Protein-Wende: Die Zukunft des Fleischessens

Für Thibault Godard liegt die Zukunft des Essens im Untergrund. Dort, wo Pilze ihr feines, wurzelähnliches Geflecht aus Zellfäden ausbreiten, um Nährstoffe aufzunehmen und organische Stoffe abzubauen, soll eine neue Generation nachhaltiger Lebensmittel heranwachsen. Der promovierte Biotechnologe ist Mitgründer und Forschungsleiter des Hamburger Start-ups Mushlabs. Das junge Unternehmen kultiviert eiweiß- und ballaststoffreiches Pilzmyzel in Bioreaktoren, um damit langfristig tierische Produkte zu ersetzen. Die Vision: eine gesunde und schmackhafte Proteinversorgung ohne die katastrophalen Auswirkungen, die die Fleischindustrie auf Umwelt und Tierwohl hat.
Damit folgt die Firma einem Trend, der zuletzt stark an Fahrt aufgenommen hat: die Herstellung von Fleischersatzprodukten. Die Branche hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren rasant weiterentwickelt. Es geht längst nicht mehr nur um Sojawürstchen oder Hafermilch, sondern um völlig neuartige Konzepte, die eine umfassende Transformation des Ernährungssystems anstoßen wollen. Da werden Steaks in der Petrischale gezüchtet und Bakterien dazu gebracht, proteinreiches Pulver zu erzeugen. Und auch wenn es noch etliche Hürden zu überwinden gilt: Die nötige Bereitschaft der Gesellschaft, Neues auszuprobieren, scheint vorhanden. Laut einer 2022 veröffentlichten Studie des Good Food Institute Europe ist Deutschland mit 1,9 Milliarden Euro jährlich der mit Abstand größte Markt für alternative Proteine in Europa. 41 Prozent der Deutschen geben an, dass sie mindestens einmal im Monat pflanzenbasierte Fleischalternativen essen, ein Viertel der Befragten möchte das in Zukunft noch öfter tun.
Fleischlose Proteinquellen müssen künftig wohl auch global eine immer größere Rolle spielen. Nach aktuellen Vorhersagen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts die Zehn-Milliarden-Marke erreichen, damit könnte sich der Fleischkonsum im Vergleich zum Jahr 2008 verdoppeln. Mehr Fleisch und Milch bedeuten aber auch mehr Rinder, Schweine und Hühner und damit einen immensen Flächenverbrauch.
Themenwoche »Verantwortungsvoll Fleisch essen – geht das?«
Jeder Mensch in Deutschland – vom Kleinkind bis zum Greis – hat im Jahr 2022 rund 52 Kilogramm Fleisch verzehrt. Das sind enorme Mengen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt etwa ein Drittel davon als ausreichend für eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Dazu kommt, dass die Fleischindustrie mit Massentierhaltung und Massenschlachtung immense negative Auswirkungen auf Tierwohl, Umwelt, Klima und Artenvielfalt hat. Damit steht fest: Es muss sich dringend etwas ändern. Wie geht es besser?
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- Protein-Wende: Die Zukunft des Fleischessens
Schon heute nehmen Tierhaltung und Futteranbau mehr als drei Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Planeten ein und tragen maßgeblich zur Zerstörung von Lebensräumen, zum Artensterben und zum Klimawandel bei. Hinzu kommen ein hoher Wasserverbrauch, Wasserverschmutzung, Überdüngung, der Einsatz von Antibiotika und Milliarden leidende Tiere. Kein Wunder also, dass Hersteller und Verbraucher verstärkt nach Alternativen suchen.
Im Wesentlichen gibt es derzeit drei Lösungsansätze:
- Pflanzlicher Fleischersatz: Der direkte Verzehr von pflanzlichen Proteinen (etwa aus Erbsen, Soja oder Hafer) ohne den Umweg über das Nutztier bietet eine gute Lösung für Umwelt und Tierwohl. Allerdings lässt sich bislang nur ein kleiner Teil der Bevölkerung für eine rein vegetarische oder vegane Lebensweise begeistern.
- In-vitro-Fleisch: Mit neuen Verfahren lässt sich im Labor aus tierischen Stammzellen Muskel- und Fettgewebe züchten. Der Vorteil: Geschmack und Inhaltsstoffe sind wie beim Original, ohne dass dafür Tiere sterben müssen. Allerdings stecken die Zellkulturverfahren noch in den Kinderschuhen, sind kostspielig und benötigen viel Energie.
- Fermentation: Der Prozess wird seit Jahrhunderten zur Herstellung von Sauerkraut oder Bier verwendet und bezeichnet die Umwandlung organischer Stoffe mit Hilfe von Mikroorganismen. So können etwa Proteine, die man für die Herstellung von Fleischersatzprodukten braucht, auch von Bakterien, Pilzen oder Algen produziert werden. Wenn solche Mikroben gezielt kultiviert oder auch genetisch modifiziert werden, spricht man von Präzisionsfermentation. Die Herausforderung besteht darin, die eiweißreichen Rohstoffe anschließend in schmackhafte Lebensmittel zu verwandeln.
Mushlabs setzt auf den dritten Weg. Das Start-up arbeitet bislang mit rund 30 verschiedenen Speisepilzarten – welche das genau sind, ist ein Betriebsgeheimnis. »Uns geht es nicht darum, Fleisch nachzuahmen. Wir wollen die vielfältigen natürlichen Aromen der Pilze nutzen«, sagt Godard. »Je nach Pilzspezies und den verwendeten Nährsubstraten entstehen verschiedene Geschmacksrichtungen und Konsistenzen.« Damit lassen sich völlig neue Produkte schaffen, aber auch der typische Hähnchen- oder Rindfleischgeschmack imitieren. Das Angebot reicht von Pilzburgern und Hackbällchen bis zu ganzen Menüs auf Pilzbasis. Pilze enthalten nicht nur nahrhafte Proteine und Fette, sondern auch wertvolle Ballaststoffe – ein Nahrungsanteil, der nach Einschätzung von Godard in der gesellschaftlichen Diskussion oft vernachlässigt wird.
In der Natur bauen Pilze organische Reste wie Laub oder totes Holz ab, um zu wachsen. Durch seine langjährige Tätigkeit in der Lebensmittelindustrie weiß Godard, dass in vielen Produktionsprozessen große Mengen nährstoffreicher, organischer Reste anfallen. Dazu gehören Wein- und Obsttrester, Malz- und Hopfentreber aus dem Brauwesen, Zuckermelasse oder Rückstände aus der Kaffee-, Tee- und Kakaoverarbeitung. Allein in Deutschland sind das rund 1,6 Millionen Tonnen im Jahr. Warum sollte man die natürlichen Destruenten also nicht zur Veredelung solcher Reststoffe nutzen?
Das Pilzgeflecht wächst bei Mushlabs – ganz ähnlich wie die Hefen in einer Brauerei – nicht auf einem trockenen Substrat, sondern in einem flüssigen Nährmedium, das in Glaskolben oder Edelstahltanks durch Schütteln oder Rühren ständig durchmischt wird. So erreicht Mushlabs nach eigener Aussage ein 10- bis 20-mal schnelleres Wachstum als bei der klassischen Pilzzucht auf Erde, Holz oder Stroh. Weitere Vorteile des Verfahrens sind der geringe Platzbedarf in vertikal ausgerichteten Tanks, die Möglichkeit zur dezentralen Produktion in kleinen Anlagen und die einfachere Qualitätskontrolle. Weil Pilze alle Stoffe aus ihrer direkten Umgebung aufnehmen, lassen sich im Fermenter gezielt Zusätze wie etwa B-Vitamine einbinden.
Echtes Fleisch ohne Tierleid
Während man bei Mushlabs auf die Experimentierfreudigkeit der Konsumenten setzt, verspricht der Zellkulturansatz »echtes Fleisch« aus dem Bioreaktor. Die Technik hat sich aus der medizinischen Forschung entwickelt. Dort wurde die Zucht von menschlichen oder tierischen Zellen vorangetrieben, um Gewebe für Transplantationen zu erhalten oder Tierversuche vermeiden zu können. Dabei wird einem Tier unter Betäubung eine etwa pfefferkorngroße Gewebeprobe entnommen. Die daraus isolierten Stammzellen werden anschließend in einem flüssigen Nährmedium kultiviert, damit sie sich vermehren und in Muskel- oder Fettgewebezellen ausdifferenzieren. Die lassen sich anschließend zu größeren Strukturen zusammensetzen.
Eine der größten Herausforderungen liegt in der Zusammensetzung des Nährmediums. Es ist nicht nur teuer, sondern es muss auch so genannte Wachstumsfaktoren enthalten, die bis vor Kurzem aus dem Blut ungeborener Kälber stammten. Inzwischen gibt es allerdings tierfreie Alternativen, die mit wachsenden Produktionsmengen auch immer kostengünstiger werden. So hat das Team um Mark Post, Mitgründer und leitender Wissenschaftler bei der niederländischen Firma Mosa Meat, ein synthetisches Nährmedium entwickelt und das Verfahren im Januar 2022 in einer Studie im Fachmagazin »Nature Food« vorgestellt. Erst im Mai 2023 hat Mosa Meat eine Produktionsstätte in Maastricht eröffnet, in der sich nach eigener Aussage jährlich zehntausende zellkultivierte Burger mit tierfreiem Nährmedium herstellen lassen.
Nicht nur Hühnchen, Rind, Schwein und Co. lassen sich im Labor erzeugen. Auch das Muskelfleisch von Fischen kann im Bioreaktor gezüchtet werden: Der Meeresbiologe Sebastian Rakers hat jahrelang am Fraunhofer-Institut in Lübeck geforscht, um Fischzellkulturen zu etablieren. Inzwischen ist es seinem Team gelungen, Stammzellen aus dem Muskelfleisch von Forelle, Lachs und Karpfen so zu verändern, dass sie ständig weiterwachsen und ausreichende Zellmengen produzieren. Auf diese Weise lassen sich alternative Produkte herstellen, für die kein Fisch mehr gefangen oder gezüchtet werden muss.
Daraus ist die Firma BLUU Seafood entstanden, die aktuell in Hamburg eine Pilotanlage errichtet. »Ab Ende des Jahres 2024 wollen wir dort mehrere hundert Kilo zellkultivierten Fisch pro Jahr herstellen und die Produktion weiter ausbauen«, sagt Marketingchef Hans-Georg Höllerer. Die Firma plant, innerhalb der nächsten Jahre erste Produkte wie Fischstäbchen und Fischbällchen auf den Markt zu bringen. »Das werden erst einmal Hybridprodukte aus Fisch und pflanzlichen Proteinen sein«, sagt Höllerer.
»Ab Ende des Jahres 2024 wollen wir mehrere hundert Kilo zellkultivierten Fisch pro Jahr herstellen und die Produktion weiter ausbauen«Hans-Georg Höllerer, Marketingchef von BLUU Seafood
Viele, die schon Fleisch oder Fisch aus dem Bioreaktor probieren durften, zeigen sich mehr vom Geschmack als von der Konsistenz beeindruckt. Denn die Zellmasse, die im Nährmedium wächst, ist homogen – ihr fehlen Struktur und Festigkeit. Auch deswegen kombinieren die Hersteller die kultivierten Fleischzellen mit Soja-, Weizen- oder Erbsenprotein. Die tierischen Zellen liefern den Geschmack und die pflanzlichen Komponenten die faserige Konsistenz.
Es tut sich was
Dass sich etliche Produkte der Marktreife nähern, zeigen erste Zulassungen in anderen Ländern. In Singapur bieten einige Restaurants bereits seit 2020 kultiviertes Hühnerfleisch an, das nie wirklich zu einem Hühnchen gehörte. Seit Ende Juni 2023 dürfen die Firmen Upside Foods und Good Meat in den USA ihr im Bioreaktor kultiviertes Hühnerfleisch verkaufen.
Um die im Labor gezüchteten Muskel- und Fettzellen näher an das Original zu bringen, gibt es unterschiedliche Ansätze. Manchmal werden die Zellen schon in Kultur auf eine Struktur aus pflanzlichen Proteinen aufgebracht, manchmal erst später zu Mischprodukten zusammengebaut. Oder man versucht, den Zellen mit Hilfe von Hydrogelen eine Konsistenz zu verleihen, die sich dann mit einer Art 3-D-Drucker in die gewünschte Form bringen lässt.
Eine Forschungsgruppe aus Südkorea hat kürzlich vorgeschlagen, sich diesen Aufwand ganz zu sparen. Stattdessen solle man auf »cell powder meat« (CPM) setzen, also die proteinreiche Zellmasse zu einem Pulver verarbeiten. CPM punktet mit einfacherer und deutlich günstigerer Herstellung, hohen Proteingehalten und gutem Fleischgeschmack. So wie man heute Mehl und Salz in der Küche einsetzt, ließe sich CPM zu den verschiedensten Produkten verarbeiten, zudem leicht lagern und transportieren. Als Ausgangsmaterial für das Pulver können minimalinvasiv gewonnene Muskel-, Fett- und Knochenzellen von Rind, Schwein oder Huhn dienen, so dass sich der Geschmack variieren lässt. Nach Ansicht der südkoreanischen Fachleute wird das Fleischpulver die Basis für die Massenproduktion von Kulturfleisch werden.
Bakterien-Pfannkuchen
Die finnische Firma Solar-Foods wirbt damit, »Nahrung aus Luft« zu erschaffen. Das 2017 gegründete Unternehmen nutzt Bodenbakterien, um das proteinreiche Solein-Pulver herzustellen. Die Mikroben sind nicht genetisch verändert und werden hauptsächlich mit Wasserstoff und Kohlendioxid gefüttert, das aus der Luft gezogen wird. Die dazu nötigen Anlagen laufen mit Solarstrom. Zusätzlich enthält das Nährmedium in den Fermentern Stickstoff, Phosphor, Kalzium und andere Nährstoffe. Die auf diese Weise hergestellte Bakterienmasse kann dann als Solein abgeschöpft werden. Getrocknet sieht es wie Kurkumapulver aus (die Bakterien produzieren auch Karotinoide) und lässt sich ähnlich wie Mehl verarbeiten. Nach Angaben des Unternehmens besteht es zu 65 bis 70 Prozent aus Proteinen, zu 5 bis 8 Prozent aus Fetten (hauptsächlich ungesättigten), zu 10 bis 15 Prozent aus Ballaststoffen und zu 3 bis 5 Prozent aus Mineralstoffen.
Ende Mai 2023 fand in Singapur die erste öffentliche Verkostung von Solein statt. Einer der daran beteiligten Köche beschrieb den Geschmack als »nussig, buttrig und cremig« und konnte sich vorstellen, es als Ersatz für Ei, Milch oder Butter zu verwenden. Daneben wurden Fleischbällchen, Burger, Pfannkuchen und Schoko-Eiscreme getestet. Der Fantasie der Köche waren kaum Grenzen gesetzt.
»Tektonische Verschiebungen finden an unseren Esstischen statt. Die Zukunft der Ernährung ist da und findet in diesem Moment statt«Pasi Vainikka, Geschäftsführer von Solar-Foods
Bislang ist das Proteinpulver nur in Singapur zugelassen, aber das soll sich bald ändern. Solar-Foods baut in Vantaa, im Norden von Helsinki, gerade seine »Factory 01«. Die Solein-Fabrik soll im nächsten Jahr die Produktion aufnehmen und dann als Austauschplattform auch der Öffentlichkeit zugänglich sein. Dem Geschäftsführer von Solar-Foods, Pasi Vainikka, mangelt es nicht an Selbstbewusstsein: Er spricht von »tektonischen Verschiebungen an unseren Esstischen« und vergleicht das neue Foodtech-Verfahren mit den Anfängen des Computerzeitalters Ende des vergangenen Jahrhunderts.
Eine neue Form der Landwirtschaft?
Der revolutionäre Ansatz der vielfältigen neuen Verfahren ist die nahezu vollständige Entkopplung der Nahrungsmittelerzeugung von der landwirtschaftlichen Ackerfläche. Das Good Food Institute verweist auf eine Studie, laut der die Herstellung von Fleisch aus dem Labor verglichen mit herkömmlicher industrieller Fleischproduktion bis zu 93 Prozent weniger Treibhausgase erzeugt, 95 Prozent weniger Land benötigt und 78 Prozent weniger Wasser verbraucht. Die damit frei gewordene Landfläche ließe sich für Schutzgebiete oder regenerative Anbaumethoden nutzen. Zudem würde der Einsatz von Antibiotika drastisch reduziert.
Die alternative Fleischerzeugung ist zudem auch weitgehend unabhängig von Böden und Wetter – ein Umstand, der schneller relevant werden könnte, als den meisten Menschen lieb ist. Denn zunehmende Hitzewellen, Dürren und Starkregen bedrohen die Lebensmittelversorgung der Weltbevölkerung viel stärker als bisher angenommen, wie eine im Juli 2023 im Fachmagazin »Nature Communications« erschienene Studie warnt.
Dennoch hat das Fleisch aus dem Labor zumindest einen Wermutstropfen. Je nach kultivierten Zelltypen muss das Nährmedium in den Bioreaktoren auf einer konstant warmen Temperatur von 25 bis 37 Grad gehalten werden. Will man also massenhaft tierisches Muskelgewebe züchten, ist die dafür nötige Energiemenge nicht zu unterschätzen und der gesamte Prozess nur nachhaltig, wenn die Energie aus regenerativen Quellen stammt.
»Es handelt sich um eine vermeintlich einfache technische Lösung, die von den wahren Problemen des Systems ablenkt«Phil Howard, Sozialwissenschaftler
Werden wir in Zukunft also keine Kühe, Schweine, Hühner oder Fische mehr töten müssen, um an die wertvollen Proteine zu kommen, sondern können Mikroben, Pflanzen, Pilze oder Zellkulturen für uns arbeiten lassen? Was manche als einzige Chance für ein umweltverträgliches Ernährungssystem sehen, betrachten andere mit großen Vorbehalten. So spricht das Expertengremium IPES-Food (International Panel of Experts on Sustainable Food Systems) um den Sozialwissenschaftler Phil Howard von der Michigan State University in einer 2022 erschienenen Analyse von einem vorübergehenden Hype. Demnach handle es sich um eine vermeintlich einfache technische Lösung, die von den wahren Problemen des Systems ablenke. Die sieht das Gremium vor allem darin, dass sich die Nahrungsmittelproduktion auf einige wenige große Konzerne wie JBS, Tyson, Nestlé oder Cargill konzentriert. Diese seien zu Lasten von Kleinbauern auf Gewinnmaximierung und Industrialisierung aus.
Ein Großteil dieser Großkonzerne investiere nun zwar auch in alternative Proteine, um am stark wachsenden Markt teilzuhaben. Damit würden westlich geprägte Ernährungsweisen aber globalisiert und regionale Unterschiede gingen verloren. Die Überbetonung der Proteinversorgung vernachlässige zudem die Art und Weise der Produktion. Denn die Viehhaltung spiele in vielen landwirtschaftlichen Gemeinschaften eine große Rolle über die Ernährung hinaus. Tiere liefern Fell, Leder, Wolle und dienen als Zugtiere. Sie tragen zur Düngung der Böden bei, dienen als finanzielle Sicherheit, haben einen kulturellen Wert und nutzen Flächen, die sich sonst kaum landwirtschaftlich nutzen lassen.
Kritiker sind zudem skeptisch, was die Skalierung der neuartigen Verfahren auf industrielle Maßstäbe angeht. Sie haben Bedenken wegen des Energie- und Wasserverbrauchs, der Abwasserentsorgung oder zu vieler Zusatzstoffe in den neuartigen Lebensmitteln. Bei einigen Verfahren kommen auch gentechnisch veränderte Organismen zum Einsatz, denen zumindest in Europa immer noch eine große Skepsis entgegenschlägt.
Innovation versus Tradition?
Und dann sind da noch die, die ihren Beruf oder ihr Geschäftsmodell von den neuen Entwicklungen bedroht sehen, wie Landwirte, Molkereien und die Fleischindustrie. Konflikte sind vorprogrammiert, denn der Markt ist begrenzt: Je mehr Ersatzprodukte für Milch, Fleisch und Eier verkauft werden, desto weniger bleibt für die traditionellen Tierprodukte. Manche Bauern und Unternehmen sind Veränderungen gegenüber offen und sehen das als mögliches künftiges Betätigungsfeld; andere haben begonnen, die neue Entwicklung zu bekämpfen.
So hat sich der Widerstand gegen tierfreies Fleisch und alternative Proteine bereits seit einiger Zeit formiert. In Italien etwa gab es im März 2023 eine Initiative der Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, derartige Lebensmittel ganz zu verbieten. Auch hier zu Lande spielen die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen – in weniger drastischer Form – eine Rolle: Während für Fleisch, Fisch und Milch nur 7 Prozent Umsatzsteuer anfallen, unterliegen vegetarische oder vegane Ersatzprodukte als verarbeitete Lebensmittel einem Steuersatz von 19 Prozent.
Manch ein naturverbundener Mensch mag sich schwertun mit den Innovationen aus Biotechnologie und Lebensmittelchemie. Der britische Autor und »The Guardian«-Kolumnist George Monbiot jedoch fordert die Gesellschaft auf, die neuen Techniken willkommen zu heißen. Er hält die Präzisionsfermentation für die »vielleicht wichtigste Umwelttechnologie, die jemals entwickelt wurde« und sieht sie als möglicherweise letzte Chance, den drohenden ökologischen Kollaps noch abzuwenden. »Wir haben die Möglichkeit, zwei unserer größten existenzbedrohenden Krisen mit der gleichen Strategie zu lösen. Indem wir die Produktion von proteinreichen Lebensmitteln von der Landwirtschaft in die Fabrik verlagern, können wir sowohl den Hunger als auch das Artensterben beenden.«
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