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Europawahlen: Fünf Fragen zu Sinn und Unsinn von Wahlkampf

Kaum sachliche Debatten und immer dieselben Phrasen: So klingt Wahlkampf. Müsste er aber nicht. Ein Dutzend neue Erkenntnisse zum Stimmenfang und wie er gelingt oder scheitert.
Ein dröhnendes Megafon im Comicstil

1. Lohnt sich das ganze Spektakel?

Auf allen Kanälen buhlen Politiker um Aufmerksamkeit, Redezeit und Deutungsgewalt. Die Medienpräsenz zahlt sich tatsächlich aus, berichten Politologen von der Universität Oslo – sofern es in der Berichterstattung um politisch relevante Themen geht. Die übrigen Erwähnungen werden ignoriert oder schlagen sogar negativ zu Buche. Die Studie erfasste neben Hunderttausenden von Artikeln in der norwegischen Presse auch andere mögliche Einflussgrößen wie vorangehende Wahlergebnisse. Presseberichte trugen jedoch davon unabhängig zum Wahlerfolg bei. Große Medienereignisse könnten dabei den Ausschlag geben. Eine Studie zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum von 2014 schloss aus dem Verlauf der Wahlprognosen, dass das zweite TV-Duell das einflussreichste Ereignis im Wahlkampf war.

Werbung und Öffentlichkeitsarbeit sind natürlich teuer. Zahlen vermehrte Investitionen also auf das Stimmenkonto ein? Bei den Europawahlen von 2009 spielten die Wahlkampfausgaben von rund 1000 befragten Kandidaten aus 27 EU-Mitgliedstaaten nur eine kleine Rolle. Zwar hatte die Hälfte der Wahlsieger je mindestens 25 000 Euro in die Kampagne gesteckt, mehr als das Zehnfache dessen, was die Verlierer aufgebracht hatten. Bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen erwies sich der Effekt hingegen als gering. Wenn überhaupt, dann lohnten sich höhere Ausgaben eher für die Herausforderer als für die Amtsinhaber.

2. Was bringen Eiertanz und Phrasendrescherei?

Zu einigen Fragen möchten sich Politiker lieber nicht festlegen. Doch rhetorische Ausweichmanöver bringen nicht viel, wie Experimente in den USA nahelegen. Ein Team um die Politikwissenschaftlerin Kerri Milita hatte Versuchspersonen unter anderem Statements zur Einkommenssteuer und zur Homoehe präsentiert. War eine Aussage schwer zu deuten, wurde einfach die vermutete Position der zugehörigen Partei herangezogen. Die Forschenden empfehlen: Wenn Politiker ein Thema unter den Teppich kehren wollen, sollten sie es besser gar nicht kommentieren. Alles andere würde zu Spekulationen führen.

Das Rezept für unverbindliche Parolen: konkrete Aussagen, verpackt in wachsweiche Wunschvorstellungen

Wer um ein Statement nicht herumkommt, sollte auf die richtige Formulierung achten. Wie man sich möglichst unverbindlich äußert, erkundeten Forschende der Universitäten Koblenz-Landau und Mannheim in einem Experiment mit mehr als 700 Versuchspersonen. Mit erstaunlichem Ergebnis: Nicht konkrete Ansagen, sondern abstrakt formulierte Ziele erwecken eher den Eindruck eines Versprechens. Eine reine Willenserklärung (»wir wollen«, »wir wünschen«) klingt außerdem weniger verpflichtend als eine Ankündigung im Futur 1 (»wir werden«). Das Rezept für unverbindliche Parolen: konkrete Aussagen, verpackt in wachsweiche Wunschvorstellungen.

Bisher war nur die Rede von Medienspektakeln und Rhetorik. Geht es nicht vielmehr um inhaltliche Positionen? Kommt drauf an, lautet das Fazit einer deutsch-französischen Studie zu den Europawahlen von 2014. Hatte eine Partei zu einem Thema wie Immigration, Umweltschutz oder Europa keine erkennbare Position, hing die Gunst der Wähler auch weniger davon ab, ob sie ähnlich dachten. Zustimmung oder Ablehnung waren umso bedeutsamer, je klarer und extremer sich eine Partei zu einem Thema positionierte. Viel taktischer Spielraum für die Parteien – wenn auch nicht für alle gleichermaßen: Der beschriebene Effekt war für Regierungsparteien rund 40 Prozent größer als für die Opposition.

3. Person oder Partei – wer spielt die erste Geige?

Parteien geben die Tonart vor, die Kandidaten machen die Musik. Jedenfalls wächst ihre Rolle mit fortlaufender Dauer des Wahlkampfs, vermerkte der Politologe Harald Schoen von der Universität Mannheim. Bei drei von sieben Bundestagswahlen zwischen 1980 und 2002 gewann die Präferenz für eine Person zunehmend an Gewicht für die Wahlentscheidung, während die Parteivorlieben bei keiner der Wahlen an Bedeutung zulegten. Parteien mit beliebten Köpfen hätten daher gute Gründe, die Wahl auf Personen zuzuspitzen. Besonders lohnt sich eine personalisierte Kampagne im Kampf um die Erststimmen, ergab eine Analyse der Bundestagswahl von 2009. Vor allem beim Stimmenfang unter parteiungebundenen Wahlberechtigten konnten die Direktkandidaten und -kandidatinnen auf diese Weise punkten.

Ob immer öfter die Spitzenkandidaten den Ausschlag geben, ist allerdings umstritten. Die Forschung widme sich zu sehr den Personen, finden Aiko Wagner und Bernhard Weßels vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Sie haben in den Zahlen zu den Bundestagswahlen 1998 bis 2009 erfolglos nach einem Trend zur Personalisierung gesucht. Das Urteil über die Parteien spielte eine größere Rolle als das über ihre führenden Köpfe, so die beiden Politologen. Noch mehr aber kam es darauf an, ob sie zusammenpassten: Parteien sollten deshalb nicht einfach auf die besten Namen setzen, sondern »die Richtigen« für ihre Partei finden.

4. Wann fällt der Hammer?

Viele Stimmen sind gewonnen oder verloren, bevor das erste Wahlplakat hängt. Die politischen Vorlieben verschieben sich ebenso sehr zwischen den Wahlkampfphasen wie während des Wahlkampfs, schließen der Mannheimer Politologe Harald Schoen und seine Kollegin Maria Preißinger aus Umfragezahlen der Jahre 2009 bis 2013. Die Wahlentscheidung reift bei den meisten Menschen offenbar in zwei Phasen heran. Zunächst engt sich das Feld auf einen kleinen Kreis von Optionen ein. An dieser Vorauswahl ändert sich im Verlauf eines Jahres in rund 80 Prozent der Fälle nichts mehr, stellten Forscher bei Umfragen in Schweden und den Niederlanden fest. Das bestätigte auch Schoen, diesmal gemeinsam mit Markus Steinbrecher vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Wie sie am Beispiel von Umfragen zu den Bundestagswahlen von 2013 zeigten, stammten 85 bis 95 Prozent der gewählten Parteien aus dem beständigen engeren Kreis von meist zwei Parteien.

Obwohl stabile ideologische Vorlieben die Vorauswahl beeinflussen, bleibt der Wahlausgang bis zum Schluss unsicher. Auch wenn in den Umfragen eine Partei klar vorne liegt, kann immer noch etwas Unvorhergesehenes passieren, warnte der Münchner Statistiker Helmut Küchenhoff vor der vergangenen Bundestagswahl im Interview mit »Spektrum.de«. »Ein beträchtlicher Teil der Wahlberechtigten entscheidet erst kurz vorher, für wen oder ob er überhaupt seine Stimme abgibt.«

5. Was macht das Wählen schwer?

Zwischen 1979 und 2009 sank die Beteiligung an den Europawahlen im europäischen Durchschnitt von 66 auf 46 Prozent und hier zu Lande sogar auf 43 Prozent. 2014 stockte der Abwärtstrend – gleichzeitig mit dem Aufkommen euroskeptischer Parteien. Vor diesem Hintergrund prüften Forscher der Universität Stuttgart, ob die Wahlbeteiligung die Stimmverteilung in Richtung des einen oder anderen politischen Lagers beeinflusst. Ihr unerwartetes Fazit: Bei den Europawahlen kommt eine höhere Wahlbeteiligung eher linken und ideologisch moderaten Parteien zugute.

Was hält Wahlberechtigte eigentlich vom Wählen ab, mal abgesehen von der auf den Parlamentsrängen verbreiteten Lobbyhörigkeit, den vielen Phrasen und uneingelösten Versprechen? Kanadische Politologen untersuchten anhand von 23 Wahlen in fünf Ländern die Rolle des subjektiven Aufwands: bei der Suche nach Informationen zu den wählbaren Alternativen sowie beim Weg an die Urne. Den allermeisten Befragten schien beides zwar nicht sonderlich schwierig, doch jene Minderheit, die es beschwerlich fand, blieb der Urne eher fern. Der subjektive Aufwand trug zur Stimmabgabe ähnlich viel bei wie das Interesse am Wahlausgang und ein starkes Pflichtgefühl.

Wenn es regnet, gehen tendenziell weniger Menschen zur Wahl. Am Brexit hätte aber auch das schönste Wetter nichts geändert

Im mittleren Lebensalter ist die Motivation, zur Wahl zu gehen, offenbar am größten. Bei den Europawahlen steigt die Wahlbeteiligung bis zum Alter von 52 Jahren, dann fällt sie wieder, berichten Politikwissenschaftler von der Universität Kopenhagen. Beim Vergleich von drei Jahrzehnten Europawahlen entdeckten sie außerdem Unterschiede zwischen den Generationen: Jene vor den Babyboomern (1945-1959) gingen eher an die Urne als später geborene Generationen gleichen Alters. Weil die älteren Generationen langsam aussterben, schwinde deren Anteil an der Wählerschaft, und so werde auch die europaweite Wahlbeteiligung, besonders zwischen 2020 und 2040, weiter sinken.

Der Klimawandel könnte mancherorts dagegenhalten. Nicht nur liefern lange Dürreperioden einen guten Grund, die Arbeit des EU-Parlaments für wichtig zu halten. Wenn es weniger regnet, gehen tendenziell auch mehr Menschen zur Wahl. Am Brexit allerdings trugen die Niederschläge am Tag des britischen EU-Referendums 2016 keine Mitschuld, wie zwei Sozialforscher aus England und Australien berechneten. Auch ohne einen Tropfen Regen hätte sich die Mehrheit gegen Europa entschieden.

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