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Nuklearer Notstand: Fukushimas radioaktives Erbe

Noch ging radioaktiver Fallout in Japan nur lokal nieder – doch einige Regionen dürften auf Jahrzehnte verstrahlt bleiben.
Zerstörte Reaktoren von Fukushima
Der havarierte japanische Kernreaktor Fukushima gab in der letzten Woche kaum gute Nachrichten her. Die jüngsten Daten über die Radioisotope, die seit Beginn der Krise am Kernkraftwerk freigesetzt wurden, bieten jedoch ein wenig Anlass zur Hoffnung. Denn die bisherigen Messungen zeigen, dass der Reaktor zwar bereits mehrfach hohe Strahlungsdosen an die Umwelt abgegeben hat, gefährlich belastet sind bislang jedoch nur wenige, eng umgrenzte Flächen nordwestlich der Anlage. Mittlerweile emittiert Fukushima zudem deutlich weniger Radionuklide als nach den ersten Explosionen in den einzelnen Reaktorblöcken – vorerst bleibt allerdings noch ungewiss, wie sich die Lage weiterentwickelt.

"Insgesamt besitzen wir noch zu wenige Daten. Und die, die wir erhalten, sind lückenhaft", sagt Jim Smith, ein Umweltphysiker an der University of Portsmouth. Immerhin ergreifen die Japaner nun die richtigen Vorsichtsmaßnahmen: Die Regierung habe rasch die Evakuierungszone rund um den Reaktor erweitert und Landwirtschaft sowie Fischfang in den am schlimmsten betroffenen Gebieten verboten, so der Wissenschaftler.

Günstige Geografie

Dass die Folgen des Reaktorunglücks bislang relativ begrenzt sind, verdankt Japan seiner Geografie: Erste Schätzungen gehen davon aus, dass in Fukushima bis jetzt etwa ein Zehntel des radioaktiven Materials freigesetzt wurde, das beim Tschernobyl-Unglück 1986 in die Umwelt gelangt war.
Mehr zum Thema finden Sie auf unserer Sonderseite "Erdbeben und Reaktorunglück in Japan".
Günstige Winde haben das meiste davon hinaus auf den Pazifik geweht. So gab die österreichische Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Wien letzte Woche bekannt, dass sich radioaktive Isotope aus Fukushima mittlerweile über die gesamte Nordhalbkugel verteilt haben – insgesamt gingen außerhalb Japans jedoch nur vernachlässigbare Mengen an Radionukliden wie Jod-131 und Zäsium-137 nieder. Beide Isotope bilden den größten Teil der "radioaktiven Wolke". Von Tschernobyl aus breitete sich dagegen der Fallout über große Teile Europas aus.

Ausbreitung der radioaktiven Wolke über Ostasien | Rot sind Gebiete gekennzeichnet, die seit Beginn des Unfalls bis zum 20. März mit einer Effektivdosis von maximal 100 Millisievert pro Stunde belastet waren. Violett zeigt maximal 100 Nanosievert pro Stunde an. Dieser Wert ist, selbst über ein Jahr summiert, niedriger als die natürliche Belastung, der jeder Mensch ausgesetzt ist.
Aus den beschädigten Reaktoren von Fukushima gelangen jedoch immer noch radioaktive Elemente in die Umwelt. Auch wenn es gelingt, diese Emissionen zu stoppen, die langfristigen Folgen für Japan hängen vor allem davon ab, welche und wie viele radioaktive Isotope an Land niedergehen. Besonders die Zäsium-137-Konzentration entscheidet wesentlich darüber, welche Gebiete zukünftig erst einmal nicht mehr bewirtschaftet oder bewohnt werden dürfen: Das Isotop besitzt eine Halbwertszeit von 30 Jahren.

Am letzten Sonntag meldete die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), dass in 16 von Japans 47 Regierungsbezirken täglich weniger als 860 Becquerel pro Quadratmeter (Bq/m2) Jod-131 und rund 100 Bq/m2 Zäsium-137 niedergingen – zum Vergleich: Nach Tschernobyl gingen in Teilen Süddeutschlands bis zu 100 000 Bq/m2 Radionuklide nieder. Zwischen dem 18. und dem 25. März hatte sich zudem in 28 Bezirken die Radioaktivität nicht erhöht, wie die IAEA weiter berichtet. Unmittelbar nordwestlich von Fukushima, in der Präfektur Yamagata, maß die Behörde jedoch eine deutlich stärkere Kontamination: 7500 Bq/m2 Jod-131 und 1200 Bq/m2 Zäsium-137 – beides übersteigt weit die maximalen Grenzwerte für den Anbau von Blattgemüse. Für Fukushima selbst lagen noch keine Ergebnisse vor, doch kann man dort ebenfalls hohe Strahlendosen erwarten.

Unregelmäßiges Strahlungsbild

Das US Department of Energy sammelte ebenfalls Daten aus der Luft, welche die Erhebungen der IAEA bestätigen. Ein Flug über die Region am 22. März etwa zeigte, dass sich der Fallout vor Ort nicht verstärkt hatte – obwohl der Wind zwischenzeitlich landeinwärts wehte. Es kam also nicht zu einer verstärkten zusätzlichen Ablagerung von Radionukliden.

Bislang beschränken sich die stärksten Radioaktivitätswerte am Boden – mehr als 0,125 Millisievert pro Stunde (mSv/h) – auf ein schmales Band innerhalb von 40 Kilometern nordwestlich von Fukushima. Nirgends überschritten die Werte 0,3 mSv/h – eine Dosis, die bei längerer Exposition zu gesundheitlichen Schäden führt. An einigen Stellen könnte sich die Belastung jedoch über das Jahr hinweg auf 1000 Millisievert summieren und die Strahlenkrankheit auslösen, die mit Übelkeit, Haarausfall und einer verringerten Zahl an weißen Blutkörperchen einhergeht.

Innerhalb der 20 Kilometer breiten Evakuierungszone um den Reaktor betrugen die Strahlungswerte großflächig weniger als 0,012 mSv/h; über das Jahr gesehen entspräche dies einer Belastung von etwa 100 mSv – fünfmal mehr, als ein Angestellter in einem Kernkraftwerk hier zu Lande pro Jahr abbekommen darf. Das insgesamt unregelmäßige Strahlungsbild spiegelt den Einfluss von Wind und Regen wider, die die Isotope über dem Land verteilt haben. Smith zeigte sich angesichts der Daten sogar "erleichtert", da sich andeutet, dass die Kontamination rund um Fukushima viel niedriger ausfallen könnte als in Tschernobyl.

Zerstörte Reaktoren von Fukushima | Die Aufnahme aus der Luft zeigt deutlich, wie schwer die Reaktoren von Fukushima I beschädigt sind – drei der vier Reaktorblöcke liegen in Trümmern, Dampf steigt aus zwei Meilern auf.
Dennoch kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nicht entwarnt werden – zumal einige Stellen außerhalb der Evakuierungszone extrem hohe Verseuchungswerte zeigen. Bodenproben, die am 20. März 40 Kilometer nordwestlich der Anlage entnommen wurden, wiesen laut dem japanischen Wissenschaftsministerium Zerfallsraten von 163 000 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) Zäsium-137 und 1 000 000 Bq/kg Jod-131 auf. Die zulässigen Grenzwerte für landwirtschaftliche Nutzflächen liegen normalerweise bei wenigen 100 Becquerel pro Kilogramm. "Sollte es sich bestätigen, dass örtlich so viel Zäsium-137 im Boden vorliegt, dass die Strahlung mehr als 100 000 Bq/kg beträgt, müssten diese Gebiete wohl dauerhaft evakuiert werden", warnt Smith. Mehr als 200 000 Menschen haben eine 20 Kilometer breite Zone rund um den Reaktor verlassen. Allen Bewohnern eines daran anschließenden, zehn Kilometer breiten Streifens riet die Regierung am 25. März, die Region freiwillig ebenfalls zu verlassen.

Gefahr für das Meer?

Die Verteilung großer Mengen an Radionukliden über das offene Meer bewahrte das Land vor einer noch gravierenderen Kontamination – jedoch zu einem gewissen Preis: So maß das japanische Wissenschaftsministerium rund 30 Kilometer vor der Küste hohe Jod-131- (24,9 bis 76,8 Becquerel pro Liter) und Zäsium-137-Werte (11,2 bis 24,1 Bq/l). Und die IAEA erfasste mit 74 000 Bq/l Jod-131 und 12 000 Bq/l Zäsium-134 und Zäsium-137 extrem hohe Belastungen im unmittelbaren Umfeld der Auslassrohre des Kraftwerks. Normalerweise dürfen Atommeiler nicht mehr als 4000 Bq/l ins Meerwasser abgeben. Die japanische Regierung hat deshalb jeglichen Fischfang im Umkreis von 20 Kilometern im Meer vor Fukushima verboten.

Der in Japan als Speise beliebte Seetang und Meerestiere können Radioisotope aus dem Wasser in ihrem Gewebe anreichern. Deshalb müsse man ihren Weg durch die Nahrungskette verfolgen, betont Timothy Mousseau, der als Radioökologe an der University of South Carolina in Columbia arbeitet. "Das Meer wurde umfassend verschmutzt. Ich nehme aber an, dass sich die Belastung bald großflächig verteilt und stark verdünnt, so dass die Folgen begrenzt sein sollten", fügt Smith hinzu.

Eine neue Gefahr droht mittlerweile allerdings durch hochradioaktives Wasser, das die Fundamente des Reaktors geflutet hat und nun stellenweise mit bis zu 1000 mSv/h strahlt – eine potenziell tödliche Dosis. Dieses Wasser sickert nun in Rohrschächte, die weniger als 70 Meter vom Meer entfernt durch die Anlage führen: Das Risiko, dass das Meer oder das Grundwasser stark kontaminiert werden, steigt also. Mittlerweile wurde im Ozean nahe den Meilern auch eine Belastung mit radioaktivem Jod gemessen, die 3355-fach über den erlaubten Grenzwerten liegt.

Solange aus dem Kernkraftwerk radioaktive Isotope entweichen, wächst die Belastung von Mensch und Umwelt. Sollten die Emissionen jedoch bald gestoppt werden, sinkt die Strahlenbelastung zumindest in der Atmosphäre rasch ab – ebenso wie jene durch kurzlebige Isotope am Boden: Ein großer Teil der freigesetzten Radioaktivität geht auf Jod-131 zurück, das eine Halbwertszeit von nur acht Tagen hat. Prinzipiell ist es für eine Entwarnung aber zu früh, denn es kann noch Wochen oder Monate dauern, bis der kaputte Reaktor wieder komplett im Griff ist – und Jahre, bis einzelne mit langlebigen Radionukliden verseuchte Gegenden im Norden Japans wieder bewohnbar sind.

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