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Fukushima-Katastrophe: Bohrung zum Ursprung der Mega-Tsunamis

Es ist das tiefste Loch, das jemals in den Meeresboden gebohrt wurde. In acht Kilometer Tiefe wollen Fachleute die Rätsel des Fukushima-Tsunamis lösen: Warum war er so groß? Und: Wann kommt der nächste?
Blick in den Bohrschacht des Bohrschiffes Chikyu mit Bohrer, der zur Wasseroberfläche hinabgelassen wird.
200 Kilometer vor der japanischen Küste bohrte das Forschungsschiff »Chikyu« bis in eine Tiefe von 7877,5 Meter unter null in die Subduktionszone, die den schweren Tsunami von 2011 auslöste.

Derya Gürer sitzt zwischen Regalen aus Metall, in denen Ersatzkleidung und Helme lagern. »Das hier ist die einzige ruhige Kabine«, sagt die Geologin und muss lachen, als sie durch ihre Laptop-Kamera erklärt: »Oben, an Deck, ist viel los. Da wird immer über die neuen Proben diskutiert, die gerade an Bord gekommen sind.« Jeder größere Raum werde als Labor genutzt, so dass ihr für Interviews nur diese schwach beleuchtete Abstellkammer bleibe. »So ist das nun mal auf dem Schiff.« Immerhin: Die Internetverbindung ist stabil.

An normaleren Tagen sitzt Derya Gürer in einem ruhigen Büro mit Fenster in Heidelberg, wo sie als Professorin am Institut für Geowissenschaften im Bereich der Tektonik forscht. Doch seit einigen Wochen arbeitet sie auf einem 210 Meter langen Schiff namens »Chikyu«. Ungefähr 200 Kilometer östlich von der Nordostküste Japans schaukelt es immer wieder in Stürmen, während Gürer über knapp zwei Monate Gesteinsproben dokumentiert, die eine riesige Bohranlage aus der Erdkruste des Meeresbodens an Deck befördert.

Es ist ein Projekt der Superlative. Noch nie wurde so tief unterm Meeresspiegel gebohrt wie hier: 7877,5 Meter unter null. Selten haben Forschende so verschiedener Disziplinen – von Mikrobiologinnen über Geophysiker bis zu Chemikerinnen – auf einem Schiff zusammengearbeitet. »Wir hoffen, im Frühjahr viel besser zu verstehen, warum ein Erdbeben manchmal riesigen Schaden anrichtet und manchmal nicht«, so Gürer. Nicht nur in Japan ist solches Wissen kostbar – aber hier besonders.

Der Tsunami, mit dem niemand rechnete

Am 11. März 2011 erlitt Japan die größte Katastrophe seiner jüngeren Geschichte. Vor der Küste der nordostjapanischen Präfektur Fukushima bebte die Erde mit der seltenen Stärke von 9,0 auf der Moment-Magnituden-Skala. Ein Tsunami türmte sich auf, der die Küste des ostasiatischen Landes verheerte. Dort riss er vieles von dem mit sich, was nicht schon einige Momente zuvor das Erdbeben zerschmettert hatte. Neben ganzen Dörfern zerstörte er etwa das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi, wo in drei von sechs Reaktoren die Kerne schmolzen.

An diesen Tagen starben nicht nur an die 20 000 Menschen. Um die 300 000 verloren ihre Heimat, weil ihr Haus durch das Beben zu sehr beschädigt, von dem bis zu knapp 40 Meter hohen Tsunami verschluckt oder durch den Reaktor-GAU zu stark mit radioaktiver Strahlung belastet worden war, als dass man darin noch hätte wohnen können. Bis heute sind zehntausende Menschen noch nicht wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Auch die Aufräumarbeiten rund um das havarierte Kraftwerk werden noch Jahrzehnte dauern.

Auf dem Forschungsschiff »Chikyu« wird man diese Probleme nicht lösen können. Aber unter den rund 50 Forschenden, die sich hier teils parallel, teils nacheinander über Monate aufhalten, besteht die Hoffnung, dazu beizutragen zu können, dass ein künftiges Erdbeben nicht erneut so arge Schäden verursacht. Sie versuchen, die Gründe für den sehr hohen Tsunami zu verstehen. Dadurch ließe sich vieles besser entscheiden, etwa wie hoch Schutzwälle sein sollten.

Derya Gürer gehört zu einer Gruppe, die auf der »Chikyu« Gesteinsproben aus dem Grund fördert und an Bord analysiert. Wenn die Geologin wieder an ihre Universität in Heidelberg zurückgekehrt ist, wird sie auf Basis dieser Proben zu verstehen versuchen, welche Temperaturen in den Verwerfungen entstanden. Daraus wiederum lässt sich schlussfolgern, wie viel Energie in den Momenten des Erdbebens freigesetzt wurde.

Was passiert tief im Gestein?

Mit Methoden der Paläomagnetik, die Informationen aus magnetischen Mineralien im Gestein sammelt, erhält Gürer Aufschluss über Eigenschaften des Erdbebens. So befinden sich in Japan viele Tonminerale, die sich ab einer bestimmten Temperatur in andere magnetische Minerale umwandeln. Mit den Proben aus dem Gestein lässt sich das, was am 11. März 2011 geschah, quasi simulieren. »Wenn ich meine auf der ›Chikyu‹ gewonnen Proben dann im Labor aufheize, werde ich – je nach dem, bis zu welcher Temperatur ein Material stabil bleibt, ohne sich umzuwandeln – verstehen, wie heiß es im Gestein wurde.«

Die Hitze entsteht durch die Reibung der aneinander vorbeigleitenden Gesteine. Sie hängt eng damit zusammen, über welche Strecke sich die beiden Erdplatten während des Bebens gegeneinander bewegten – und damit auch mit der Energie, die dabei frei wurde, sowie der Höhe des Tsunamis.

Bohrkern | Im hohlen Bohrgestänge befördert die »Chikyu« Gesteinskerne an die Oberfläche. Sie geben Aufschluss darüber, wie sich das Gestein an den Erdbeben auslösenden Verwerfungen verhält.

»Wir waren sehr erstaunt zu sehen, dass am Meeresboden ein Versatz von fast 50 Metern entstand«, erinnert sich Shuichi Kodaira von der Japanischen Agentur für Geologie und Ozeanologie (JAMSTEC) in einem Sitzungssaal in der südostjapanischen Metropole Yokohama. Hier sei 2011 jeder schockiert gewesen. JAMSTEC leitet auch das Projekt auf der »Chikyu«.

Das Tohoku-Beben von 2011 hatte auch deshalb katastrophale Auswirkungen, weil es die Wissenschaft nicht erwartet hatte. Zwar war man nicht überrascht davon, dass am Ort des Epizentrums grundsätzlich ein großes Beben entstehen konnte. Schließlich taucht hier, unterhalb jener Stelle, wo nun die »Chikyu« ihre Bohrungen durchführt, die Pazifische Platte unter die Japanische Platte ab. Aber die Strecke, über die das Beben an der Plattengrenze entlang migrierte, stellte sich als erstaunlich kurz heraus – relativ zur Stärke des Bebens und der Größe der Lücke, die es aufriss.

Bisher weiß man wenig über Tsunamis

Dafür fand es in sehr geringer Tiefe statt, wodurch sich der Meeresboden und die Wassersäule darüber ungewöhnlich stark hoben. Das ist der Ursprung der hohen Tsunamiwellen. »Wir hatten nicht erwartet, dass ein Beben wie dieses, das offenbar sehr, sehr viel Energie freisetzen konnte, so nah an der Erdoberfläche ausgelöst würde«, sagt Kodaira. Dies stellte schon ein Vorgängerprojekt fest. Bereits 16 Monate nach dem Beben von 2011 veranlasste JAMSTEC erste Bohrungen. In einem Eilverfahren, wie es nach großen Beben nicht ungewöhnlich ist, stießen Fachleute in die Erdkruste vor und erkannten, wie riesig der Versatz war, den das Beben ausgelöst hatte.

»Wir hatten nicht erwartet, dass ein Beben mit so viel Energie so nah an der Erdoberfläche ausgelöst würde«Shuichi Kodaira, JAMSTEC

»Das hat unser Verständnis dessen, was genau während und nach einem Erdbeben geschieht, schon deutlich verbessert«, erklärt Shuichi Kodaira in Yokohama anhand einer Powerpoint-Präsentation. »Wir haben zum Beispiel erkannt, dass sich das Gestein durch dieses Beben, das ja nur einige Sekunden dauerte, um mehrere 100 Grad aufheizte. Noch 16 Monate später war es im Wasser 0,3 Grad wärmer als normal. Das ist enorm.« Derya Gürer will dies mit ihren neuen Proben nun genauer untersuchen.

Im Zuge des aktuellen Projekts wird nun tiefer gebohrt, mehr Gestein nach oben befördert. Die Hoffnung ist, dass es damit letztlich möglich wird, Tsunamis zu modellieren. Bisher hat die Wissenschaft nämlich nur ein ungefähres Wissen davon, wie Tsunamis entstehen. Ausgelöst werden sie meist von Seebeben, bei denen sich der Meeresboden plötzlich hebt oder senkt, wodurch Wassermassen verdrängt werden. Detaillierte Modelle dazu, wie hoch ein Tsunami durch ein bestimmtes Beben werden kann, gibt es aber kaum.

Die Herausforderungen sind groß. Denn im Gestein – zumal vor der Küste Japans, wo die geothermale und tektonische Aktivität besonders hoch ist – befinden sich längst nicht nur Informationen zum Erdbeben vom März 2011. Um die Effekte verschiedener Beben auseinanderzuhalten, arbeiten Geologinnen wie Gürer mit Experten aus ganz anderen Disziplinen zusammen. So ergründen etwa Sedimentologen, wie Hangrutschungen unter Wasser den Meeresboden im Fall eines Erdbebens beeinflussen.

Tiefer Blick in den Baumkuchen

Generell gilt aber: Je tiefer gebohrt wird, desto weiter reicht man in der Zeit zurück. »Bei einem Baumkuchen kommt doch eine Schicht nach der anderen«, erklärt Derya Gürer an der Garderobe unter Deck und grinst; Baumkuchen könnte sie an Bord leider nicht essen. »Aber bei der Erdkruste verhält es sich ähnlich. Die untersten Schichten sind die ältesten. Wobei manchmal auch ältere Schichten über jüngere geschoben werden.«

Die Bohrarbeiten laufen noch bis Ende 2025. Danach installiert JAMSTEC in einem zweiten Schritt ein Observatorium an der Erdkruste, das auch längerfristige Veränderungen anhand von Sensoren beobachten soll. »Wir werden es dann für einige Jahre dort unten in Ruhe arbeiten und Daten sammeln lassen«, sagt Shuichi Kodaira in Yokohama. »Am Ende werden wir die Bohranlage hochfahren und die Sensoren abnehmen.« Dann startet eine neue Runde der Datenauswertung.

Das Forschungsschiff »Chikyu« | Mit ihrem 121 Meter hohen Bohrturm kann die »Chikyu« Bohrkerne aus der Tiefsee bergen und Proben aus Tiefen von rund sieben Kilometer unter dem Meeresboden bergen.

»Hier wird es vor allem um die Entwicklung von Temperaturen gehen sowie die Bewegungen von Flüssigkeiten in der Versatzzone«, sagt Shuichi Kodaira. Anhand dieser Beobachtungen will Kodairas Team internationaler Wissenschaftler verstehen, wie sich Wasser und Gestein über die Jahre nach dem Beben verändern. Dies gibt nicht nur Aufschluss darüber, wie schnell sich die Lage wieder normalisiert. Sondern auch, wie sie zum Zeitpunkt des Bebens war und wie hoch das Risiko neuer Beben ist.

»Wir versuchen auf diese Weise herauszufinden, wie groß die Lücke war, die durch die Subduktion am 11. März 2011 aufgerissen wurde«, so Kodaira. »Und wenn wir dies wissen, verstehen wir auch besser, wie stark oder hoch ein daraus entstehender Tsunami werden kann.« Im Mai 2025 will das Forschungsteam erste Ergebnisse der Analysen der Gesteinsproben präsentieren. Ergebnisse der Sensorendaten werden dagegen noch Jahre auf sich warten lassen.

Keine Vorhersage, aber vielleicht ein besseres Modell

Allerdings wird man vielerorts gerne warten. Schließlich sind die Erkenntnisse, die vor der Ostküste Japans gewonnen werden, nicht nur für genau diese Stelle des Planeten relevant. »Wenn wir die Interaktion verschiedener Variablen verstehen, dann lassen sich daraus auch Rückschlüsse auf andere Orte ziehen«, sagt Derya Gürer. Denn bisher bleibt es ein Rätsel, warum manche Beben große Tsunamis verursachen und andere nicht. Das müsse nicht so bleiben, sagt die Forscherin – wenn die Expedition die nötigen Daten sammelt.

Wird das Forschungsteam auf dem Schiff all seine Ziele erreichen? »Bisher sind unsere Vorhaben nach Plan verlaufen«, sagt Shuichi Kodaira auf dem Festland. »Die Bohrungen sind an fast jedem Tag auf die erhoffte Weise vorangeschritten.« Nur an wenigen Tagen habe sich die Erdkruste als so hart herausgestellt, dass man kaum tiefer kam. »Einige Tage Puffer sind aber eingeplant. Am Ende werden die Forschenden an ihre festen Arbeitsplätze zurückkehren und ihre Analysen dort fertigstellen.«

In Japan, das häufiger als fast jedes Land von starken Erdbeben erschüttert wird, arbeiten Forschende auch an anderen Instituten daran, Erdbeben vorherzusagen. Hierzu dienen bisher vor allem das Wissen aus Geologie und Tektonik, Seismografen und historische Daten. Die größte Hürde für umfassende Vorhersagemodelle ist aber nicht nur, dass zu wenige detaillierte Daten verfügbar sind. Es fehlt ebenso ein Verständnis davon, warum einige Beben stärker sind als andere.

Doch selbst wenn man Erdbeben bisher kaum vorhersagen kann, übt sich Japans Regierung darin. Nach dem verheerenden Beben von 2011 führte sie ein Warnsystem ein, das die Bevölkerung mit Wahrscheinlichkeiten versorgt. Im Januar hatten öffentlich beauftragte Seismologinnen dann errechnet: Das Risiko, dass es binnen der nächsten 30 Jahre im Zusammenhang mit dem Nankai-Graben – in dessen Nähe auch Tokio liegt – zu einem Beben der Stärke 8 oder 9 kommen würde, liege bei 70 bis 80 Prozent.

Solche Zahlen sind allerdings umstritten. Kritiker sagen, Erdbeben lassen sich nicht vorhersagen. Aber könnten die Forschenden auf der »Chikyu« Antworten liefern, die diese Berechnungen verfeinern oder gar ein genaues Prognosemodell ermöglichen? Shuichi Kodaira atmet tief durch, blickt erst auf seine Präsentation, dann aus dem Fenster des Besprechungszimmers. »Vorhersagen können wir derzeit nicht. Aber vielleicht können wir dem auf der ›Chikyu‹ einen kleinen Schritt näherkommen.«

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