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Nahrungskette: Fraß ein Greifvogel ein Neandertalerkind?

Neandertalerknochen aus Polen legen nahe, dass sie von einem Vogel verdaut wurden. Doch war das verspeiste Kind tatsächlich eine lebende Beute?
Bartgeier trägt Knochen davon

Vor etwa 115 000 Jahren fraß ein Vogel Knochen und schied sie wieder aus: Anita Szczepanek von der Jagiellonen-Universität in Krakau und Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis und Kollegen schreiben diese heute einem Neandertaler zu. Nach ihren Untersuchungen – die wegen des schlechten Zustands der Überreste keine DNA-Analyse umfasste – handelte es sich bei dem vermeintlichen Opfer um ein fünf bis sieben Jahre altes Kind, so die Wissenschaftler, die ihre Studie im »Journal of Paleolithic Archaeology« veröffentlichen wollen und sie vorab in einer Mitteilung bekannt gaben. Für die Darmpassage sprechen ihrer Meinung nach die zahlreichen Löcher in den porösen Fingerknochen, die wohl von der Magensäure eines Vogels verursacht wurden. Die Knöchelchen tauchten bei Ausgrabungsarbeiten in einer Sedimentschicht der Ciemna-Höhle auf, in der sich auch Steinwerkzeuge von Neandertalern fanden – weshalb die Forscher die Knochen unserem Verwandten zuordnen.

Die Fingerknochen wurden schon vor wenigen Jahren entdeckt, aber bislang für Tierknochen gehalten, die sich ebenfalls im Umfeld befanden. Erst eine neue Studie durch Szczepanek und Co enthüllte ihre wahre Identität. Die Wissenschaftler liefern allerdings keinen Hinweis darauf, welcher Vogel das Kind gefressen haben könnte – und ob dieser seine Beute erlegt hatte oder ein totes Opfer vorfand. Nur sehr wenige Greifvögel wären in der Lage, einen lebenden Menschen (auch im Kindesalter) zu erlegen; in Europa kämen allenfalls See- oder Steinadler in Frage: Sie können Beute bis zur Größe einer jungen Gämse oder eines Rehs packen. Bislang kennt man keinen Fall, bei dem eine der beiden Arten tatsächlich einen Menschen (oder Neandertaler) geschlagen und getötet hat. Der ausgestorbene Haast-Adler aus Neuseeland hat dagegen womöglich Maori-Kinder erbeutet: Er war ausreichend groß und kräftig, jedoch fehlen auch in diesem Fall ausreichende Belege. Zudem sind derart große Adler selbst aus dem eiszeitlichen Europa bisher nicht bekannt.

Plausibler scheint dagegen, dass ein toter Neandertaler von Aasfressern verwertet wurde: Geierarten waren früher in Europa weit verbreitet, und Bartgeier etwa sind darauf spezialisiert, Knochen zu fressen. Da sie in Felsnischen nisten, könnten sie also die Überreste in die Höhle eingetragen haben. Laut Szczepanek und Co war die Ciemna-Höhle womöglich nicht dauerhaft bewohnt, so dass sie als Brutplatz für Geier in Frage kam. Ob diese Spekulation hält, müssen wohl erst weitere Studien zeigen. Es wäre der erste Fall aus der Eiszeit, den man damit belegt hätte.

Knochen eines Neandertalerkindes | Die poröse Struktur soll Verdauung durch einen Vogel belegen.

Sicher scheint dagegen, dass die Paläoanthropologen die bislang ältesten Überreste von Neandertalern in Polen gefunden haben. Zuvor galt dies für drei Neandertalerzähne aus der Stajnia-Höhle, die maximal 52 000 Jahre alt sind. Außerdem wurden zuvor bei Grabungen am Fluss Weichsel Steinwerkzeuge entdeckt. Alle bisherigen Nachweise stammen aus dem Süden des Landes, wo die Lebensbedingungen für Neandertaler ausreichend gut waren; der Norden dagegen war während der Eiszeiten von Gletschern bedeckt.

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