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News: Fluss ohne Widerstand

Die Quantenmechanik regiert den Mikrokosmos, und ihre Auswirkungen sind für uns unter normalen Umständen nicht greifbar. Doch bestimmte Phänomene bei sehr tiefen Temperaturen erlauben uns einen Blick in die bizarre Quantenwelt. Der diesjährige Nobelpreis für Physik würdigt die theoretischen Arbeiten, die das ungewöhnliche Tieftemperatur-Verhalten so genannter Quantenflüssigkeiten erklären.
Die niederländische Stadt Leiden war Anfang des letzten Jahrhunderts der kälteste Ort der Welt. Denn an der hiesigen Universität gelang es dem Physiker Heike Kamerlingh Onnes (1853-1926) erstmals, das Edelgas Helium zu verflüssigen, das bei 4,2 Kelvin siedet. Diese und weitere Arbeiten im Bereich der Tieftemperaturphysik brachten Onnes im Jahre 1913 den Nobelpreis für Physik ein. Dabei wurde er insbesondere für eine Entdeckung berühmt, von der gar nicht so ganz sicher ist, dass sie ihm wirklich alleine zuzuschreiben ist: die Supraleitung.

Fest steht jedenfalls, dass Onnes und sein Team nach den Erfolgen bei der Verflüssigung von Gasen ihre Technik nutzten, um das Verhalten des elektrischen Widerstands bei tiefen Temperaturen zu untersuchen. Dabei stellten die Forscher fest, dass bei Quecksilber der Widerstand unterhalb von 4,2 Kelvin verschwindet – ein Phänomen, das die Wissenschaftler zunächst fälschlicherweise auf einen Kurzschluss zurückführten. Es zeichnete sich jedoch bald ab, dass die Messergebnisse korrekt waren. Es sollten jedoch fast 50 Jahre vergehen, bis eine Theorie das Phänomen Supraleitung weitgehend erklären konnte.

Denn erst im Jahr 1957 gelang es den Physikern John Bardeen (1908-1991), Leon Neil Cooper (geb. 1930) und John Robert Schrieffer (geb. 1931), eine mikroskopische Theorie der Supraleitung aufzustellen, die nach den Initialen der Nachnamen BCS-Theorie genannt wird. Ihre Idee: Die Elektronen in Supraleitern schließen sich zu Paaren zusammen – Cooper-Paare genannt. Auf diese Weise wechseln die Ladungsträger quasi ihre Familienzugehörigkeit. Handelt es sich bei Elektronen normalerweise um Fermionen, Teilchen mit einem halbzahligen Spin, die einer bestimmten Statistik folgend nicht beliebig aneinander rücken dürfen, verhalten sich die gepaarten Elektronen wie Bosonen, die einen ganzzahligen Spin besitzen und sich einer anderen Statistik nach sehr wohl nahe kommen dürfen und sich im Prinzip wie ein einziges Teilchen verhalten. Ein Resultat dieses kollektiven Zusammenschlusses: der verschwindende Widerstand im supraleitenden Zustand.

Allerdings beschreibt die BCS-Theorie, die ihren Begründern 1972 den Physik-Nobelpreis bescherte, nur einen Teil der Supraleiter: die so genannten Supraleiter vom Typ I. Diese Materialien drängen ein äußeres Magnetfeld aus ihrem Inneren, wenn sie den supraleitenden Zustand erreichen. Walther Meißner (1882-1974) und Robert Ochsenfeld (1901-1993) beobachteten 1933 diesen Effekt, der später nach ihnen benannt wurde. Supraleiter zweiter Art zeigen hingegen nur teilweise ein solches Verhalten. Bei ihnen wird das Magnetfeld zu dünnen Schläuchen zusammengeschnürt, die das Material durchziehen. Quecksilber ist beispielsweise ein Supraleiter vom Typ II.

Es war der Verdienst von Aleksej Aleksejewitsch Abrikossow (geb. 1928), einem der drei diesjährigen Nobelpreisträger, auch die Supraleiter zweiter Art mit einer Theorie zu beschreiben, wenngleich in erster Linie phänomenologisch. Dabei bediente sich der Physiker einer frühen Theorie der Supraleitung, bei der die Dichte der supraleitenden Teilchen mit einem Ordnungsparameter beschrieben wird – einer Wellenfunktion wie in der Quantenmechanik üblich. Mit dieser Formulierung aus dem Jahr 1950 von Witalij Lasarewitsch Ginsburg (geb. 1916), dem zweiten Physik-Nobelpreisträger dieses Jahres, und Lew Dawidowitsch Landau (1908-1968, erhielt bereits im Jahr 1962 den Nobelpreis) ließen sich zwar die Eigenschaften von Supraleitern bereits recht gut vorhersagen, sie lieferte jedoch keine echte mikroskopische Erklärung wie die BCS-Theorie.

Doch immerhin kann die Erweiterung durch Abrikossow das Auftreten von elektrischen Wirbeln erklären, in denen sich das Magnetfeld ausbreiten kann. Mats Jonson, Vorsitzender des Nobel-Komitees für Physik, vergleicht diese Vortices mit dem Wirbel in der Badewanne, der sich beim Auslaufen des Wassers bildet: "Genauso wie man einen Bleistift in so einen Wasserwirbel stecken kann, ohne dass er nass wird, genauso können magnetische Flusslinien durch diese Wirbel in den Supraleiter eindringen."

Technologisch gesehen sind die Supraleiter zweiter Art bedeutender als die vom Typ I. Denn auch alle so genannten Hochtemperatur-Supraleiter – erstmals von Georg Bednorz (geb. 1950) und Alexander Müller (geb. 1927) in den achtziger Jahren vorgestellt (Nobelpreis für Physik 1987) – gehören dieser Gruppe an. Hier reicht zur Kühlung bereits flüssiger Stickstoff, der deutlich günstiger herzustellen ist als das sonst nötige flüssige Helium.

Obwohl die BCS-Theorie in ihrer gegenwärtigen Form nicht zur Beschreibung der Supraleiter zweiter Art taugt, erklärt sie doch manches physikalische Phänomen – auch über die Supraleitung hinaus: beispielsweise in einer erweiterten Form das Auftreten der Suprafluidität in Helium-3.

Suprafluidität wurde jedoch zunächst an dem weitaus häufigeren Helium-Isotop mit der Massenzahl vier entdeckt, das aus je zwei Protonen, Neutronen und Elektronen besteht – ein so genanntes Boson. Unterhalb von etwa zwei Kelvin verliert die Flüssigkeit ihre Viskosität, fließt von selbst die Wände eines Gefäßes hoch, um für den Ausgleich von Flüssigkeitspegeln zu sorgen, und besitzt eine so hohe Wärmeleitfähigkeit, dass es unmöglich ist, in ihr einen Temperaturunterschied zu erzeugen. Pyotr Kapitsa (1894-1984, Nobelpreis 1978) war in den späten dreißiger Jahren einer der ersten, der das Phänomen beobachtete. Die Erklärung lieferte wenig später Landau, der unter anderem hierfür den Nobelpreis erhielt.

Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis auch aus Helium-3 im Labor eine Supraflüssigkeit wurde. Das lag zum einen daran, dass dieses Isotop in der Natur sehr selten ist: Das schwerere Helium kommt 10 Millionen Mal häufiger auf der Erde vor als das leichte. Zum anderen muss Helium-3 deutlich tiefer gekühlt werden, um in den suprafluiden Zustand zu gelangen. Temperaturen im Millikelvinbereich sind hier nötig. Erst in den frühen siebziger Jahren gelang es David Lee (geb. 1931), Douglas Osheroff (geb. 1945) und Robert Richardson (geb. 1937), diesen Zustand zu erzeugen (Nobelpreis 1996).

Die Theorie dazu lieferte indes schon die von Anthony Leggett erweiterte BCS-Theorie – der letzte der drei diesjährigen Preisträger. Denn anders als Helium-4 ist Helium-3 ein Fermion und verhält sich deshalb statistisch wie ein Elektron, kann sich also nicht ohne weiteres mit beliebig vielen Partnerteilchen zusammenschließen. Wie bei den Elektronen können sich im Helium-3 aber zunächst Pärchen aus zwei Atomen zusammenfinden, die dann wiederum als Boson der Bose-Einstein-Statistik gehorchen und sich wie ein einziges Teilchen verhalten können.

Im Vergleich zum Helium-4-Superfluid bildet Helium-3 dabei eine deutlich kompliziertere Supraflüssigkeit mit gleich drei suprafluiden Phasen. Denn die Helium-Pärchen besitzen sowohl ein magnetisches Moment, ähnlich einem winzigen Magneten, wie auch ein Drehmoment, da je zwei Atome umeinander kreisen. Je nachdem, welchen Winkel magnetische Richtung und Drehmoment zueinander einnehmen, ergibt sich eine andere Phase für die Supraflüssigkeit mit bestimmten physikalischen Eigenschaften. Leggett konnte diese Ordnung in dem Supralfuid bereits vor dem experimentellen Befund theoretisch vorhersagen.

Doch bei Ordnung muss es nicht bleiben: Neuere Modellstudien zeigen, wie das ganze System ins Chaos übergeht, womit sich Physikern ein neues Werkzeug erschließt, turbulente Phänomene zu untersuchen – vielleicht ein Forschungsfeld, für den wieder ein Nobelpreis herausspringt.

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