen der Herren und Grafen von Schönburg, einer der prominentesten Adelsdynastien im Kurfürstentum und späteren Königreich Sachsen. Die Kellergruft birgt 22 Särge aus dem frühen 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, »von Biedermeier bis Art déco«, sagt Andreas Ströbl; in diesen fanden Mitglieder der erlauchten Sippe die letzte Ruhe. Die gusseisernen Exemplare datieren aus der Zeit bis 1861.

Keine zwei Wochen zuvor waren die Ströbls sechs Tage lang im westlichen Harzvorland gewesen, in der 1500-Seelen-Ortschaft Dorste unweit von Osterode. Dort befindet sich unter dem wuchtigen Turm der Dorfkirche St. Cyriaci die Grablege der einstigen Gutsherren, der Familie von Hedemann. Einige der 25 Särge aus der Zeit zwischen 1704 und 1859 standen bisher auf gestampftem Lehmboden. Dem Holz ist das nicht bekommen. Vor allem die »wunderbar bemalten« Barocksärge aus dem frühen 18. Jahrhundert haben es Andreas Ströbl angetan, »ein ganz besonderer Sargbestand, in der Region gibt es nichts Vergleichbares«. Nur dass vom üppigen Zierrat unter Schmutz und Staub der Jahrhunderte zuletzt nicht mehr viel zu sehen war.

Eine Besonderheit hatten beide Grüfte, die in Lichtenstein und die in Dorste, gemeinsam: Das Inventar war angegriffen, aber intakt. Keine Spur von Plünderung oder Vandalismus. Es geschieht sehr selten, dass die Gruftforscher einen solchen Befund antreffen. Sie beließen es also dabei, die Särge von außen zu untersuchen, gestatteten sich keinen Blick ins Innere: »Unsere wissenschaftliche Neugier hört da auf, wo die Würde der Toten anfängt.«

Eine gemeinsame Neigung, in Krypten zu stöbern

Seit gut zwei Jahrzehnten sind sie so in Deutschland unterwegs, untersuchen Gruft um Gruft und sind »nur tageweise« zu Hause in Lübeck. Beide haben Archäologie und Kunstgeschichte studiert. Sie ist Expertin für alte Textilien, er spezialisiert auf Stilgeschichte historischer Särge. Die Neigung zum Stöbern in Krypten und Grabkellern entdeckten sie unabhängig voneinander an verschiedenen Orten. Sie im vorpommerschen Wolgast, er in den Gewölben unter der Berliner Parochialkirche. Gemeinsame Bekannte vermittelten eine Begegnung, seither leben und arbeiten sie zusammen.

Aus der Gruft | Im Jahr 2022 untersuchten Andreas Ströbl (rechts im Bild) und seine Frau Regina Ströbl die Gruft der Kirche St. Cyriaci in Dorste. Dazu holten sie die Särge aus dem Gewölbe, wie hier ein Exemplar von 1708.

Die Gruft unter der Wolgaster St.-Petri-Kirche war von 1560 bis 1580 als Grablege der Pommernherzöge errichtet worden. Die Restaurierung zu Beginn dieses Jahrtausends prämierte die Vereinigung »Europa Nostra« mit ihrem Denkmalschutzpreis. Die Parochialkirche entstand in den Jahren nach 1695 als erstes Gotteshaus der reformierten Gemeinde Berlins. Das Untergeschoss beherbergt Andreas Ströbl zufolge die nach der Hohenzollern-Grablege im Dom »zweitwichtigste« Gruft der Hauptstadt, rund 140 Beisetzungen aus den Jahren zwischen 1703 und 1880.

Namhafte Verstorbene aus der gehobenen Gesellschaft, Kaufleute, Beamte, Gelehrte, Militärs, wurden hier bestattet. »Das waren die Leute, die den preußischen Staat mit aufgebaut haben.« Etwa der in Diensten des Großen Kurfürsten und seines Sohns, des späteren Königs Friedrich I. (1657–1713), ergraute brandenburgische Staatsmann Georg von Berchem (1639–1701), dessen Familie im 16. Jahrhundert vor der spanischen Inquisition aus den südlichen Niederlanden emigriert war. Als Miterbauer der Kirche fand er bereits vor ihrer Fertigstellung hier die letzte Ruhe. Die Inschrift seines Epitaphs rühmt unter anderem seine diplomatische Leistung, Grenzkonflikte des Kurfürstentums mit fast allen Nachbarn dauerhaft beigelegt zu haben.

Das Kerngeschäft ist Grüfte retten

Die 2011 von Regina Ströbl gegründete »Forschungsstelle Gruft« hat ihren Sitz in Lübeck und agiert seit 2021 als Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Damit machten sich die beiden als Wissenschaftsunternehmer selbstständig: »Unser Kerngeschäft ist die Rettung der Grüfte.« Sie arbeiten, oftmals auch im Rahmen umfassenderer Restaurierungsprojekte, für öffentliche, kirchliche und private Auftraggeber. Die Gelder, mit denen sie ihre Forschung finanzieren, stammen großteils aus den Etats der Denkmalpflege und von Stiftungen. Rund 50 Beisetzungsstätten in ganz Deutschland, von der Häuptlingsgruft der Bartholomäuskirche im ostfriesischen Dornum bis an die polnische Grenze, haben sie mittlerweile untersucht.

Dass hochadlige Familien und Herrscherhäuser ihre Angehörigen gemeinsam beisetzen ließen, vorzugsweise in Kirchen und Klöstern, die sie selbst gestiftet hatten, war im Mittelalter gang und gäbe. Wer freilich die Krypta des Wormser Doms besucht, wird dort Grafen und Herzöge aus dem ostfränkischen Hause der Salier in Einzelgrüften bestattet finden, ebenso wie in Speyer ihre kaiserlichen Nachfahren. Die Särge der Angehörigen in einem Kellergewölbe, einer Seitenkapelle oder umgewidmeten Sakristei einfach abzustellen, zu stapeln, hier und da in Regalkonstruktionen zu lagern, war ein Phänomen der frühen Neuzeit vom ausgehenden 16. bis ins 19. Jahrhundert.

Besonders häufig findet sich dieser Typus der Familiengruft in Dorfkirchen, aber auch in Seitenkapellen größerer Gotteshäuser des protestantisch geprägten Nordens und Nordostens. Das kann mit der ländlichen Sozialstruktur dieser Gegenden in der frühen Neuzeit zu tun haben. In den Dörfern hatte der eingesessene Adel das Sagen, der auch hoheitliche Rechte ausübte und das Patronat über die Ortskirche besaß. Diese als Grablege für die eigene Familie zu nutzen, schien ein berechtigtes Privileg zu sein. Das erklärt freilich noch nicht, warum ausgerechnet in den Jahren nach 1580 in großbürgerlichen und aristokratischen Kreisen das Bedürfnis nach genau dieser Form der Totensorge aufkam.

Grüfte zur Krisenbewältigung

Lag es an der protestantischen Prägung? Hatten zu Reichtum und Macht gelangte bürgerliche Dynastien Modell gestanden, die Medici in Florenz, die Fugger in Augsburg, die sich im 15. und frühen 16. Jahrhundert stattliche Grabkapellen hatten errichten lassen? Andreas Ströbl vermutet einen Zusammenhang mit dem Krisenbewusstsein der frühen Neuzeit. Die Reformation und ihre kriegerischen Folgen, die Bedrohung durch das Osmanische Reich sowie klimabedingte Hungerkrisen hatten Ängste erzeugt und das überkommene Wertegerüst erschüttert. Umso größer sei das Bedürfnis gewesen, sich in privater Religiosität der eigenen Traditionen zu vergewissern: »Die Suche nach verlässlichen Konstanten könnte auch in die Einrichtung von Familiengrabstätten gemündet haben.«

Reinigung | Regina Ströbl reinigt die Särge aus der Gruft der Kirche St. Cyriaci in Dorste. Darin liegen Mitglieder der Familie von Hedemann. Der Sarg mit der Metallzier (oben) stammt aus dem Jahr 1824, das bemalte Exemplar (Mitte) von 1708. Auf den bunten Dekor eines Sargs von 1804 trägt die Forscherin einen schützenden Firnis auf (unten).

Sie seien, formuliert Ströbl, »das große Schlafzimmer« gewesen, wo über Jahrhunderte hinweg Generation nach Generation zur letzten Ruhe gebettet worden sei. Die Familiengrüfte hätten den Nachgeborenen versichert, in eine unversehrte Kontinuität eingebunden zu sein. Sie seien Orte gewesen, »an denen ein ererbter oder erworbener sozialer Status manifestiert und durch Verweise auf die Vorfahren legitimiert wird«.

Die Ströbls sehen Gruftforschung als interdisziplinären Zweig der Kulturgeschichte auf dem Schnittpunkt von Archäologie, Anthropologie, Theologie, Volkskunde, Medizin, Biologie und Kunstgeschichte. Am liebsten wäre ihnen die Gründung eines Instituts, das die verschiedenen Fächer unter einem Dach vereinen könnte. Totensorge sei ein Feld, auf dem man Menschen ferner Vergangenheiten möglicherweise näherkomme als irgendwo sonst: »Es lässt uns mehr in die Seele dieser Menschen blicken. Wir lernen Menschen kennen, die uns zum einen ganz ähnlich, dann wieder ganz anders waren.« Welche Ängste bewegten sie? Welche Hoffnungen auf ein künftiges Jenseits? Wie gingen sie mit Angehörigen um? »Wir versuchen herauszufinden, wie die Leute getickt haben«, sagt Andreas Ströbl.

Gewürznelken als Symbol der Trauer

Die Meinung etwa, Menschen der frühen Neuzeit hätten den Tod von Kleinkindern als alltäglichen Schicksalsschlag gelassener hingenommen als heutzutage, darf aus Sicht der Gruftforschung als relativiert gelten. So finden sich in Kindersärgen immer wieder Armreife und Ketten aus vergoldeten Gewürznelken. Die Gewürznelke, heute in jedem Supermarkt verfügbar, war damals ein seltenes und teures Produkt. Als Grabbeigabe bezeugt sie hohe Wertschätzung und tiefe Trauer.

Untröstlich waren Heinrich Graf zu Stolberg und seine Gattin Margarete, geborene zu Solms, als 1637 Töchterchen Gustavine Maria im Alter von drei Jahren, sieben Monaten und sechs Tagen starb. So detailliert ist das auf dem Epitaph in der Frankfurter Katharinenkirche nachzulesen, wo das Mädchen als besondere Zierde des Hauses Stolberg gepriesen wird, fromm, den Eltern in Liebe zugetan und für sein Alter erstaunlich sprachgewandt.

Nun hatten die Stolbergs ihr Kind schon mehrere Jahre heranwachsen sehen, als es ihnen entrissen wurde. Der kleine Friedrich von Pfalz-Landsberg überlebte 1617 seine Geburt nur um wenige Stunden, doch der Trauer der Eltern tat das keinen Abbruch. Das bezeugt das aufwändig gestaltete Epitaph in der Schlosskirche von Meisenheim am Glan.

Davor und danach | Vor der Reinigung war der Sarg von Hartwig von Hedemann aus dem Jahr 1816 verschmutzt, die Farben waren verblasst (oben). Danach glänzte das Stück wieder in alter Pracht (unten).

Viele Grüfte werden mutwillig zerstört

Wenn die Ströbls von ihrer Arbeit als Rettungswerk sprechen, ist das so dramatisch zu verstehen, wie es klingt. Von 50 untersuchten Grüften hätten sie kaum mehr als drei unzerstört vorgefunden. Der Vandalismus, begünstigt durch Vernachlässigung der verwaisten Bestattungsorte, habe in den Jahrzehnten nach 1950 um sich gegriffen. So hätten zu DDR-Zeiten Professoren der Berliner Charité ihren Studenten empfohlen, sich für den Anatomiekurs mit Anschauungsmaterial aus der Gruft der Parochialkirche zu versorgen.

Die Ströbls waren kürzlich in Golzow im brandenburgischen Havelland. Dort war die Grablege der einstigen Ortsherrschaft, der Familie von Rochow, restauriert worden. Danach wurden »in einem würdigen Gottesdienst die Toten ein letztes Mal ausgesegnet«. Andreas Ströbl hielt gemeinsam mit dem Pastor die Predigt. »Diese Feierlichkeit sind wir den Verstorbenen nach all den Zerstörungen schuldig.«

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