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Frequenzstabilität: Wenn das Stromnetz aus dem Takt gerät

Normalerweise schwingt das europäische Stromnetz gleichmäßig mit 50 Hertz. Doch kurz vor dem Stromausfall in Spanien im April 2025 kam es zu Abweichungen. Besteht ein Zusammenhang?
Ein Strommast vor einem Sonnenuntergang, überlagert mit Finanzdiagrammen und Aktienkursen. Die Linien und Balken der Diagramme sind in verschiedenen Farben wie Rot, Grün und Blau dargestellt, was auf Marktbewegungen hinweist. Im Hintergrund sind die Silhouetten von Stromleitungen zu sehen, die den Zusammenhang zwischen Energie und Wirtschaft symbolisieren.
Das Stromnetz ist wie ein weit verteiltes Orchester, das dieselbe Musik im gleichen Takt spielt. Doch das Konzert der Elektronen kann auch abbrechen, wenn sein unsichtbarer Dirigent versagt.

Was hat Spanien und Portugal am 28. April 2025 zehn Stunden lang lahmgelegt? Ein Blackout – so viel steht fest. Ihm voraus ging eine ganze Kaskade von Ausfällen im Stromnetz, die offenbar in einem Umspannwerk in Granada ihren Anfang nahm. Das teilte die spanische Umweltministerin Sara Aagesen am 14. Mai mit. Nachdem die Leistung des Umspannwerks weggebrochen war, folgten Ausfälle in Bajadoz und Sevilla, bevor schließlich weitere große Teile des Netzes kollabierten. Aber was genau war die Ursache? Bekannt ist bislang so viel: Das spanische und in der Folge das gesamte europäische Stromnetz kam um kurz nach 12 Uhr aus dem Takt und wich kurzzeitig von seiner normalen Frequenz von 50 Schwingungen pro Sekunde ab. Wenige Minuten später ging es los: In schneller Folge fuhren große und kleine spanische Kraftwerke herunter und lösten sich vom Stromnetz. Die Verbindung ins Nachbarland Frankreich und damit zum Rest Europas riss ebenfalls automatisch ab. Die Iberische Halbinsel wurde zur »Strominsel«, bevor es dann zum großflächigen Blackout in den beiden Ländern kam.

Etliche Falschmeldungen und Spekulationen zur Ursache machen seither die Runde. Es sei der »erste große Blackout im Zeitalter von ChatGPT«, sagt Eamonn Lannoye, der Geschäftsführer Europa des Electric Power Research Institute. Er mahnt zur Geduld: »Jeder Ausfall dieser Art hat seine eigene, sehr spezifische Abfolge von Ereignissen. Die muss man jetzt erst ermitteln.« Und das könne dauern, ergänzt der Energieforscher Leonhard Probst vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in Freiburg: »Beim letzten vergleichbaren Ereignis in Spanien 2016 lag ein ausführlicher Bericht zu den Ursachen erst sechs Monate danach vor.«

Die naheliegendsten Ursachen für einen Blackout können ausgeschlossen werden. Weder haben die spanischen Kraftwerke zu wenig Strom produziert noch sind große Leitungsmasten reihenweise umgeknickt. Ein Cyberangriff wird zum aktuellen Zeitpunkt ebenfalls ausgeschlossen. Experten aus ganz Europa schauen nun sehr genau hin, denn das Ergebnis ist auch für ihre Netze bedeutsam. Nicht einzelne Kraftwerke oder Leitungen standen am Anfang des Kollapses, sondern das gesamte System: das komplexe Geflecht aus Schaltzentralen, Apparaturen, Notfallschaltern und physikalischen Kräften, die der Stromversorgung überhaupt erst ihre Widerstandsfähigkeit geben. Es geht um Systemstabilität – und um alles, was sie stärkt. In der energiepolitischen Diskussion hat das Thema bislang wenig Aufmerksamkeit bekommen. Da ging es um Solarmodule, Hochspannungsleitungen und Batteriespeicher. Bald könnten aber auch »rotierende Phasenschieber« und »netzbildende Stromrichter« Einzug ins Vokabular vieler Menschen halten. Und Systemstabilität dürfte nach dem Blackout in Spanien zum neuen Schlüsselbegriff der Energiewende aufsteigen.

Dem Netz kommen die Schwungmassen abhanden

Die Netzstabilität lässt sich verstehen als eine Art Nervensystem der »größten Maschine der Welt«, wie Energieforscher das europäische Verbundnetz mit seinen zehntausenden Stromquellen und Millionen Kilometern Leitungen beschreiben. Dieses Nervensystem sorgt fortlaufend dafür, dass genau so viel Elektrizität in den Leitungen fließt, wie verbraucht wird. Es lässt den Strom exakt 50-mal in der Sekunde harmonisch schwingen, während er sich wellenförmig mit einer festgelegten Spannung im Netz ausbreitet.

Störungen gleicht dieses Nervensystem idealerweise in Bruchteilen von Sekunden aus. Oft reagiert das System dabei reflexartig, wenn die Netzfrequenz vom Sollwert 50 Hertz abweicht und die Spannung nach oben oder unten schießt. So reguliert es sich selbst. Teils liegen den Schutzmechanismen festgelegte Regeln zu Grunde, teils greifen Menschen mit bewussten Entscheidungen ins Geschehen ein.

Ein weiteres Bild, um die Vorgänge im Netz zu beschreiben, nutzt Simon Gallagher von UK Networks Services. Wie ein weit verteiltes Orchester sei das Netz, sagt der britische Energieexperte. Es spiele dieselbe Musik im gleichen Takt. Doch das Konzert der Elektronen kann auch abbrechen, wenn sein unsichtbarer Dirigent versagt. Möglichkeiten dafür gibt es viele: Ein Notfallschalter, der ausfällt oder überempfindlich regiert; eine Schaltzentrale, die falsche Entscheidungen trifft; zwei oder mehrere Großkraftwerke oder leistungsstarke Transformatoren, die gleichzeitig ausfallen und damit die Schutzmechanismen überfordern; das Fehlen von Puffern, wenn sich die Netzfrequenz gefährlich über und unter den Sollwert von 50 Hertz hochschraubt oder an den weit entfernten geografischen Enden des Verbundnetzes stark auseinanderklafft.

Für die vier großen Betreiber der deutschen Übertragungsnetze – die Firmen Tennet, Amprion, 50 Hertz und TransnetBW – ist das Thema nicht neu. Schon 2014 wiesen sie in einem Report auf eine der größten Herausforderungen für die Netzstabilität der Zukunft hin: den Wegfall so genannter »Schwungmasse« durch den Ausbau erneuerbarer Energien. Dieser könne die Frequenzstabilität gefährden, hieß es darin. 2023 legten die Betreiber erstmals auf Geheiß der Bundesregierung einen Systemstabilitätsbericht vor, der nun alle zwei Jahre fällig ist. Darin werden alle Risiken aufgeführt und Lösungswege beschrieben. Die neueste Version für 2025 ist bereits fertig, aber noch nicht publiziert. Sie liegt der zuständigen Bundesnetzagentur zur Prüfung vor.

Betreiber warnten vor instabilen Netzen

Einer der Schwerpunkte des Berichts wird die so genannte Momentanreserve sein. Sie steht bei der Ursachensuche in Spanien mit im Fokus. Traditionell beruhte das Konzert der Elektronen darauf, dass Generatoren, wie sie etwa für Kohle- und Gaskraftwerke typisch sind, Strom mit exakt 3000 Umdrehungen pro Minute erzeugen und ihn dann synchron zur gewünschten Frequenz von 50 Hertz einspeisen. Die Schaufeln von Turbinen und die rotierenden Teile von Generatoren mit ihren schweren, schwingenden Metallteilen wirken unter anderem gegen gefährliche Ausschläge der Frequenz nach oben und unten, sagt der Energieökonom Leon Hirth von der Hertie School of Governance. Das liegt an ihrer Trägheit, also daran, dass sie nicht von einem Sekundenbruchteil auf den anderen anhalten können, sondern dafür etwas Zeit brauchen. Der Stoßdämpfer-Effekt hilft dabei, dass sich das Netz binnen kürzester Zeit wieder auf den Sollwert 50 Hertz einpendeln kann.

Doch bei Solarmodulen, die einen immer größeren Teil zum Strommix beitragen, bewegt sich nichts. Dazu kommt: Wenn sie sich automatisch abschalten, geschieht dies ohne Verzögerung – praktisch sofort. »Auf Grund der Energiewende werden zunehmend konventionelle Großkraftwerke durch viele kleine dezentrale Energieanlagen ersetzt«, erklärt Veit Hagenmeyer vom Karlsruher Institut für Technologie in einer Stellungnahme für das Science Media Center (SMC). Deren Wechselrichter besäßen keine klassische rotierende Masse und lieferten damit »oft weniger natürliche Trägheit und systemseitige Dämpfung«.

Die deutschen Netzbetreiber warnen im »Systemstabilitätsbericht 2023« in deutlichen Worten vor dem Risiko: »Bisherige Untersuchungen zeigen, dass es unter den heutigen netztechnischen Randbedingungen nicht möglich sein wird, das Verbundsystem für alle möglichen Netzauftrennungsszenarien vor einem Blackout zu bewahren.«

Das Netz schaukelte sich auf

Die fehlende Momentanreserve kommt damit durchaus als Auslöser des Blackouts in Frage. Es passt jedenfalls zu dem, was Netzforscher am 28. April 2025 ganz zu Beginn der katastrophalen Kaskade beobachteten: Die Generatoren, die ins europäische Verbundnetz einspeisen, glichen ihren Einfluss auf die Netzfrequenz für eine kurze Zeit nicht wie üblich gegenseitig harmonisch aus. Vielmehr schaukelte sich ein geografisches Ende des Netzes gegen das andere hoch: Baltikum gegen Spanien. Während die Generatoren in der einen Region beschleunigt hätten und dabei ihre Drehzahl und die lokale Netzfrequenz erhöhten, bremsten die Generatoren in der anderen Region ab und reduzierten dabei ihre Drehzahl und lokale Netzfrequenz, sagte Albert Moser von der RWTH Aachen dem SMC. Dadurch entstehe »ein Auf und Ab der Netzfrequenz und damit verknüpft ein Auf und Ab der Stromflüsse«.

Die »Netzpendelungen« können auch ganz andere Ursachen haben als einen hohen Solaranteil

Es ist allerdings derzeit nicht bewiesen, dass diese so genannten »inter-area oscillations« den Blackout in Spanien verursacht oder auch nur begünstigt hätten. Die »Netzpendelungen« können auch ganz andere Ursachen haben als einen hohen Solaranteil. Dass zum Zeitpunkt des Ereignisses in Spanien die Fotovoltaik einen Anteil von 60 Prozent an der Stromerzeugung hatte, lässt Energieforscher Probst vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme jedenfalls nicht als Beweis oder gar als Argument gegen die Energiewende gelten: »Fotovoltaik zu verurteilen ist nicht gerechtfertigt«, sagt er.In Deutschland hätten Solarmodule am 1. Mai erstmals die komplette Stromversorgung gedeckt – »ohne Probleme«. Und bei der vergleichbaren Störung der Netzfrequenz 2016 in Spanien sei die Schwungmasse »riesig« gewesen, ohne dass dies das Netz stabilisiert hätte.

Stillgelegte Kohle- und Gaskraftwerke könnten helfen

Ein Faktor könnte jedoch sein, dass die spanische Verbindung ins restliche europäische Stromnetz relativ klein ist, wodurch auf der Iberischen Halbinsel gefährliche Effekte schneller eskalieren können. Mangelnde Schwungmasse ist in jedem Fall ein neuralgischer Punkt des Strom-Nervensystems: »Sollten auf Grund von Netzpendelungen zulässige Werte von Frequenzen oder Strömen verletzt werden, kann das zu Schutzabschaltungen von Anlagen beziehungsweise Leitungen führen«, urteilt Moser.

Schutzschalter können auch aus anderen Gründen überreagieren – oder versagen. Zu den Verdächtigen in Spanien zählen die so genannten RoCoF-Detektoren, die darauf reagieren, wie schnell die Netzfrequenz abfällt. Sind Detektoren zu empfindlich eingestellt, könnte dies Kaskaden wie die beobachtete in Gang setzen oder zumindest verstärken.

Für die Politik, Medien und die Öffentlichkeit ist natürlich aufregender, über Atomkraft versus Windenergie zu debattieren, als sich mit Schwungmassen und Notschaltern zu beschäftigen. Doch das ändert sich. Die Ampelkoalition hat 2023 die erste »Roadmap Systemstabilität« vorgelegt. Als Ziel gab sie darin aus, dass bis 2030 wesentliche Risiken behoben sind. Die neue Bundesregierung wird diesen Kurs mindestens fortsetzen, eventuell sogar beschleunigen.

Neue Stromrichter an Fotovoltaikanlagen könnten das Verhalten von Synchrongeneratoren simulieren

Die gute Nachricht vor allem für die Befürworter einer schnellen Energiewende ist, dass es ein ganzes Spektrum möglicher Lösungen gibt. Dazu gehört, die stillgelegten Kohle- oder Gaskraftwerke so umzurüsten, dass ihre schwingenden Massen weiter ins Stromnetz eingebunden sind – angetrieben nicht mit fossilen Brennstoffen, sondern eben mit Elektrizität.

Rotierende Phasenschieber stabilisieren das Netz

»Der Umbau von alten Kraftwerken ist nur eine Möglichkeit von mehreren«, sagt Mathias Fischer, Sprecher des Übertragungsnetzbetreibers Tennet. Der Bedarf an Momentanreserve lasse sich durch »eigene Assets, technische Anforderungen an Anschlussnehmer und marktliche Beschaffung« regeln. Das bedeutet zum Beispiel, Fotovoltaikanlagen mit einer neuen Generation von Stromrichtern so nachzurüsten, dass sie mittels Messtechnik und digitaler Steuerung das Verhalten traditioneller Synchrongeneratoren simulieren. Man spricht dann von »virtueller Schwungmasse«.

Man kann Firmen auch dafür bezahlen, spezielle Anlagen mit realer metallischer Schwungmasse zu betreiben, deren alleinige Aufgabe es ist, das Netz zu stabilisieren. Die Bundesregierung schafft gerade einen Markt dafür. ABB hat das Potenzial bereits erkannt. Unter anderem auf den Färöer-Inseln, den Kanarischen Inseln und in England hat der Konzern so genannte »rotierende Phasenschieber« errichtet. Neu ist die Technologie nicht. »Die Anlagen waren bis in die 1950er Jahre im Stromsystem selbstverständlich, bevor sie wegrationalisiert wurden«, sagt Christian Payerl von ABB. Nun erleben sie wegen der Energiewende eine Renaissance. In Schweden arbeiten rund 450 Mitarbeiter des Konzerns jährlich an fünf bis zehn Projekten für rotierende Phasenschieber mit Synchronmaschinen, Tendenz steigend.

Rotierende Phasenschieber reagieren in Millisekunden, wenn es kritische Veränderungen gibt

Die Spezialanlagen liefern mehrere Services für das Stromnetz: »Rotierende Phasenschieber helfen dabei, Frequenz und Spannung im Stromnetz zu stabilisieren und direkt auf Störungen wie etwa Kurzschlüsse zu reagieren«, sagt Payerl. Die Anlagen könnten auch Oszillationen im Netz dämpfen. »Diese Maschinen sind wie eine Versicherung, sie laufen ständig mit und reagieren in Millisekunden, wenn es kritische Veränderungen gibt, ohne dass noch ein Mensch eingreifen muss.«

Die Färöer-Inseln machen Payerl zufolge vor, wie man eine vollständige Versorgung mit erneuerbaren Energien ohne Risiken für die Netzstabilität leisten kann: »Wir integrieren dort mittlerweile vier Phasenschieber ins System, die jeweils zusammen mit einer Batterie der Versorgung mit erneuerbaren Energien echte Stabilität geben.« Für England, sagt Payerl, würden theoretisch 200 der Anlagen ausreichen, um die gesamte bisherige Schwungmasse im Stromsystem zu ersetzen.

Längst sind auch andere Energiekonzerne in dem Sektor tätig. Lösungen gibt es also. An der Frage der Netzstabilität muss der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht scheitern – sofern die nötigen Investitionen erfolgen.

Am 14. Mai, also nach Erscheinen dieses Artikels, gab die spanische Umweltministerin bekannt, dass Ausfälle in den Umspannwerken in Granada, Bajadoz und Sevilla dem Blackout vorangingen. Wir haben den Text daraufhin aktualisiert.

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