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Physiologie: Feintuning für die Nachtschicht

Im Lauf der Evolution zwingen "die Umstände" "das Leben" manchmal zu kreativen Umbauten an Einrichtungen, die zuvor noch gut genug funktioniert hatten. So gingen nachtlebende Säugetiere sogar ans alte Zelleingemachte, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Nachtaktive Katze
Vor 100 Millionen Jahren war die Dämmerung der beste Freund des Menschenvorfahren. Unsere damals noch recht spitzhörnchenartigen Ahnen waren nachts schließlich deutlich sicherer vor den tagsüber weltweit dominierenden Fleisch fressenden Riesenechsen. Allerdings war auch Otto Normal-Ursäuger anfangs nicht optimal darauf ausgelegt gewesen, ausgerechnet in der Nachtnische zu glänzen – schon deshalb, weil in der Säugersensorik ja die im Dunkeln unterversorgten Lichtsinnesorgane eine sehr große Rolle spielen. Schnell begannen Evolutions- und Selektionsprozesse aber am Prinzip Auge zu feilen und machten es schrittweise leistungsfähiger und nachttauglich.

Tag- und nachtaktive Säuger | Bei dämmerungs- bis nachtaktiven Säugetieren (zum Beispiel der Katze) haben die Stäbchen-Fotorezeptoren des Auges eine invertierte Zellkern-Architektur, während die Stäbchen der tagaktiven Säuger (wie die des Javaneraffen) eine konventionelle Kernarchitektur aufweisen. Die invertierte Architektur verbessert das Nachtsichtvermögen.
Theoretisch kein Problem: Warum in die Netzhaut des Auges, die Retina, nicht einfach ein paar mehr Stäbchen einbauen, um die nachts so seltenen Lichtquanten optimal einzufangen? Dem setzt allerdings die Konstruktion des Auges enge Grenzen: Beim Menschen wie bei allen anderen Wirbeltieren muss das Licht erst die ganze Retina durchdringen, um auf die lichtempfindlichen äußeren Teile der Fotorezeptoren zu stoßen. Und damit, erklärt Leo Peichl vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung, stecken die nachtaktiven Tiere vor einem Dilemma: "Sie brauchen besonders viele Stäbchen zur Detektion des schwachen Lichts – aber dadurch wird ihre Retina dicker und verliert mehr Licht durch Streuung, bevor dieses die Außensegmente der Fotorezeptoren erreicht."

Zur Lösung dieses Problems griff die Evolution ganz tief in die physikalische Trickkiste, wie ein Forscherteam um Peichel nun herausgefunden hat: Sie veränderte die räumliche Anordnung des "Chromatins", jenes dicht gepackten Erbguts im Zellkern, das den Strahlen besonders im Weg ist. Dieses Umarrangement gelang so geschickt, dass fortan Licht sogar gebündelt auf die Fotorezeptoren einstrahlte.

Chromatin besteht aus Proteinen und DNA: Der lange Erbgut-Faden einer Säugerzelle ist, damit er in den Zellkern passt, um so genannte Histon-Proteine gewickelt, die perlschnurartig aneinandergereiht sind. Der hoch komprimierte DNA-Protein-Komplex muss dennoch für Enzyme zugänglich bleiben, die die Erbgut-Informationen lesen und abschreiben: DNA-Abschnitte, deren genetische Information gerade benötigt wird, werden daher etwas lockerer gepackt.

Dieses aufgelockertere "Euchromatin" befindet sich seit den Urzeiten der Zellevolution typischerweise in inneren Bereichen des Zellkerns; ein erheblicher Teil des Heterochromatins mit gerade nicht benötigten DNA-Abschnitten liegt dagegen an der Peripherie des Zellkerns. Diese Art der Organisation hat sich im Lauf der letzten 500 Millionen Jahre bei fast ausnahmslos allen höheren Organismen etabliert: Die Anordnung sei "so universell, dass man von der 'konventionellen Architektur' des Zellkerns sprechen kann", meint Boris Joffe von der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Nicht jedoch in den Stäbchenkernen von nachtsichtigen Säugetieren, wie die Forscher aus Deutschland herausfanden: Das dicht gepackte Heterochromatin befindet sich hier im Inneren des Zellkerns, während das weniger dicht gepackte Euchromatin mit den aktiven DNA-Bereichen an der Peripherie liegt.

Damit kommt eine physikalische Besonderheit des Heterochromatins zum Tragen: Es bricht das Licht deutlich stärker als Euchromatin. Dieser Effekt ist vernachlässigbar, wenn das Heterochromatin in der Peripherie des Zellkerns liegt. Ballt es sich dagegen im Inneren des Zellkerns, wirkt es wie eine winzige Sammellinse. Weil die Stäbchenkerne in Säulen angeordnet sind, kommen im Auge der Nachtsäuger mehrere dieser Mikrolinsen übereinander zu liegen. Tatsächlich zeigen Computersimulationen, dass das an sich wenig intensive Licht fast ohne Streuverluste durch die Retina geleitet wird: Es trifft gebündelt auf die lichtempfindlichen Außensegmente der Fotorezeptoren.

Stäbchenkern-Architektur | Schema der invertierten (oben links) und der konventionellen Stäbchenkern-Architektur (unten links). Das kompaktere Heterochromatin mit höherem Brechungsindex ist rot und blau, das weniger kompakte Euchromatin grün und das Kernkörperchen (Nucleolus) gelb dargestellt. Rechts sind Computersimulationen des jeweiligen Lichtwegs durch die Retina mit der säulenartigen Anordnung der Stäbchenkerne dargestellt. Die invertierten Kerne wirken wie Mikrolinsen, die das Licht fokussiert zu den darunter liegenden lichtempfindlichen Teilen der Stäbchen leiten (oben rechts). Konventionelle Kerne streuen das Licht dagegen (unten rechts).
Die besondere Anordnung des genetischen Materials muss schon vor mehr als hundert Millionen Jahren erstmals aufgetreten sein, als sich die Säuger an das Leben in der Dunkelheit anpassten. Während die nachtaktiven Nachfahren die invertierte Architektur der Stäbchenkerne beibehalten haben, kehrten später tagaktiv gewordene Nachfahren – auch wir Menschen – zur konventionellen Organisation zurück. "Das bestätigt die Überlegenheit der konventionellen Kernarchitektur", erklärt Joffe – und fügt hinzu, dass die invertierte Zellkernorganisation der nachtlebenden Säuger demnach offensichtlich doch auch ein paar unbekannte Nachteile mit sich bringen muss. Vielleicht, so spekulieren die Forscher, können verschiedene Genorte in der ungewöhnlichen Anordnung etwas schlechter mit Enzymen wechselwirken, die das Erbgut ablesen. Offenbar ein kleiner Preis dafür, die Nacht überleben zu dürfen. (jo/LMU/MPG)

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  • Quellen
Solovei, I. et al.: Nuclear architecture of rod photoreceptor cells adapts to vision in mammalian evolution. In: Cell 137, S. 356–268, 2009.

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