Forensik: Stumme Zeugen der Anklage

Sonntag, den 3. Mai 1992, in einem abgelegenen Wüstengebiet im US-Bundesstaat Arizona. Ein Motorradfahrer macht einen grausigen Fund: In einem trockenen Graben liegt mit dem Gesicht nach unten ein nackter Frauenkörper. Die herbeigerufene Polizei stellt fest, dass die Frau erdrosselt wurde. Schnell wird sie als Prostituierte namens Denise J. identifiziert. Spuren am Tatort führen zu einem Verdächtigen, der allerdings den Mord entschieden leugnet. Doch zwei unscheinbare Objekte überführen ihn schließlich als Täter: die Samenkapseln eines Baums.
Dieser Fall ging in die Justizgeschichte ein, denn hier hatte ein Gericht weltweit zum ersten Mal genetisches Material einer Pflanze als Beweismittel anerkannt. Fingerabdrücke nutzen Kriminalisten bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts als wichtige Indizienquelle. Die Erfindung der »Polymerase-Kettenreaktion« (PCR) des US-amerikanischen Biochemikers Kary Mullis (1944–2019) – der hierfür 1993 den Chemie-Nobelpreis erhielt – ermöglichte es dann rund 100 Jahre später, eine Person mit Hilfe ihres »genetischen Fingerabdrucks« zu identifizieren (siehe »Kurz erklärt: PCR« und »Spektrum« Juni 1990, S. 60).
Mit ihr kann man aus geringen Mengen DNA ganz gezielt bestimmte Bereiche vervielfältigen und untersuchen. Dies führte auch zu einem Quantensprung in der Kriminaltechnik. Standardmäßig lassen sich heute selbst kleinste Hinterlassenschaften einer bestimmten Person zuordnen. Doch das beschränkte sich zunächst auf menschliches Spurenmaterial. Erst nach und nach nutzten Forensiker auch Tierspuren, um Kriminalfälle aufzuklären. So erlaubt es die DNA-Analyse, an einem Tatort gesicherte Hundehaare einem individuellen Tier zuzuordnen.
Kurz erklärt: PCR
DNA steht für die englische Bezeichnung deoxyribonucleic acid (deutsch: Desoxyribonukleinsäure). Das Molekül, das sich grundsätzlich in jeder Zelle unseres Körpers wiederfindet, besteht aus den vier Bausteinen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin (kurz A, C, G und T). In der Abfolge dieser vier Bausteine, der DNA-Sequenz, ist unsere Erbinformation gespeichert. Die DNA liegt doppelsträngig vor, wobei sich immer Adenin und Thymin sowie Cytosin und Guanin gegenüberliegen.
Bei der Polymerase-Kettenreaktion (kurz PCR, von englisch: polymerase chain reaction) werden bestimmte Abschnitte der DNA vervielfacht. Dafür braucht man als Ausgangsmaterial die zu vervielfältigende DNA, die Einzelbausteine A, C, G und T sowie kurze, einzelsträngige DNA-Moleküle (Primer), die als Ansatzpunkt für die Bausteine dienen. Dann laufen folgende Schritte zyklisch ab:
1. Die DNA wird so weit erhitzt, dass sich der Doppelstrang in zwei Einzelstränge aufteilt (Denaturierung).
2. Die Temperatur wird wieder gerade so weit gesenkt, dass die Primer an die Einzelstränge binden (Hybridisierung).
3. Die Einzelbausteine werden mit Hilfe eines Polymerase-Enzyms an den Primer-Enden so lange angebaut (Elongation), bis aus den Einzelsträngen wieder Doppelstränge geworden sind und sich somit die DNA in einem Zyklus verdoppelt hat.
Am Kriminaltechnischen Institut des Bundeskriminalamts (BKA) in Wiesbaden setzen wir diese Methoden schon seit Jahrzehnten erfolgreich ein. Ein relativ neues und weitgehend unbekanntes Feld stellt dagegen die DNA-Analyse von Pflanzenmaterial in der Forensik dar. Dabei können höhere Pflanzen, die sich ja in ihrem Lebensraum nicht bewegen, einen unmittelbaren Hinweis auf ein eng umgrenztes Gebiet geben, etwa einen Tatort. Auf diese Weise konnten wir bereits spektakuläre Beiträge zur Aufklärung schwerer Straftaten liefern.
Ein Wüstenbaum war Zeuge
Aber zunächst zurück zu dem geschilderten Fall in Arizona. Ein Zeuge hatte beobachtet, wie in der Tatnacht ein weißer Pick-up in unmittelbarer Nähe des Leichenfundorts mit hohem Tempo davonbrauste. Als erste heiße Spur fand die Polizei einen Pager. Der Besitzer konnte schnell ermittelt werden; und es stellte sich heraus, dass hauptsächlich dessen Sohn Mark B. – der einen weißen Pick-up besaß – den Funkempfänger benutzt hatte. B. gab daraufhin zu, das Mordopfer gekannt zu haben. Er hätte Denise J. am späten Abend als Anhalterin in seinem Auto mitgenommen. Später wäre es allerdings zu einem heftigen Streit gekommen, und er hätte sie aufgefordert, sofort auszusteigen. Daraufhin hätte sie den Pager und seine Geldbörse an sich gerissen, das Auto verlassen und wäre davongerannt. Die Gegend des eigentlichen Tatorts kenne er zwar, er sei aber seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Beharrlich bestritt er auch später vor Gericht, Denise J. getötet zu haben.
Neben dem Fundort der Leiche entdeckte die Polizei frische Abrissspuren an einem Ast, der über die Fahrbahn ragte. Offensichtlich hatte hier ein Fahrzeug einen Baum gestreift. Von der Pflanze – ein Vertreter der Spezies Parkinsonia microphylla, die in den südwestlichen USA als Palo-Verde-Baum bekannt ist – entnahmen die Fachleute der Spurensicherung Vergleichsmaterial für spätere Untersuchungen. Anschließend fand die Polizei auf der Ladefläche des Pick-ups von Mark B. zwei Samenhüllen eines Palo-Verde-Baums. Es stellte sich also die Frage, ob dieses Pflanzenmaterial tatsächlich von dem beschädigten Baum am Tatort stammte. Die Ermittler wandten sich daraufhin an den Pflanzengenetiker Tim Helentjaris von der University of Arizona.
Jeder individuelle Baum wies einen einzigarten genetischen DNA-Fingerabdruck auf
Zu diesem Zeitpunkt standen für die DNA-Analyse von Pflanzenmaterial nicht viele verschiedene Verfahren zur Verfügung – schon gar nicht für einen wirtschaftlich uninteressanten Wüstenbaum. Die damals bekannteste Methode zur vergleichenden Analyse war die 1990 von Wissenschaftlern des Chemiekonzerns DuPont entwickelte RAPD-Analyse (randomly amplified polymorphic DNA; siehe »Kurz erklärt: STR und RAPD«). Ihr Vorteil ist, dass über die genaue DNA-Sequenz nichts bekannt sein muss; die Methode kann somit bei jeder beliebigen Pflanze eingesetzt werden. Die Polizei entnahm vom Fundort der Leiche Proben von zwölf verschiedenen Palo-Verde-Bäumen und stellte sie Helentjaris zur Verfügung. Der Experte extrahierte aus allen Proben DNA und verglich deren Sequenzen. Ergebnis: Jeder individuelle Baum wies einen einzigartigen genetischen DNA-Fingerabdruck auf und ließ sich somit leicht von den anderen unterscheiden.
Kurz erklärt: STR und RAPD
Bei STRs (short tandem repeats), auch SSRs (simple sequence repeats) oder Mikrosatelliten genannt, handelt es sich um kurze, sich wiederholende DNA-Fragmente (zum Beispiel G-A, G-A, …), die über die gesamte DNA verteilt vorkommen können. Bedingt durch die unterschiedliche Anzahl der Wiederholungen variieren sie sehr in ihrer Länge und eignen sich deshalb gut zur individuellen Identifikation nicht nur von Menschen, sondern auch von Tieren und Pflanzen. Für die Untersuchung mittels PCR setzt man Primer ein, die spezifisch vor und hinter dem STR an die DNA binden, wodurch nur genau jener Bereich von Interesse vervielfältigt wird. Diese Primer sind art- oder gattungsspezifisch.
Im Gegensatz dazu verwendet man bei der Methode RAPD (randomly amplified polymorphic DNA) kurze, zufällig erzeugte Primer, die an mehrere Stellen der DNA binden können. Die so gewonnenen DNA-Sequenzen besitzen für sich genommen keine Aussagekraft, ergeben jedoch, nach ihrer Länge aufgetrennt, ein charakteristisches Muster für jedes Tier- oder Pflanzenindividuum. Problematisch kann der Vergleich werden, wenn das zu untersuchende Individuum mit Fremd-DNA kontaminiert ist. Diese wird bei der RAPD-Methode ebenfalls vervielfacht und mit in das entstehende Muster verschieden langer DNA-Fragmente integriert. Probe und Vergleich können dadurch unterschiedliche Ergebnisse zeigen, obwohl sie vom selben Individuum stammen.
Daraufhin erhielt Helentjaris in einem Blindtest Schoten von den zwölf Bäumen sowie von 17 weiteren, zufällig ausgesuchten Exemplaren rund um die Stadt Phoenix. Wie sich herausstellte, stimmte genau eine Probe mit dem Erbmaterial der auf der Ladefläche des Pick-ups gefundenen Samenhüllen überein: Es handelte sich um den Baum mit den Abrissspuren, der am Leichenfundort stand.
Es kam zum Mordprozess, bei dem Helentjaris am 6. Mai 1993 sein Ergebnis dem Gericht vorstellte. Der Befund trug entscheidend zu einer Verurteilung von Mark B. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe bei. Ein Berufungsgericht bestätigte am 21. November 1995 das Urteil.
Verrottetes Material auf den Labortischen der Forensiker
In Deutschland dauerte es bis 2004, bis die spektakuläre Lösung eines seit Jahren ungeklärten Tötungsdelikts, eines »Cold Case«, mit Hilfe von Pflanzenmaterial gelang. Im Jahr zuvor hatten wir auf einem Treffen der Experten für Kriminaltechniken des Bundes und der Länder die Möglichkeiten hierzu erörtert. Bei Tieren sieht die Sache einfach aus: Hunde und Katzen leben in enger Gemeinschaft mit dem Menschen und verlieren – wie jeder Tierbesitzer bestätigen wird – ständig und überall Haare. Damit kann ein Kontakt eines Tatverdächtigen mit einem Opfer nachgewiesen werden, ähnlich wie bei der Übertragung von Faserspuren, etwa von Kleidung oder einem Teppich. Über die Sekrete eines Hundes lässt sich gleichfalls nach einer Beißattacke das individuelle Tier feststellen.
Als wir jedoch in Deutschland nach Fällen suchten, bei denen Pflanzen dazu beigetragen hatten, als »Zeugen der Anklage« eine Straftat aufzuklären, fanden wir so gut wie nichts. Die einzige Pflanzenart, die regelmäßig in den Akten auftaucht, ist der Hanf (Cannabis sativa). So konnten wir in Amtshilfe für die schwedische Justiz nachweisen, dass das bei einem Verdächtigten sichergestellte Pflanzenmaterial genetisch zu einer bestimmten illegalen Hanfplantage gehörte.
Der Grund für die eher stiefmütterlich behandelte forensische DNA-Analyse von Pflanzen liegt in den Herausforderungen, die sich uns stellen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in Universitäten und Forschungseinrichtungen Pflanzen genetisch analysieren, arbeiten in der Regel mit frischen Blättern, Knospen oder Zweigen. Bei uns Kriminalbiologen landet dagegen meist altes, zum Teil verrottetes Material auf dem Labortisch, das von Fahrzeugen, Schuhen oder Kleidungsstücken stammt. Die DNA darin ist dann schon mehr oder weniger stark abgebaut. Das erschwert es, eine vergleichbare DNA-Menge von Spuren- und Vergleichsmaterial einzusetzen, die für die RAPD-Methode benötigt wird. Außerdem gedeihen an Falllaub Pilze oder Bakterien, die damit das Spurenmaterial kontaminieren. Da die RAPD-Methode nicht zwischen der DNA von Pflanzen und der von Mikroorganismen unterscheiden kann, entsteht somit ein falsches Muster an DNA-Fragmenten.
Um Pflanzenmaterial genetisch eindeutig zuordnen zu können, erschien uns daher statt der RAPD-Methode die STR-Analyse (short tandem repeats) besser geeignet, da sie art- oder zumindest gattungsspezifische Nachweise erlaubt (siehe »Kurz erklärt: STR und RAPD«). Letztere bietet auch noch einen ganz pragmatischen Vorteil: Die Methode ist vor Gericht bei der Auswertung menschlicher und tierischer Spuren schon eingeführt und damit bekannt und akzeptiert.
Scheinbar wenig aussagekräftige Spuren
Wie es der Zufall manchmal so will, dauerte es nicht lange, bis unser Telefon klingelte. Im Januar 2004 meldete sich die Polizei Wuppertal mit einem Fall, bei dem zwei Laubblätter eine entscheidende Rolle spielen sollten.
Es handelte sich um ein unaufgeklärtes Tötungsdelikt an einer schwangeren Frau aus dem Jahr 1998. Am Morgen des 23. November hatte ein Radfahrer neben einer Straße durch ein bewaldetes Gebiet bei Venlo, direkt hinter der deutschen Grenze in den Niederlanden, eine von Laubblättern bedeckte weibliche Leiche gefunden, die als Theresa A. identifiziert wurde. Unter dringenden Tatverdacht geriet schnell ihr Ehemann Robert F., der seine Frau – die sich von ihm scheiden lassen wollte – als vermisst gemeldet hatte, nachdem sie angeblich die gemeinsame Wohnung in Wuppertal nach einem Streit verlassen hätte. Neben der Leiche fand die Polizei zerschnittene Stücke von Spanngummiseilen, an denen Sachverständige DNA-Spuren des Ehemanns nachweisen konnten. Zusätzlich stießen die Ermittler unter den Fingernägeln des Opfers auf Epithelzellen der Haut, die ebenfalls nachweislich von Robert F. stammten. Während der Spanngurt als Beweismittel eher wertlos war, da es sich um einen üblichen Haushaltsgegenstand handelte, hatte der Tatverdächtige für die DNA-Spuren unter den Fingernägeln eine kuriose Erklärung parat: Er hätte sich mit seiner Frau, mit der er sich am Abend vor ihrem Verschwinden getroffen hatte, wieder versöhnt und diese hätte ihm Pickel im Gesicht ausgedrückt. Und in Venlo – 100 Kilometer von seinem Wohnort entfernt – sei er nie gewesen.
Im Kofferraum von F.s Auto hatte die Polizei ein Stieleichen- sowie ein Birkenblatt sichergestellt. Es handelte sich um Herbstlaub, wie es zwar am Leichenfundort, aber auch an vielen anderen Stellen in Deutschland und den Niederlanden vorkommt. Daher stuften die Gutachter die Aussagekraft des Fundes als sehr gering ein.
Zusammen mit der Akte lagerten die Blätter in der Registratur der ermittelnden Dienststelle
Somit ließ sich der Tatverdacht nicht aufrechterhalten; ein halbes Jahr später wurde Robert F. aus der Untersuchungshaft wieder entlassen. Ohne zusätzliche Ermittlungsansätze ruhte der Fall fünf Jahre lang. Zusammen mit der Akte lagerten die nicht weiter untersuchten Blätter in der Registratur der ermittelnden Dienststelle in Wuppertal.
Ein neuer Ansatz für den Cold Case
Anfang 2004 nahm die Staatsanwaltschaft Wuppertal die Ermittlungen wieder auf. Im Mai desselben Jahres erhielten wir am Kriminaltechnischen Institut des BKA eine kleine Tüte mit der »Spur 102« überreicht. Inhalt: die beiden Laubblätter aus Robert F.s Kofferraum. Als Vergleichsmaterial übergab uns die Polizei Papiersäcke mit Falllaub, mit dem der Leichnam von Theresa A. abgedeckt gewesen war.
Uns stellte sich jetzt die Frage, ob wir uns auf die Analyse des Birken- oder des Eichenblatts konzentrieren sollten. STR-Systeme für die Birke (Betula) wurden erst 2004 veröffentlicht. Erste STR-Analysen zur Eiche (Quercus) existierten dagegen bereits seit 1995, und auch deutschsprachige Arbeitsgruppen beispielsweise aus Wien hatten entsprechende Studien publiziert. Die Methode war damit erprobt und etabliert.
Zudem bilden Eichen im Gegensatz zu vielen anderen Bäumen wie Birken keine Stecklinge. Somit entstehen auch keine weiteren genetisch identischen Exemplare. Zahlreiche Pflanzen, die für Hecken verwendet werden, oder die allseits verbreiteten Geranien werden dagegen vom Menschen durch Ableger vermehrt. Solche Gewächse lassen sich nicht einem bestimmten Individuum genetisch zuordnen, da alle das gleiche DNA-Muster tragen.
Im vorliegenden Fall wählten wir deshalb für die genetische Analyse das Stieleichen- und nicht das Birkenblatt aus. Bis zu den ersten Ergebnissen lag jedoch noch ein weiter Weg vor uns. Da wir keine Erfahrung mit der Extraktion und Analyse von Pflanzenmaterial hatten, übertrugen wir die Voruntersuchungen nach Übereinkunft mit der Staatsanwaltschaft an Birgit Ziegenhagen von der Philipps-Universität Marburg. Ihre frühere Arbeitsgruppe an der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft in Großhansdorf hatte 2002 eine umfangreiche Populationsstudie zu Eichen publiziert.
Die Marburger Kollegen erhielten allerdings nicht das Spurenmaterial selbst, sondern Blätter aus den Säcken mit dem Vergleichsmaterial, welche die Polizei seit 1998 unter ähnlichen Bedingungen aufbewahrt hatte. Damit sollten sie die Frage klären, ob sich in dem Blattmaterial noch Eichen-DNA in ausreichender Qualität und Quantität nachweisen lässt. Schließlich handelte es sich bei der Spur um altes Material, welches womöglich schon länger als Falllaub auf dem Boden gelegen hatte und dann noch fast sechs Jahre bei Raumtemperatur verpackt in einer Kammer aufbewahrt gewesen war.
In der Zwischenzeit prüften wir an einer großen Stichprobe des Vergleichsmaterials, von welchen Baumarten das Laub stammte. Neben den bereits erwähnten Blättern der Stieleiche (Quercus robur) und der Birke befanden sich auch welche von der Rotbuche (Fagus sylvatica) sowie der Roteiche (Quercus rubra). Letztere ursprünglich in Nordamerika heimische Art wird in Mitteleuropa gern in Parks und an Straßenrändern angepflanzt. Wie wichtig diese Artbestimmungen waren, sollte sich erst später bei der Sammlung von frischem Vergleichsmaterial direkt am Leichenfundort offenbaren.
Die Untersuchungen in Marburg dauerten länger als ursprünglich geplant, doch das Ergebnis war eindeutig: Auch an jahrealten, trocken gelagerten Laubblättern ist eine DNA-Analyse möglich.
Auch an jahrealten, trocken gelagerten Laubblättern ist eine DNA-Analyse möglich
Wir baten die Polizei Wuppertal, über die zuständige Försterei zu klären, ob sich in dem zu beprobenden Waldstück seit November 1998 etwas verändert hatte. Dies verneinte die Forstbehörde.
Endlich ein Treffer
Im Oktober 2004 war es dann so weit. Zusammen mit den Ermittlern aus Wuppertal sowie Beamten der niederländischen Polizei nahmen wir in Venlo den damaligen Fundort der Leiche in Augenschein. Auf beiden Seiten der Straße erstreckte sich ein Wald aus Stieleichen. Sofort stellte sich die Frage: Von wie vielen Bäumen und in welchem Bereich sollen wir Vergleichsmaterial holen? Hierbei halfen uns die 1998 vor Ort gesammelten Blätter weiter, die ja von verschiedenen Baumarten stammten. Unmittelbar am Leichenfundort gab es lediglich vereinzelte Birken. Die damals gefundenen Rotbuchen- und Roteichenblätter konnten indes nur von Bäumen von der anderen Straßenseite stammen, da hier die einzigen zwei Rotbuchen an der Einfahrt zu einem Gartengrundstück standen. Diese Blätter mussten schräg über die Straße zum Leichenfundort geweht worden sein. Somit konnten wir die Hauptwindrichtung festlegen und unsere Beprobungsstrategie entsprechend anpassen.
Folglich konzentrierten wir uns auf der Straßenseite des Leichenfundorts auf die ersten zwei Reihen Eichen, während wir auf der gegenüberliegenden Seite im Bereich des Gartengrundstücks viel weiter in die Tiefe gingen. So erhielten wir Proben von insgesamt 42 Eichen. Das Material brachten wir zur weiteren Analyse in die Kriminaltechnik des BKA nach Wiesbaden. Dort untersuchten zwei Mitarbeiterinnen unabhängig voneinander je zwei verschiedene Blätter eines jeden Baums. Auch von der Spur mit der Nummer 102 nahmen wir zwei Proben und ließen sie getrennt analysieren, um so die Untersuchungsergebnisse abzusichern.
Die sehr zeit- und personalaufwändige Analyse von Spuren- und Vergleichsmaterial hat sich gelohnt, denn wir erhielten tatsächlich einen Treffer: Die DNA-Merkmale von Spur 102 waren identisch mit denen einer Stieleiche, die genau neben dem Fundort der getöteten Frau stand.
Nun stellte sich noch die Frage, wie aussagekräftig dieser Treffer war. Hierzu galt es herauszubekommen, wie oft die gefundene Merkmalskombination in einer Population aus Stieleichen auftreten kann. Deshalb analysierten wir eine Stichprobe der Eichen, die Birgit Ziegenhagen und ihr Team für die oben genannte Populationsstudie verwendet hatten, nochmals in unserem Labor, so dass wir die DNA-Muster mit unseren Falldaten vergleichen konnten. Wie unsere Auswertung von vier Merkmalssystemen ergab, tritt eine bestimmte Merkmalskombination nur einmal unter etwa 2,4 Millionen Stieleichen auf.
Eine bestimmte Merkmalskombination tritt nur einmal unter 2,4 Millionen Stieleichen auf
Diesen Befund teilten wir im Juni 2005 als Behördengutachten dem Landgericht Wuppertal mit. Die von uns mit Spannung erwartete Urteilsverkündung erfolgte am 1. März 2006. Der Angeklagte wurde wegen Totschlags in Tateinheit mit Schwangerschaftsabbruch zu acht Jahren Haft verurteilt. Die nachfolgende Revision verwarf der Bundesgerichtshof im November 2006; das Urteil war damit rechtskräftig.
Wo war der Tatort?
In den folgenden Jahren erhielten wir weitere Anfragen zu Fällen, in denen Eichenblätter eine Rolle spielten. Einen besonders spektakulären Fall aus dem Jahr 2017 präsentierten uns Kollegen des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. Im Mai des Jahres war an der Oberfläche eines Angelsees bei Erbach an der Donau eine in Kunststofffolie eingewickelte und mit einem Betonblock beschwerte Leiche aufgetrieben. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den 19-jährigen Xhoi M. aus Steinfurt in Nordrhein-Westfalen. Weitere Ermittlungen ergaben, dass das Opfer offensichtlich vier Wochen vorher für ein Rauschgiftgeschäft nach Baden-Württemberg gelockt und dort durch mehrere Hammerschläge auf den Hinterkopf getötet worden war.
In der Verpackung der Leiche stellten die Ermittler Pflanzenteile sicher, welche die Kollegen des Landeskriminalamts Baden-Württemberg als Blätter von Hasel, Hainbuche, Spitzahorn, Eiche und Buche sowie als Früchte der Hainbuche bestimmten. Im Juli 2017 übersandte die Polizei sieben Eichenblattfragmente zusammen mit frischen Blättern von sieben möglichen Eichen vom Leichenfundort an die Kriminaltechnik des BKA. Unsere Aufgabe war herauszufinden, wo das Opfer in die Folie gehüllt worden war. Mit anderen Worten: Wo war der Tatort? Wie unsere Analyse von sechs der sieben Eichenblättern aus der Leichenverpackung ergab, stammten alle von einem einzigen Baum. Dabei handelte es sich aber um keinen der sieben Bäume am Leichenfundort.
Daraufhin startete die Polizei eine aufwändige Suche nach einer bestimmten Eiche, die neben solchen anderen Pflanzen stand, deren Blätter und Früchte ebenfalls in der Folie gefunden wurden – keine leichte Aufgabe in dem großen Gebiet mit etwa 50 Seen. Mit einem Bodentrupp sowie mit Hilfe eines Hubschraubers konzentrierten sich die Fahnder schließlich auf sechs weitere Gehölzbestände mit einzelnen Eichen.
Mit Hilfe der etablierten DNA-Marker erzielten wir für einen Baum einen Treffer mit den Eichenblättern aus der Leichenverpackung. Alle anderen Eichen konnten wir ausschließen. Wir hatten also den Verpackungsort der Leiche lokalisiert. Die Experten der Spurensicherung untersuchten daraufhin den nun identifizierten Tatort genau und entdeckten Glieder eines Uhrenarmbands. Aus dem See daneben konnten Polizeitaucher das Tatwerkzeug sowie weitere fallrelevante Gegenstände wie die Reste des Verpackungsmaterials und die Uhr des Opfers mit dem beschädigten Armband bergen.
Mit Hilfe dieser Spuren gelang es der Kriminalpolizei, eine schier unglaubliche Tat aufzuklären: Xhoi M. wurde ermordet, weil ein Onkel von ihm in Albanien im Jahr 2000 – damals war Xhoi gerade drei Jahre alt – einen anderen Menschen erschossen hatte. Dessen Verwandte hatten »Blutrache« geschworen, woraufhin Xhois Familie nach Deutschland geflohen war. Doch hier spürten die Mörder ihr Opfer auf, erschlugen es mit einem Hammer und versenkten die Leiche. Während ein Tatverdächtiger fliehen konnte, wurde ein anderer am 3. April 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Pflanzliche Hinweise schlummern in den Akten
Die geschilderten Fälle zeigen eindrücklich die Bedeutung, die genetische Untersuchungen von Pflanzenmaterial in Strafverfahren haben können. Gerade Pflanzen, die naturgemäß stationär sind, können den entscheidenden Hinweis auf einen Ereignisort oder sogar die Anwesenheit des Täters dort geben. Doch bislang haben sich nur wenige Fachleute mit der forensischen Analyse von Pflanzen beschäftigt. So beschrieb 2007 die US-amerikanische Arbeitsgruppe von Mary Ashley von der University of Illinois in Chicago einen Mordfall, bei dem die DNA-Profile von Eichenblättern aus dem Auto eines Tatverdächtigen nicht mit denen der Bäume vom Tatort übereinstimmten.
Vermutlich schlummert in einigen ungelösten Fällen noch geeignetes Pflanzenmaterial in den Akten. Entscheidend ist, dass die Ermittlungsdienststellen der Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaften das Potenzial dieser Untersuchungsmöglichkeiten auch erkennen.
Die Erprobung und Validierung neuartiger Verfahren in der Kriminaltechnik haben sich als sehr zeit- und personalintensiv herausgestellt. Diese Zeit muss neben der regulären Fallarbeit zur Verfügung stehen. Ist ein solches Verfahren erst einmal etabliert, bleibt der Aufwand nachfolgender Untersuchungen überschaubar. Das von uns am BKA entwickelte Verfahren zur DNA-Analyse von Eichen stellten wir den Kolleginnen und Kollegen der kriminaltechnischen Institute der Bundesländer sowie auch international dem Europäischen Netzwerk der Forensischen Institute (ENFSI) zur Verfügung. Wir wollen damit erreichen, dass sich die Expertise zur Auswertung relevanter Pflanzenarten auf viele Institute verteilt. Dabei setzen wir auf die Zusammenarbeit und den regelmäßigen Austausch mit den forstgenetischen Einrichtungen von Bund und Ländern sowie den biologischen Fakultäten der Hochschulen.
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