CO2-Flottengrenzwerte: EU will der Autoindustrie Zeit verschaffen

Bis 2050 will die Europäische Union klimaneutral werden – und die Automobilindustrie muss dazu ihren Beitrag leisten. »Der Verkehr ist aus Klimasicht der problematischste Sektor, weil es hier bislang nicht gelungen ist, Emissionen zu mindern«, fasst Stefan Gössling von der Linnaeus University im schwedischen Kalmar die Lage zusammen. Um der Autoindustrie auf die Sprünge zu helfen, hat die EU im Jahr 2019 jedem Hersteller Grenzwerte für den CO2-Ausstoß vorgeschrieben – die so genannten Flottenziele – und diese 2023 noch einmal verschärft: Der Durchschnitt aller in der EU verkauften Neufahrzeuge darf diesen Grenzwert nicht überschreiten. Reißt ein Hersteller seine Zielvorgabe in einem Jahr, wird es teuer. Für jedes verkaufte Auto und jedes Gramm CO2 pro Kilometer zu viel zahlt er dann 95 Euro Strafe.
Alle fünf Jahre wird das Flottenziel verschärft. In den Jahren 2020 bis 2024 klappte das gut. Die Hersteller hielten ihre Zielvorgaben ein. Doch ab 2025 sollten die zulässigen Grenzwerte auf einen Schlag um 15 Prozent sinken – zu viel für die meisten Unternehmen. Zusätzlich zum kostspieligen Wandel hin zur Elektromobilität sahen sie sich mit der Aussicht auf hohe Strafzahlungen konfrontiert.
Doch davor will die Europäische Kommission die Industrie nun vorerst bewahren. Bis 2027 sollen Autohersteller ihre Flottengrenzen nicht mehr jährlich einhalten müssen, sondern nur noch im Durchschnitt der nächsten drei Jahre. 2025 dürften die Pkw-Flotten also noch die Zielwerte reißen, über die Jahre 2025 bis 2027 gemittelt müssten sie dann aber die Grenzwerte einhalten. Am Donnerstag, 8. Mai, soll das EU-Parlament darüber abstimmen.
Flexibler oder verwässert?
»Diese Flexibilisierung ist absolut richtig«, findet Christian Beidl von der Technischen Universität Darmstadt. »Damit reagiert man auf die Realität in der Marktentwicklung.« Ohnehin sei die jetzige Regelung als eine Quotenvorgabe für den Anteil an Elektrofahrzeugen in einer Flotte zu verstehen – unabhängig davon, ob dieser nun gut für das Klima sei oder nicht. Ein Entschärfen oder Aufweichen der Flottenziele sieht der Experte für Fahrzeugantriebe durch die geplante Flexibilisierung nicht. »Diese Begriffe sind irreführend.«
Stefan Gössling sieht das anders. »Die Ziele zur Emissionsminderung im Verkehr werden dadurch weiter verwässert.« Die Flexibilisierung stehe in einer Linie mit dem abgeschwächten Verbot von Verbrennungsmotoren bei den Neuzulassungen ab 2035 und dem Aufheben der Sektorziele beim Treibhausgasausstoß in Deutschland. Gössling geht davon aus, dass die geplante Maßnahme nicht die letzte industriefreundliche bleiben wird. Gegenüber dem Science Media Center (SMC) sagte er: »Ende 2027 werden dann plötzlich sehr dramatische Änderungen eintreten und die Gesetzgebung wird dann auf Grund von Protesten in der Bevölkerung ausgesetzt.«
»Es ist anzunehmen, dass die Kommission die Ziele offiziell noch weiter verschieben wird«Andreas Knie, Mobilitätsforscher
So schätzt es auch Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ein. »Es ist anzunehmen, dass die Kommission die Ziele 2027 offiziell noch weiter verschieben wird.« Autobauer hätten damit also nochmals mindestens fünf Jahre Zeit, ihre Diesel- und Benzinmotoren weiter in Europa zu verkaufen. Industriepolitisch sei das eine Katastrophe, da es die Umstellung auf batterieelektrische Antriebe verzögere und wichtige Exportmärkte wie jene in China und Nordamerika verloren zu gehen drohen.
Vertrauen in Regulierung untergraben
Patrick Plötz vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung sorgt sich um die Verlässlichkeit der Regulierung. »Politisch würde ein derartiges Entgegenkommen das Vertrauen von Industrie und Investoren in langfristig stabile Rahmenbedingungen untergraben.« In Zukunft könne das zu wiederholten Versuchen führen, Ziele aufzuweichen. Dabei seien die Flottengrenzwerte ein zentrales Instrument der EU: »Ohne sie wäre der Marktanteil von E-Fahrzeugen heute deutlich niedriger.«
Der Energiewirtschaftler geht davon aus, dass die geplante Flexibilisierung zu höheren Emissionen führt, als wenn die Emissionsvorgaben jährlich eingehalten werden müssten. »Bei einer Mittelung über die nächsten drei Jahre wären die Emissionen der Neuwagenflotte um zirka fünf bis sieben Gramm CO2 pro Kilometer höher als ohne diese Aufweichung«, rechnet er vor. »Und die Anteile der Elektrofahrzeuge an den Neuzulassungen würden um vier bis sieben Prozentpunkte geringer ausfallen.« Allein 2025 würden dadurch etwa 0,3 bis 0,5 Megatonnen mehr Treibhausgase im Verkehr ausgestoßen.
Optimistischer ist Christian Beidl. Er rechnet bis 2027 mit einem deutlichen Wachstum des E-Autoanteils an den Neuwagenverkäufen. »Ob dies in allen Fällen zu einer Einhaltung der Grenzwerte führen wird, ist allerdings schwer vorherzusagen.« Jedenfalls sei aber eine Überarbeitung der Regelung notwendig.
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