Faszien: Sensibles Geflecht

Lange galten Faszien vor allem als Stützgewebe, das Muskeln, Gefäße und Organe umgibt und ihnen Halt bietet. Dass sie sehr viel mehr können, decken Expertinnen und Experten erst jetzt langsam auf: Das dichte Kollagengeflecht ist massenhaft von Nervenfasern durchzogen. Einer Schätzung des Faszienforschers Robert Schleip von der Technischen Universität München zufolge sind es an die 250 Millionen. Damit wäre es sogar das Gewebe mit den meisten Sinnesnerven. Laut einigen Fachleuten sind die Faszien ein Organ, das Informationen aus dem Körperinneren an das zentrale Nervensystem übermittelt. Womöglich tragen sie auch entscheidend zur Entstehung chronischer Rückenschmerzen bei.
Doch was genau sind eigentlich Faszien? »Allgemein kann man sie sich wie innere Häute vorstellen«, sagt der Mediziner Werner Klingler, Professor an der Universität Ulm und Ärztlicher Direktor der Klinik Sigmaringen. »Das Besondere daran ist, dass sie ein dreidimensionales Netzwerk bilden.« Eine exakte Definition existiert bislang aber nicht. Manche Sachkundige verstehen unter dem Begriff abgrenzbare Strukturen aus straffen, kollagenhaltigen Fasern, die Organe, Knochen und Muskeln umhüllen.
Anatomisch unterscheidet man zwischen oberflächlichen, viszeralen und tiefen Faszien. Erstere liegen direkt unter der Haut und dem Unterhautfett; die viszeralen Faszien umgeben beispielsweise Herz, Lunge oder Bauchorgane. Die tiefen Faszien legen sich um Knochen, Muskeln, Nerven und Blutgefäße. Zu ihnen zählt eine der am häufigsten untersuchten: die zwischen Brustkorb und unterem Rücken aufgespannte Fascia thoracolumbalis (siehe »Die große Rückenfaszie«).
Heutzutage besteht kein Zweifel mehr daran, dass Faszien eine Fülle von freien Nervenendigungen enthalten. Ein beachtlicher Teil davon gehört zum vegetativen Nervensystem, das physiologische Grundfunktionen wie Kreislauf und Atmung steuert (siehe »Kurz erklärt«). Die Nervenendigungen nehmen je nach Körperteil verschiedene Informationen wahr. Jene in den oberflächlichen Faszien sind auf Druck, Temperatur und Bewegung spezialisiert. Tiefe Faszien beteiligen sich an der Propriozeption, das heißt, sie stellen fest, wo sich der Körper im Raum befindet. Außerdem können tiefe sowie oberflächliche Faszien Schmerzen wahrnehmen (Nozizeption). Dabei reagieren einige auf mechanische Druck- oder Dehnungsreize, andere sind empfindlich gegenüber chemischen Veränderungen wie einem niedrigen pH-Wert oder binden Botenstoffe, die bei einer Entzündung freigesetzt werden. Wieder andere Nervenfasern besitzen temperaturempfindliche TRPV1-Rezeptoren, die zudem scharfe Stoffe wie die Chilisubstanz Capsaicin detektieren.
Auf welchem Weg auch immer: Werden die Schmerzrezeptoren aktiviert, senden sie ein elektrisches Signal an das dorsale Hinterhorn im Rückenmark. Von dort aus leitet das nachgeschaltete Neuron das Schmerzsignal bis in den Thalamus weiter. Schließlich gelangt es in die Hirnrinde, wo es bewusst wahrgenommen und interpretiert wird.
Lange galten nur Muskeln und Knochen als Verursacher von Rückenschmerzen. Untersuchungen an Ratten legen jedoch nahe, dass Faszien eine entscheidende Rolle dabei spielen – insbesondere die Thorakolumbalfaszie. Ist der darunter liegende Muskel chronisch entzündet, nimmt die Dichte an Schmerzfasern in der großen Rückenfaszie zu, wie ein Team von der Universität Heidelberg unter der Leitung von Siegfried Mense herausfand. Das wirkt sich auf der nächsthöheren Ebene der Schmerzverarbeitung aus: Nach einer Entzündungsdauer von sechs Tagen stieg der Anteil der Neurone im Rückenmark, die Schmerzsignale aus der Faszie erhalten, von 4 auf 15 Prozent an.
Faszien schmerzen am stärksten
Allerdings lassen sich die Erkenntnisse nur eingeschränkt auf den Menschen übertragen, gibt Andreas Schilder zu bedenken: »Ratten und Mäuse bewegen sich anders als wir.« Der Leiter des Forschungslabors der Orthopädie und Unfallchirurgie der Universitätsmedizin Mannheim sucht deshalb nach Hinweisen auf einen faszialen Ursprung der Rückenschmerzen bei Menschen. »Die gleiche Reizung verursacht in der Faszie einen stärkeren Schmerz als im Muskel«, sagt er. Schilder und seine Kollegen haben 2014 zwölf gesunden Freiwilligen eine Kochsalzlösung nacheinander in die Thorakolumbalfaszie und einen Rückenmuskel gespritzt. Anschließend bewerteten die Versuchspersonen die Schmerzen. Diese waren nach Injektion in die Faszie am stärksten und hielten am längsten an. Außerdem waren sie großräumiger und schwerer zu lokalisieren – womöglich, weil die Nervenendigungen in der Faszie dichter liegen als im Muskel, so Schilder. Dadurch aktiviert ein Reiz mehr Nervenfasern, die dann ein stärkeres Schmerzsignal ans Rückenmark senden. »Vielleicht arbeitet die einzelne Nervenfaser in der Faszie aber auch effektiver als im Muskel«, sagt Schilder. Genau lässt sich diese Beobachtung noch nicht erklären.
Solche stark ausstrahlenden Schmerzen sind ein Merkmal verschiedener chronischer Schmerzerkrankungen. Könnte ein Ursprung von chronischen Schmerzen in den Faszien liegen? Dem gingen Schilder und sein Team 2016 genauer nach: Sie reizten sowohl einen Rückenmuskel als auch die Fascia thoracolumbalis von 16 gesunden Probandinnen und Probanden wiederholt mit gleich starken Stromimpulsen. Die Teilnehmenden empfanden nicht nur bereits bei geringen Stromstärken in der Faszie mehr Schmerzen als im Muskel, vielmehr nahm der Schmerz mit wiederholter Reizung weiter zu. Der Effekt war nach einer Stunde noch vorhanden. Nach Stimulation der Muskulatur blieb er dagegen aus.
Kurz erklärt: Vegetatives Nervensystem
Gehirn und Rückenmark bilden zusammen das zentrale Nervensystem. Das periphere Nervensystem wird in das somatische und das vegetative Nervensystem unterteilt. Letzteres besteht hauptsächlich aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Sie halten den Gleichgewichtszustand des Körpers durch Steuerung verschiedener Faktoren wie Blutdruck und Stoffwechsel aufrecht.
Die Nervenendigungen in verletzten oder dauerhaft entzündeten Faszien senden immer wieder starke Signale an das Rückenmark. »Dadurch wird das zweite Neuron, das den Reiz aufnimmt, irgendwann sensibilisiert. Wenn das passiert, kann der Schmerz chronifizieren«, sagt Schilder. »Dann kann man ohne Schmerzen keine Kisten mehr schleppen oder die Enkel nicht mehr hochheben.«
Genauso könnten sich zwischengeschaltete Nervenzellen im Rückenmark, die Interneurone, bei chronischen Schmerzen verändern, erklärt der Physiologe. Sie nehmen einen normalerweise nicht schmerzhaften Reiz aus der Faszie, etwa eine Beuge- oder Streckbewegung, auf und geben ihn verstärkt an Neurone der Schmerzbahn weiter. »Wenn diese Veränderung im Rückenmark eingetreten ist, wird man sie nicht mehr los«, sagt er. Ein anderer Mechanismus wäre ebenso denkbar: »Faszien haben auch auf Rezeptorebene das Potenzial, zur Chronifizierung von Schmerzen beizutragen.« So ist der TRPV1-Rezeptor bekanntermaßen ein wichtiger Baustein in der Entstehung chronischer Schmerzen.
Stress führt zu Versteifung
Die Verbindung zwischen Faszien und chronischen Rückenschmerzen wirft einige Fragen auf. Sie ist aber keineswegs eine Einbahnstraße, weiß Robert Schleip: »Ob jemand krumm ist oder nicht, sagt wenig darüber aus, ob er im nächsten Jahr Rückenschmerzen bekommt. Der Hauptfaktor ist die Arbeitszufriedenheit.« In Kooperation mit dem Depressionsforscher Johannes Michalak von der Universität Witten/Herdecke hat er untersucht, wie Psyche und Faszien zusammenhängen. In einem ersten Experiment mit 80 Teilnehmenden, von denen sich die Hälfte wegen einer Depression in stationärer Behandlung befand, bestimmten sie die Elastizität der Muskeln und Faszien im Nacken und oberen Rücken. Dabei fanden sie heraus, dass die Patienten im Vergleich zu psychisch Gesunden besonders steife und unelastische Faszien und Muskeln hatten (wobei noch nicht klar ist, inwiefern eine andere Körperhaltung dazu beiträgt).
Wie ist das zu erklären? Mitverantwortlich ist vermutlich der Sympathikus, sagt Schleip. Wird dieser Teil des vegetativen Nervensystems bei Stress aktiviert, stößt er eine Kettenreaktion an, die die Faszien versteifen lässt: Zunächst werden Stresshormone wie Adrenalin ausgeschüttet. Sie binden sich an Rezeptoren auf bestimmten Bindegewebszellen in den Faszien, den Fibroblasten. Die wiederum steigern die Produktion eines an Entzündungsprozessen beteiligten Signalstoffs, des Zytokins Transforming Growth Factor β (TGF-β). »Die Fibroblasten verstecken das Protein in der Grundsubstanz wie in Eichhörnchennestern«, sagt Schleip. Bei Entzündungen, Verletzungen oder Stress im Gewebe wird TGF-β aktiviert und wandelt die Fibroblasten in Myofibroblasten um. Diese »Kontraktionssoldaten«, wie Schleip sie nennt, ziehen sich kraftvoll zusammen.
»Ob jemand krumm ist oder nicht, sagt wenig darüber aus, ob er im nächsten Jahr Rückenschmerzen bekommt«Robert Schleip
Ist der akute Stress vorüber, sinkt der TGF-β-Spiegel wieder und die Myofibroblasten sterben ab. Anders verhält es sich bei anhaltendem Stress oder Entzündungen: Dann wird das Zytokin auf Grund des dauerhaft aktiven Sympathikus immer weiter produziert und sorgt somit auch ständig für neue Myofibroblasten. In der Folge kann sich das Gewebe verhärten. Ein steifes Gewebe behindert die Durchblutung, wodurch Abbauprodukte nur ungenügend abtransportiert werden und es dort zu einer Übersäuerung kommt, erklärt Schleip. Das verursacht Schmerzen. Dazu kommt, dass sich durch den stagnierenden Blut- und Lymphfluss in der Region Wasser ansammeln kann. Die dabei entstehenden Ödeme bereiten nicht nur mechanische Schmerzen: »Sie führen wiederum zu einem proentzündlichen und sauren Milieu«, so Schleip. »Dann hat man einen Teufelskreis.«
Diese komplexen Vorgänge könnten die Ergebnisse aus einer weiteren Untersuchung von Schleip und seinen Kollegen erklären: Sie leiteten 38 von 69 Teilnehmende mit Depressionen dazu an, ihr Bindegewebe mit einer Faszienrolle zu lockern, die restlichen Personen durchliefen ein Placebotraining. Währenddessen hörten die Probanden jeweils zehn positiv und negativ assoziierte Wörter wie »hässlich«, »enthusiastisch« oder »hoffnungsvoll«. Nach der Behandlung wurden sie gebeten, alle Wörter zu wiederholen, an die sie sich erinnerten. Diejenigen, die eine Faszienbehandlung hinter sich hatten, nannten mehr positive Begriffe und weniger negative als die Kontrollgruppe. Möglicherweise, schreiben die Autoren, weil elastische und weniger steife Faszien ein körperliches Signal für reduzierten Stress sind. Das wiederum könnte die Emotionen und die Gedächtnisverarbeitung positiv beeinflussen.
Obwohl das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Faszien und Rückenschmerzen zunimmt, bleibt es oft schwierig, sie als genaue Ursache auszumachen. Die Schmerzen gelten dann als unspezifisch. Entsprechend unspezifisch falle auch die Behandlung aus, sagt Andreas Schilder. Sein Ansatz: Wenn man weiß, wo die Ursache liegt, kann man eine zielgenaue Therapie einleiten. Großes Potenzial sieht er in den Schmerzqualitäten, also darin, wie sich die Pein anfühlt.
»Bewegung ist erwünscht«Werner Klingler
»Schmerzen in den Muskeln fühlen sich dumpf an, jene in der Faszie eher stechend, ähnlich wie in der Haut«, sagt Schilder. »Wenn man von der Qualität der Schmerzen auf ihren Ursprung schließen kann, können wir leichter eine spezifische Therapie angehen«, überlegt er. Um das auszutesten, will er in künftigen Projekten auch Erkrankte untersuchen.
Bis dahin gilt, was Orthopäden und Physiotherapeuten ihren Patienten täglich predigen: »Gerade bei chronischen Schmerzsyndromen ist es entscheidend, aktiv und in Bewegung zu bleiben«, so Werner Klingler. »Bewegung ist erwünscht.« Dazu zählen beispielsweise Spaziergänge, Physiotherapie oder Ausdauersport. Genauso wichtig sei es, Alltagstätigkeiten oder einer Arbeit weiterhin nachzugehen, gegebenenfalls kombiniert mit Schmerzmitteln. »Viele Patienten haben Bewegungsangst. Sie denken, etwas ist kaputt«, sagt Klingler. Diese Bedenken können etwa mit Hilfe einer Ultraschalluntersuchung ausgeräumt werden. Zusätzlich kann Psychotherapie den Betroffenen dabei helfen, mit ihrer Situation besser umzugehen.
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