Direkt zum Inhalt

Wahrnehmung: Frühes Schubladendenken

Bankleitzahlen, Telefonnummern, Sicherheitskodes - die meisten Menschen merken sich solche Zahlenkolonnen, indem sie die Ziffernfolgen in kleine Gruppen unterteilen. So können sie umfangreichere Informationen behalten, als ihr Arbeitsgedächtnis eigentlich verkraften kann. Dass es sich dabei nicht um eine ausgeklügeltes Erwachsenenstrategie handelt, demonstrieren Kleinkinder von 14 Monaten.
Sieben Dinge kann sich der Mensch merken, postulierte 1956 George Miller, und wir haben es ihm lange Jahre geglaubt. Erst Forschungsarbeiten der jüngeren Zeit offenbarten, dass die magische Zahl doch überschätzt wurde – weil der Mensch einen schlauen Trick anwendet: Er speichert nicht etwa sieben unabhängige Informationen, sondern steckt sie in verschiedene Gruppen. Mit diesem hierarchischen Konzept gelingt es ihm, sein Arbeitsgedächtnis zu überlisten. Denn eigentlich ist dort bei drei bis vier Objekten Schluss, wie Experimente zeigten, in denen Wissenschaftler diese Blockbildung gezielt verhinderten.

Dazu passt auch, dass Kleinkinder bei mehr als drei Objekten normalerweise den Überblick verlieren: Versteckt man die Dinge anschließend, suchen die Kleinen bei drei Angeboten so lange weiter, bis sie wieder alle beieinander haben. Bei vier oder mehr auch noch so begehrten Spielzeugen hingegen haben sie offenbar vergessen, wie viele sie womöglich noch nicht wiedergefunden haben – sie hören einfach auf zu suchen. Und das liegt nicht, so betonen viele Wissenschaftler, an einer zu kurzen Aufmerksamkeitsspanne, denn die Aktion nimmt nur Sekunden in Beschlag.

Hilfreiches Schubladendenken schien demnach eine Sache der Großen – oder zumindest etwas aus Erfahrung Gelerntes, denn auch Fünfjährige können das Konzept anwenden, wenn sie vorher gründlich instruiert werden. Doch wieder einmal werden die ganz Kleinen hier unterschätzt, stellten Lisa Feigenson und Justin Halberda von der Johns Hopkins University fest: Auch 14 Monate alte Kinder sind bereits durchaus zu Gruppierungsleistungen fähig. Und das ohne vorherige Lerneinheit.

Was Hans gelernt, ...

Die Wissenschaftler hatten den Kleinen zunächst vier Objekte angeboten, die sie anschließend komplett oder nur zwei davon in einer Kiste versteckten. Waren alle identisch, zeigten die Kinder das gewohnte Bild: Sie erinnerten sich offenbar nicht daran, wie viele sie zuvor gesehen hatten – entdeckten sie nur zwei Exemplare in der Kiste, schienen sie nichts zu vermissen. Handelte es sich aber um Gruppen von jeweils zwei übereinstimmenden Kategorien – beispielsweise zwei Katzen und zwei Autos –, und die Jungprobanden fanden nun von jedem Typ nur jeweils ein Exemplar wieder, gaben sie sich nicht sofort zufrieden.

Dabei konnten sie durchaus abstrahieren: Handelte es sich um zwei Katzen, aber in verschiedenen Ausführungen, klappte das Gruppieren trotzdem. Nur wenn es sich um Dinge handelte, die sie zuvor nicht kannten, kamen sie etwas in die Bredouille – hier half es ihnen, wenn die beiden Vertreter der ungewohnten Gestalten zuvor jeweils nebeneinander gestanden hatten.

Das Einordnen in Gruppen funktionierte sogar, wenn die Wissenschaftler vier identische Bälle verwendeten und jeweils zwei von ihnen schlicht mit irgendwelchen erfundenen Begriffen benannten. Es reichte allerdings nicht aus, wenn sie jeweils zwei mit "Schau mal hier" beziehungsweise "Schau mal da" untermalten.

... kann Hänschen längst

Selbst räumliche Informationen wissen die Kleinen zu nutzen: Boten ihnen die Forscher sechs Bälle in drei Zweiergruppen an, die anschließend alle versteckt wurden, suchten die Kinder weiter, solange sie nicht alle wieder beisammen hatten. Lagen die sechs Objekte aber einfach nebeneinander, versagte das junge Arbeitsgedächtnis.

"Kinder sind offenbar in der Lage, ohne vorheriges Üben und wahrscheinlich sogar unbewusst mehrere Informationsquellen zu nutzen. Dazu gehört auch Kategoriendenken, mit dem die Kleinen die Zahl der Dinge erweitern, die sie sich merken können", erklären die Forscher. An sich kein so überraschender Befund, denn das Umgekehrte ist von Kleinkindern schon lange bekannt: Bei zusammen gruppierten Objekten dividieren sie das Gesehene in Gedanken in die jeweiligen Einzelteile, die sie dann auch nachfragen, wenn ihnen nur noch ein Ausschnitt des vorherigen Ganzen präsentiert wird.

Das Umstrukturieren des Arbeitsgedächtnisses, um große Informationsmengen bei begrenzter Kapazität erfassen und behalten zu können, ist also keineswegs nur eine Fähigkeit der Großen – die Kleinen stehen uns mal wieder in nichts nach. Nur sind wir Erwachsenen wohl besser in der Lage, diese Eigenschaft gezielt zu verfeinern und anzuwenden.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen
Feigenson, L., Halberda, J.: Conceptual knowledge increases infants' memory capacity. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 10.1073/pnas.0709884105, 2008.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.