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Plastikmüll: Fertig zum Entern!

Plastikmüll im Meer war lange vor allem wegen seiner Risiken für Seevögel und Schildkröten bekannt. Für viele Organismen aber bietet er auch neue Lebensräume und Reisemöglichkeiten - mit schwer abschätzbaren ökologischen Folgen.

Ein Lebensraum kaum größer als ein Stecknadelkopf, und doch lockt er massenweise Bewohner an. Die unzähligen kleinen Plastikteilchen, die als Zivilisationsmüll in den Weltmeeren treiben, scheinen ein echtes Dorado für Bakterien zu sein. Erik Zettler von der Sea Education Association im US-amerikanischen Woods Hole und seine Kollegen staunten jedenfalls nicht schlecht, als sie solche Partikel mit feinen Netzen aus dem Nordatlantik fischten und unter die Lupe nahmen [1]. Per Elektronenmikroskop und Erbgutanalyse fanden sie darauf mindestens tausend verschiedene Typen von Bakterienzellen – darunter zahlreiche Arten, die sie erst noch identifizieren müssen. Offenbar hat eine vielfältige Crew von Mikroorganismen die winzigen Kunststoffflöße geentert und schippert nun damit über den Ozean. Und diese exzentrische Besatzung unterscheidet sich deutlich von den Lebensgemeinschaften des ringsum schwappenden Meerwassers.

Überall Plastik

Diese Erkenntnisse liefern ein paar neue Mosaiksteine für das Bild, das sich Forscher von den Folgen des Kunststoffbooms im Meer machen. Von den weltweit rund 245 Millionen Tonnen Plastik, die derzeit pro Jahr produziert werden, sollen schätzungsweise mehr als zehn Prozent in den Ozeanen landen. Der Müll wird von Schiffsbesatzungen über Bord geworfen und an den Küsten achtlos im Gelände verteilt, er kommt mit Flüssen aus dem Inland und mit dem Wind von Mülldeponien. "Alles, was ungesichert irgendwo herumliegt, kann früher oder später im Meer auftauchen", sagt Lars Gutow vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Mit der Zeit wird das Material zwar oft zu winzigen Partikeln zerrieben, es verschwindet aber nicht. Und mit den Meeresströmungen reist es um die Welt. Plastikfreie Ozeanregionen dürfte es kaum noch geben.

Lars Gutow und seine Kollegen haben zum Beispiel eine Bestandsaufnahme in der Nordsee gemacht. Mit dem AWI-Forschungsschiff Heincke sind sie verschiedene Strecken in der Deutschen Bucht abgefahren, haben im Wasser treibende Objekte wie Tang, Holz und eben Müll gezählt und die Ergebnisse dann hochgerechnet [2]. In der Kategorie Abfall kamen sie dabei stellenweise auf mehr als 300 Teile pro Quadratkilometer. Und der größte Teil dieses Mülls bestand aus Plastik. "Ähnliche Mengen treiben auch in anderen Küstenregionen", sagt der Forscher.

Plastikmüll in allen Tiefen | Auch in arktischen Gewässern fanden Forscher des Alfred-Wegener-Instituts überraschend viel Plastikmüll – wie diese Tüte. Oft wird der Abfall jedoch kleingemahlen und driftet in Form winziger Partikel durch die Meere.

Noch viel mehr Plastik hat sich vielerorts am Meeresgrund angesammelt. Als Mitarbeiter des französischen Forschungsinstituts IFREMER in den 1990er Jahre verschiedene europäische Küstengebiete untersuchten, fanden sie vor allem westlich von Dänemark, in der Keltischen See zwischen Irland und Großbritannien und entlang der Südostküste Frankreichs große Müllansammlungen. Stellenweise lagen mehr als 100 000 Objekte auf einer Fläche von einem Quadratkilometer. Eine andere Studie vor Kalifornien kam auf bis zu 76 000 Stücke pro Quadratkilometer.

Bis ans Ende der Welt

Nun mag es nicht verwundern, dass viel befahrene Ozeane mit dicht besiedelten Küsten ein Kunststoffproblem haben. Doch der Abfall erreicht mittlerweile auch die entlegensten Regionen. "Lange hat man angenommen, dass die Polarmeere weitgehend verschont geblieben sind", sagt Lars Gutow. Schließlich gibt es in den hohen Breiten nicht nur deutlich weniger Städte und Schiffsverkehr als in den gemäßigten Zonen. Das dortige Meereis wirkt auch wie eine Art Schutzschild, der weggeworfene Objekte vom Wasser fernhält. Doch das alles scheint nicht mehr zu helfen.

So sind die AWI-Mitarbeiter Melanie Bergmann und Michael Klages selbst in der Tiefsee vor Spitzbergen auf reichlich Abfall gestoßen. In der Framstraße westlich der Insel betreibt das Institut ein Tiefseeobservatorium namens "Hausgarten". Mit Hilfe eines Kamerasystems, das von Bord des Forschungseisbrechers Polarstern bis in 2500 Meter Tiefe hinuntergelassen wurde, haben die Forscher dort in regelmäßigen Abständen den Meeresgrund fotografiert [3]. Die so entstandenen Bilder durchforsteten Melanie Bergmann und Michael Klages dann nach Spuren von Müll – mit unerfreulichen Ergebnissen. Demnach ist die Abfalldichte im Hausgarten zwischen 2002 und 2011 von gut 3600 auf mehr als 7700 Objekte pro Quadratkilometer Meeresgrund angestiegen. Fast 60 Prozent der entdeckten Teile bestanden aus Plastik.

Das Forschungsgebiet "Hausgarten" | Der Hausgarten ist das Tiefsee-Observatorium des Alfred-Wegener-Institutes in der östlichen Framstraße. Es besteht aus 16 Stationen, die Wassertiefen von 1000 bis 5500 Meter umfassen. Seit dem Jahr 1999 werden an diesen Stationen alljährlich in den Sommermonaten Probennahmen durchgeführt.

Über die Ursachen des Müllbooms vor Spitzbergen können die Forscher bisher nur spekulieren. Möglicherweise haben der Rückgang des Meereises und die gleichzeitige Zunahme des privaten Schiffsverkehrs in der Region eine Rolle gespielt. Jedenfalls steht fest, dass der lange Arm des Plastikzeitalters inzwischen nicht nur bis in die Polarregionen, sondern auch bis in die Tiefsee reicht. So haben Forscher in einem Tiefseegraben vor Lissabon ähnliche Müllmengen entdeckt wie im Spitzbergener Hausgarten. Und Bilder von zahlreichen Stellen des Mittelmeeres zeigen einen Meeresgrund voller Plastikflaschen [4].

Wie aber kommt der Abfall eigentlich dort hinunter? "Plastik schwimmt zwar zunächst an der Wasseroberfläche", erläutert Lars Gutow. "Doch mit der Zeit siedeln sich alle mögliche Organismen darauf an". Dadurch wird das Kunststofffloß irgendwann so schwer, dass es in die Tiefe sinkt. Bis es soweit ist, hat es allerdings oft schon eine weite Reise hinter sich. Und in deren Verlauf hat es womöglich einen Teil seiner Passagiere in neue Lebensräume verfrachtet.

Willkommen an Bord!

Die Idee, mit schwimmenden Objekten über das Meer zu reisen, ist in der Evolutionsgeschichte keineswegs neu. Baumstämme, große Algen oder bei Vulkanausbrüchen ausgeschleuderte Bimssteine treiben schließlich seit Jahrmillionen über die Ozeane. Meeresbewohner, deren Larven sich von den Strömungen verfrachten lassen, können zwar auch ohne solche Hilfsmittel weite Strecken zurücklegen. Für alle anderen aber ist eine auch "Rafting" genannte Floßreise die perfekte Gelegenheit, um neue Lebensräume zu erobern.

Die Chilenische Auster Ostrea chilensis zum Beispiel macht nur ein sehr kurzes Larvenstadium durch. Trotzdem lebt die Art nicht nur in chilenischen Gewässern, sondern auch vor Neuseeland. "Ich kann mir keinen anderen Mechanismus vorstellen, wie sie dorthin gekommen sein sollte", sagt Lars Gutow. Die Schifffahrt kommt als Verbreitungsweg kaum infrage. Denn das Weichtier hatte sich längst etabliert, bevor Schiffe zwischen Südamerika und Neuseeland verkehrten.

"Niemand kann vorhersagen, welche Arten künftig wo auftauchen und welche Probleme sie machen werden."Lars Gutow

Doch auch einige Landtiere sind offenbar durchaus erfolgreiche Rafter. So haben Fischer 1995 in der Karibik ein Dutzend Grüne Leguane beobachtet, die ein Floß aus entwurzelten Bäumen verließen und auf der Insel Anguilla an Land gingen. Dort waren die Reptilien bis dahin nicht vorgekommen.

Warum sollten die tierischen Reisenden also nicht auch schwimmende Objekte nutzen, die durch die Aktivitäten des Menschen ins Meer geraten sind? Eines der spektakulärsten dieser künstlichen Flöße war ein zwanzig Meter langer und sechs Meter breiter Schwimmponton, den der verheerende Tsunami im März 2011 an der Küste Japans losgerissen hatte. Am 5. Juni 2012 trieb die Konstruktion nach 8000 Kilometern Pazifikreise am Agate Beach im US-Bundesstaat Oregon an – beladen mit mehr als zwei Tonnen Schnecken und Muscheln, Seeigeln und Seesternen, Krabben und anderen Bewohnern der japanischen Küstengewässer.

Die Revolution des Raftings

So viele Passagiere kann eine Einkaufstüte oder Plastikflasche natürlich nicht befördern. Trotzdem spielen diese eher unscheinbaren modernen Flöße eine sehr große ökologische Rolle. "Das Auftreten von Plastikmüll hat das Rafting in den Meeren revolutioniert", sagt Lars Gutow. Denn die Anhänger dieses Lebensstils finden heute so viele Transportgelegenheiten wie nie zuvor. Und zwar auch dort, wo treibende Objekte früher selten waren. Die großen Algen, die zu den wichtigsten natürlichen Passagierfähren in den Weltmeeren gehören, wachsen zum Beispiel vor allem in den mittleren und höheren Breiten. "Der Plastikmüll hat nun aber auch in den Tropen Möglichkeiten für den großräumigen Transport von Organismen geschaffen", sagt Lars Gutow. Zudem ist der Kunststoff auch noch deutlich beständiger als die meisten natürlichen Flöße und kann daher besonders weite Strecken zurücklegen.

Passagiere auf einem "Geisternetz" | Verlorengegangene Netze treiben oft jahrelang durch den Ozean – mit fatalen Folgen für große Meerestiere. Kleine Organismen können sich mit Hilfe des Treibguts jedoch weit fortbewegen.

Welche Organismen aber können solche neuen Chancen nutzen? "Ein erfolgreicher Rafter muss sich vor allem gut festhalten und auf dem Floß genügend Nahrung gewinnen können", erklärt der Bremerhavener Forscher. Letzteres ist auf einem Stück Plastik allerdings gar nicht so einfach. Während treibende Algen oft vor Schnecken, kleinen Krebsen und anderen Vegetariern wimmeln, die ihr Floß gleichzeitig als Reiseproviant nutzen, ist auf dem Kunststoff ein anderer Lebensstil gefragt. Dort finden sich eher fest am Untergrund verankerte Tiere wie Polypen oder Seepocken, die ihre Nahrung aus dem Wasser filtern.

Eine Assel namens Idotea metallica hat sich sogar komplett dem Floßleben verschrieben und kommt offenbar nirgendwo anders vor. Während sich verwandte Arten am Meeresgrund größtenteils von Pflanzenkost ernähren, holt sie sich vor allem Fleischmahlzeiten aus dem Wasser. Und weil das nicht immer klappt, ist sie deutlich genügsamer als ihre vegetarischen Kolleginnen. Seit den 1990er Jahren kommt diese wärmeliebende Art zunehmend auch in der Nordsee vor. "Wahrscheinlich wurde sie schon immer ab und zu dorthin getrieben", meint Lars Gutow. Die steigenden Wassertemperaturen der letzten Jahre aber haben ihr offenbar eine dauerhafte Ansiedlung ermöglicht.

"Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass ihr Auftauchen negative ökologische Folgen hätte", sagt Lars Gutow. In Konkurrenzversuchen haben er und seine Kollegen nachgewiesen, dass die neue Assel wohl keine angestammten Arten verdrängen wird. Das muss aber keineswegs für alle Passagiere gelten, die auf den Plastikflotten der Weltmeere unterwegs sind. "Niemand kann vorhersagen, welche Arten künftig wo auftauchen und welche Probleme sie machen werden", betont der AWI-Experte. Es ist jedenfalls durchaus möglich, dass die Kunststoffflöße auch für den Menschen unangenehme Organismen verbreiten.

Gefährlicher Müll

So haben Wissenschaftler am Plastiktreibgut schon giftige Einzeller aus der Gruppe der Dinoflagellaten entdeckt. Deren Gifte können sich beispielsweise in Muscheln anreichern und für Meeresfrüchtefans gefährlich sein. Einer der Kunststoffpartikel, die Erik Zettler und seine Kollegen untersucht haben, war zudem voller Bakterien der Gattung Vibrio, zu der die Erreger von Cholera und anderen Durchfallerkrankungen gehören.

Die Liste der Probleme, die mit dem Plastikmüll im Meer verbunden sind, ist damit wieder ein Stück länger geworden. Dabei war sie auch ohne riskante Floßbesatzungen schon umfangreich genug. So ist seit langem bekannt, dass Schildkröten und Seevögel oft irrtümlich Plastiktüten und andere Kunststoffobjekte verschlingen. Mit müllgefülltem Magen aber fressen sie zu wenig richtige Nahrung und verhungern schlimmstenfalls. Scharfkantige Gegenstände können zudem ihre Verdauungsorgane verletzen und die im Plastik enthaltenen Chemikalien entfalten womöglich nach dem Verschlucken hormonartige Wirkungen und stören damit die Fortpflanzung der Tiere.

Ein schwimmendes Miniatur-Riff | Wie diese Rasterelektronenmikroskopaufnahme zeigt, ist das aus dem Meer gefischte Stück Plastik mit Mikroorganismen übersät. Dazu zählt beispielsweise ein Wimperntierchen mit symbiontischen Bakterien. Die Lebewesen greifen die Oberfläche des Plastiks an und könnten so zu dessen Auflösung beitragen.

Ein großes Problem sind auch losgerissene Fischernetze aus Kunststoff, die jahrelang als so genannte Geisternetze durch die Meere treiben und zahlreiche Vögel, Fische und Meeressäuger das Leben kosten. Plastikmüll am Meeresgrund erstickt das Leben darunter und beschädigt zerbrechliche Organismen wie die filigranen Seefedern. Und dann scheinen Plastikpartikel auch noch als Sammelstellen und Transportvehikel für verschiedene langlebige Schadstoffe zu wirken – mit bisher ungeklärten Folgen.

Bergleute und Müllsammler

"Das alles spricht dafür, dass wir ein echtes Problem haben", sagt Lars Gutow. Was also tun? Erik Zettler und seine Kollegen sind bei ihrer Studie auf einen kleinen Hoffnungsschimmer gestoßen. Denn in den untersuchten Partikeln fanden sie mikroskopisch kleine Risse und Gruben, die nach Ansicht der Forscher durch die Aktivitäten bestimmter Bakterien entstehen. "Wir waren sehr aufgeregt, als wir diese winzigen Bergleute zum ersten Mal gesehen haben", sagt Erik Zettler. "Vor allem, weil sie auf vielen Stückchen der unterschiedlichsten Plastiktypen auftauchten".

Das könnte nämlich bedeuten, dass die Mikroorganismen diese für ihre Langlebigkeit bekannten Materialien doch zersetzen. Solche Prozesse waren bisher nur an Land, nicht aber aus dem Meer bekannt. Die amerikanischen Forscher versuchen derzeit, die winzigen Müllbeseitiger zu kultivieren, um mehr über ihre Talente herauszufinden. Denn noch kann niemand sagen, wie schnell und effektiv diese Bakterien arbeiten.

Allein scheinen sie das Problem jedenfalls nicht lösen zu können. Und auch sonst gibt es bisher keine effiziente Methode, den Plastikmüll wieder aus dem Meer heraus zu holen. "Die Müllsammelaktionen, die Behörden und Naturschützer rund um die Welt organisieren, sind zwar eine gute Sache", sagt Lars Gutow. Doch letztlich sei das ein Tropfen auf den heißen Stein. Er sieht derzeit nur eine Möglichkeit, das Problem anzugehen: Das Plastik darf erst gar nicht im Meer landen.

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  • Quellen
[1] Zettler, E. et al.: Life in the "Plastisphere": Microbial Communities on Plastic Marine Debris. In: Environmental Science & Technology 47, S. 7137–7146, 2013
[2] Thiel, M. et al.: Spatio-temporal distribution of floating objects in the German Bight (North Sea). In: Journal of Sea Research 65, S. 368–379, 2011
[3] Bergmann, M., Klages, M.: Increase of litter at the Arctic deep-sea observatory Hausgarten. In: Marine Pollution Bulletin 64, S. 2734–2741, 2012
[4] Galgani, F. et al.: Litter on the Seafloor along European Coasts. In: Marine Pollution Bulletin 40, S. 516–527, 2000

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