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Ameisen-Gummi: Feuerameisen bilden lebendes, exotisches Material

Ein bisschen wie Gummi, nur viel seltsamer: Feuerameisen bilden mit ihren Körpern eine Art vernetztes Material, dessen ungewöhnliche Eigenschaften in der Technik unerreicht sind.
Eine Kolonie Feuerameisen auf Wasser.
Feuerameisen bilden auf Wasser Flöße, die aus zwei Schichten Ameisen bestehen. Wenn man an ihnen zieht, zeigen sie ungewöhnliche Materialeigenschaften.

Die Rote Feuerameise (Solenopsis invicta) hat eine bemerkenswerte Überlebensstrategie: Wenn ihr Nest überschwemmt wird, bilden die Tiere aus ihren Körpern Flöße, die an der Wasseroberfläche schwimmen. Diese Flöße haben, wie sich jetzt herausstellt, exotische Eigenschaften, die mit künstlich hergestellten, technischen Materialien nur schwer zu erreichen sind. Wie eine Arbeitsgruppe um Chung-Hao Chen von der Tsing-Hua-Nationaluniversität in Taiwan berichtet, kann man die Ameisenflöße in einer Richtung auseinanderziehen, ohne dass sie schmaler oder dünner werden. In der jetzt in der Fachzeitschrift »Physical Review E« veröffentlichten Studie überprüfte das Team durch einen Vergleich mit anderen Ameisen die bisher gängige Theorie, wie sich diese Flöße bilden, und untersuchte deren mechanische Eigenschaften. Daraus ergeben sich Hinweise auf völlig neue Prinzipien für exotische, aktive Werkstoffe.

Feuerameisen sind bekannt für die eigentümlichen Ansammlungen, die sie unter bestimmten Bedingungen bilden. Dabei krabbeln sie nicht bloß zufällig übereinander, sondern verhaken sich gezielt und bilden so eine vernetzte Struktur, die sich wie ein einheitliches Material verhält – etwa wie eine Art Gummi, das sehr schmerzhaft zubeißen kann. Bemerkenswert ist: Bisher weiß noch niemand, wie die Ameisen sich zusammenfinden. Man ging davon aus, dass der Cheerio-Effekt eine Rolle spielt: Der ist nach Frühstücksflocken benannt, die sich an der Oberfläche von Milch durch die Oberflächenspannung verklumpen.

Die Arbeitsgruppe zeigte jedoch, dass das nicht stimmt: Eine andere Ameisenart, die das Team ins Wasser warf, verklumpte nicht. Der physikalische Effekt reicht also nicht aus, damit sich die Ameisen zusammenfinden. Die Fachleute um Chen vermuten, dass Pheromone eine Rolle spielen. Bei Versuchen auf einem teflonbeschichteten Rütteltisch zeigte sich, wie die Ameisen sich auch dort zusammenballen.

Das Ergebnis ist eine Art Biomaterial, das vollständig aus den verketteten Körpern der Ameisen besteht – und das man mit den gleichen Methoden untersuchen kann wie Gummi oder Holz. Nur sollte man dies nicht ohne geeignete Schutzkleidung tun. Weil aber die Ameisen individuell auf Kräfte und Spannungen reagieren können, hat der Ameisenwerkstoff eine Reihe von ungewöhnlichen Eigenschaften, die man sonst nur bei sehr exotischen Stoffen findet. Schon 2016 stellte ein Team um Michael Tennenbaum vom Georgia Institute of Technology in Atlanta bei Versuchen fest, dass die Ameisenklumpen gleichzeitig elastisch wie Gummi und dehnbar wie Kaugummi sind – und umso gummiartiger werden, je mehr Ameisen sie enthalten.

Die Flöße, die die Ameisen in Wasser bilden, sind im Prinzip Membranen aus zwei Schichten von Ameisen. Das Team um Chen ließ die Tiere Flöße zwischen zwei schwimmenden Holzstäben bauen, von denen einer an Sensoren angeschlossen war, um die Kräfte durch die Ameisenmembran zu messen. Dabei zeigte sich, dass das Floß zwar reißen kann, die Ameisen Risse im Floß jedoch gezielt flicken – so dass die Membran selbstheilend ist. Die bemerkenswerteste Eigenschaft war jedoch, dass das Floß weder dünner noch schmaler wurde, wenn die Arbeitsgruppe es dehnte. Die Ameisen sortierten sich einfach um. In Materialeigenschaften gesprochen, hat das Floß eine Poissonzahl von Null: Eine Spannung in einer Raumrichtung verursacht keinerlei Zug in den anderen Raumrichtungen. Nur wenige exotische Werkstoffe können das.

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