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Entwicklungsbiologie: Fischiges

Die Evolution geht manchmal verschlungene Wege: Aus einem alten Kiefergelenk entwickelten sich Gehörknöchelchen, ein Luftsack wurde mal zur Schwimmblase, mal zur Lunge, und auch unsere Nebenschilddrüsen haben eine fischige Vergangenheit.
Menschlicher Embryo
Zu den am meisten missverstandenen Hypothesen der Biologie gehört wohl das "biogenetische Grundgesetz" von Ernst Haeckel (1834-1919). Der berühmte Zoologe und glühender Anhänger seines Zeitgenossen Charles Darwin war fasziniert von den großen Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Wirbeltierembryonen: Egal ob Hai, Huhn, Schaf oder Mensch – sie alle durchlaufen als Embryonen bestimmte Entwicklungsstadien, die sich äußerlich kaum voneinander unterscheiden. So tauchen beim menschlichen Embryo Strukturen auf, die verblüffend an Fischkiemen erinnern, um dann später wieder zu verschwinden. Haeckel fasste 1866 seine Beobachtungen zu einem Gesetz zusammen, nachdem "die Ontogenese weiter nichts ist als eine kurze Recapitulation der Phylogenie". Anders ausgedrückt: Die individuelle Embryonalentwicklung spiegelt die Stammesgeschichte der Art wieder.

Haeckel meinte damit jedoch nicht – wie häufig kolportiert –, dass ein menschlicher Embryo zunächst als Fisch in der Plazenta herum schwimmt, bevor er sich zu einem Menschen wandelt. Vielmehr scheinen bei der Embryonalentwicklung alte Programme – von Genen wusste Haeckel noch nichts – abgespult zu werden, die im Laufe der Stammesgeschichte entstanden sind. Und da die Natur bei Neuentwicklungen auf bereits bestehende Strukturen zurückgreift, fanden in der Entwicklungsgeschichte der Arten vielfältige, zum Teil skurril anmutende Umbauarbeiten statt, die ähnlich, aber natürlich stark verkürzt auch beim Embryo ablaufen. So entstand bei den Vorfahren der Fische der Kiefer aus Skelettelementen des Kiemenapparats, und ein Teil dieses Kiefergelenks verwandelte sich später bei den Säugetieren zu Gehörknöchelchen.

Daher verwundert es nicht, dass nach dieser "biogenetischen Grundregel" – wie sie inzwischen etwas vorsichtiger genannt wird – bei vielen Organen die Entstehung aus der Zeit nachgewiesen werden kann, als sich unsere Vorfahren noch im Wasser tummelten. Jetzt versuchten zwei Forschern – 138 Jahre nach Haeckel – erneut einen solchen Nachweis.

Masataka Okabe und Anthony Graham vom King's College London interessierten sich für ein Organ, dem eine fischige Vergangenheit zunächst nicht anzusehen ist: die Nebenschilddrüsen. Sie sitzen zu viert in die Oberfläche der Schilddrüse eingebettet und regulieren den Kalzium-Spiegel im Blut. Sobald die Konzentration dieses für viele physiologische Prozesse wichtigen Ions zu stark abfällt, schütten die Nebenschilddrüsen Parathyrin oder Parathormon (PTH) aus, das wiederum auf Knochensystem und Nieren einwirkt, Kalzium ins Blut abzugeben.

Fische, die natürlich auch ihren Kalzium-Spiegel regulieren müssen, haben es da wesentlich einfacher. Da das Ion im Meerwasser gelöst ist, können sie es je nach Bedarf einfach über ihre Kiemen aufnehmen oder abgeben. Von daher galt es als ausgemacht, dass die Nebenschilddrüse erst "erfunden" wurde, als die ersten Wirbeltiere das Festland betraten und ein internes Kalzium-Regulationsorgan benötigten.

Okabe und Graham haben sich die Entwicklung dieser Regulationsstelle bei verschiedenen Wirbeltierembryonen näher angeschaut. Bei Landwirbeltieren entsteht sie aus einer Schlundtasche, wobei ein Gen namens Gcm-2 diese Entwicklung kontrolliert. Wie die beiden Forscher nun zeigen konnten, arbeitet dieses Gen nicht nur bei Hühnern und Mäusen, sondern zeigt sich auch bei Fischen, wie dem Katzenhai (Scyliorhinus canicula) und dem Zebrafisch (Danio rerio), äußerst rege. Hier steuert es die Entwicklung – der Kiemen.

Außerdem entdeckten die Forscher bei den Fischen verschiedene Gene für ein PTH-ähnliches Hormon, das in den Kiemen produziert wird. Sie vermuten daher, dass aus den Atmungsorganen, die bei den Fischen den Kalzium-Gehalt regulieren, im Laufe der Evolution der Landwirbeltiere die Nebenschilddrüsen entstanden sind, um hier die gleiche Arbeit zu übernehmen. Dies erklärt auch die ungewöhnliche Lage dieser Organe im Hals, denn schließlich könnten die Drüsen überall im Körper ihre Aufgabe erfüllen.

"Die Nebenschilddrüse und die Kiemen der Fische sind verwandte Strukturen und teilen wahrscheinlich eine gemeinsame Stammesgeschichte", ist Graham überzeugt. "Unsere Arbeit wird alle ansprechen, die Haeckels Bilder gesehen haben, nach denen wir alle in unserer Entwicklung ein Fischstadium durchlaufen. Demnach sitzen tatsächlich unsere Kiemen immer noch im Hals – versteckt als Nebenschilddrüsen."

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