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Funktionelle Bewegungsstörungen: Eine Frage der Aufmerksamkeit

Lähmungen oder Zittern ohne klare Ursache galten lange als medizinisches Rätsel – und Betroffene im schlimmsten Fall als Simulanten. Nun aber beginnen Forschende, die verdeckten Mechanismen zu verstehen und wirksame Therapien zu entwickeln.
Eine Person im Rollstuhl sitzt in einem hellen Raum und hält das Rad des Rollstuhls. Im Hintergrund sitzt eine unscharf dargestellte Person in einem weißen Kittel an einem Tisch, möglicherweise ein Arzt oder medizinisches Fachpersonal. Die Szene vermittelt eine medizinische oder pflegerische Umgebung.
Manche Menschen sind gelähmt und kein Arzt weiß, warum.

Frankreich, Mitte des 19. Jahrhunderts: In der Medizin setzt sich zunehmend ein Prinzip durch – man ordnet bestimmten Hirnregionen bestimmte Funktionen zu, meist durch die Analyse von Ausfällen nach Schädigungen des Gehirns. Auch Jean-Martin Charcot (1825–1893), der als Vater der Neurologie gilt, arbeitet nach diesem Muster. In der Pariser Klinik Salpêtrière untersucht er Leiden wie Parkinson und multiple Sklerose, indem er die Symptome von Erkrankten dokumentiert und nach deren Tod ihr Gehirn nach Auffälligkeiten absucht. Doch eine Störung widersetzt sich seiner Methode: die so genannte Hysterie. Ihre Symptome, etwa Lähmungen, Muskelzuckungen und Krampfanfälle, wandern, verschwinden, kehren zurück – ohne erkennbare Läsionen im Gehirn. Charcot und später auch Sigmund Freud (1856–1939) bemühen sich um Erklärungen, finden aber keine stichhaltige. Und so verschwindet die »Hysterie«, die lange verbunden mit misogynen Vorstellungen fast ausschließlich Frauen attestiert wird, wieder aus der Medizin. Doch die Erkrankten verschwinden nicht. Und so wechselt die mysteriöse Krankheit im Lauf der Geschichte einfach wiederholt den Namen. Aus der »Hysterie« wird zunächst die »Konversionsstörung« – nach der Idee, dass sich innere Konflikte in körperliche Beschwerden umwandeln. Später werden die Symptome als »psychogen«, »psychosomatisch«, »dissoziativ« oder »medizinisch unerklärlich« tituliert.

Knapp 160 Jahre nach Charcots Bemühungen stellt sich eine Patientin in einer neurologischen Spezialsprechstunde vor. Sie ist Mitte 30, berufstätig und kann seit Kurzem ihre Beine nicht mehr richtig bewegen. »Ich habe alle Tests gemacht, die mir empfohlen wurden«, erzählt sie. »Manche sogar mehrfach.« Sie hat die Befunde schon im Voraus geschickt, seitenlange Dokumente mit Tabellen und Zahlen, alle ohne Erklärung für ihre Beschwerden. »Sobald bei den Untersuchungen nichts Auffälliges gefunden wird, wird man nicht mehr ernst genommen.« Die Ärztin hört das oft. Die meisten Menschen mit vermeintlich medizinisch unerklärlichen Beschwerden erleben Stigmatisierung: Sie haben den Eindruck, man glaube, sie bildeten sich die Beschwerden nur ein – oder täuschten sie gar vor, zum Beispiel um nicht mehr arbeiten zu müssen. »Es weiß ja ohnehin niemand, wie man mir helfen könnte. Mein Neurologe schickt mich zur Psychiaterin, weil bei den Untersuchungen nichts gefunden wird, und meine Psychiaterin schickt mich wieder zurück, weil ich körperliche Symptome habe.«

Manchmal blockieren Körperteile

Am Ende der Sprechstunde hat die Patientin aber endlich eine Diagnose: funktionelle Bewegungsstörung. Doch was steckt hinter dem Begriff, der Hysterie und Co. mittlerweile abgelöst hat? Für das Prädikat »funktionell« müssen Symptome vorliegen, die in Art und Schwere inkonsistent sind, also mal auftreten, mal verschwinden. Funktionelle Bewegungsstörungen können als Lähmungen in Erscheinung treten, manchmal blockieren Körperteile auch beim Versuch, sie zu bewegen, sind steif oder bewegen sich nur langsam. Bei manchen Erkrankten sind einzelne Partien betroffen, etwa die Beine oder ein Arm, bei anderen alle Bewegungsabläufe einschließlich des Sprechens.

Zu den funktionellen Bewegungsstörungen gehören aber auch funktionelle Zuckungen und funktionelles Zittern, das leicht zum Beispiel mit Parkinson verwechselt wird. Charakteristisch sind schwankende Beschwerden: Sie sind mal mehr, mal weniger präsent und verändern sich zuweilen auch in ihrer Form. Die typischen Merkmale lassen sich durch eine detaillierte Erhebung der Krankengeschichte und eine klinisch-neurologische Untersuchung bestimmen, so dass es in vielen Fällen keine weitere apparative Diagnostik mit Blutuntersuchung oder Bildgebung braucht.

Die Idee, dass sich alle »echten« oder zumindest alle körperlichen Erkrankungen auf Bildern oder in Blutwerten entdecken lassen, hat maßgeblich dazu geführt, dass funktionelle Beschwerden so lange auch von Ärztinnen und Ärzten abgetan wurden. Auch die Einteilung des Medizinbetriebs in säuberlich getrennte Disziplinen hat der Sichtbarkeit einer Störungsklasse, die sich am ehesten an der Schnittstelle von Neurologie und Psychiatrie befindet, geschadet.

Verkannt aber häufig

Funktionelle Störungen sind dabei gar nicht selten. Für die Scottish Neurological Symptoms Study wurden zum Beispiel 3781 Personen untersucht, die zwischen Dezember 2002 und Februar 2004 an neurologische Sprechstunden überwiesen wurden: Funktionelle Beschwerden waren nach Kopfschmerzen mit 16 Prozent der zweithäufigste Vorstellungsgrund. Mehr noch: Bei ungefähr einem Drittel der Patientinnen und Patienten konnten die Symptome nach Ansicht des Neurologen oder der Neurologin »nicht befriedigend durch eine organische Krankheit erklärt werden«. Diese funktionell Erkrankten waren zudem subjektiv erheblich stärker beeinträchtigt und häufiger aus gesundheitlichen Gründen arbeitslos als jene, deren Symptome durch eine nicht funktionelle Krankheit erklärt werden konnten.

Funktionell und facettenreich

Funktionelle neurologische Störungen

Funktionelle Bewegungsstörungen bilden eine Unterkategorie der funktionellen neurologischen Störungen. Andere Unterkategorien stellen etwa funktionelle Anfälle (auch dissoziative Anfälle genannt) dar, die häufig mit Epilepsie verwechselt werden; funktionelle Sinnesstörungen, darunter funktionelle Sehstörungen; oder funktionelle Sensibilitätsstörungen – Taubheit oder Missempfindungen ohne strukturelle Schädigung der Nerven. Funktionelle Beschwerden sind aber nicht nur in der Neurologie, sondern in praktisch allen Fachgebieten der Medizin bekannt. So gilt zum Beispiel auch das Reizdarmsyndrom als funktionell oder die Fibromyalgie, bei der die Muskeln am ganzen Körper schmerzempfindlich sind. Als Mechanismus wird hier ebenfalls eine gestörte Signalverarbeitung im Nervensystem vermutet. Selten treten funktionelle Störungen in nur einem Körpersystem oder mit nur einem Symptom in Erscheinung, sondern meist als Mischform.

»Das immer noch verbreitete rein psychische Erklärungsmodell greift zu kurz«Anne Weissbach, Neurologin

Die Bezeichnung »funktionell« klingt vielleicht vage, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Er kommt im Gegensatz zu Begriffen wie »psychogen« ohne Vorannahmen über die Ursache der Erkrankung aus – Annahmen, die, wie sich zeigen wird, veraltet sind. Funktionelle Symptome sind nicht zwangsläufig und ausschließlich Folge eines Traumas oder einer starken psychischen Belastung. Bei genauerer Betrachtung findet sich zwar bei einem Teil der Erkrankten ein derartiger Faktor, bei vielen aber auch nicht – wie etwa eine 2018 erschienene Metaanalyse eines Teams um die Psychologin Lea Ludwig von der Universität Hamburg zeigt. Stattdessen geht man heute davon aus, dass der Mechanismus in einem fehlerhaften Zusammenspiel verschiedener Ebenen des Nervensystems besteht. Die Ursachen sind dabei vielfältig und komplex. Das immer noch verbreitete rein psychische Erklärungsmodell greift also zu kurz und sorgt bei vielen Patienten für Verwirrung oder Ablehnung.

Wann die Symptome kommen, hat System

»Ich war neulich mit meinen Töchtern im Zoo. Die Sonne schien, wir haben Eis gegessen und es war ein wirklich toller Tag, aber meine Probleme beim Gehen waren so schlimm wie nie. Wie kann das sein, wenn sie von negativen Gefühlen kommen sollen?« Was die Patientin erzählt, ist typisch und die Ärztin hat eine Erklärung: »Die Beschwerden müssen nicht immer mit negativen Gefühlen zusammenhängen. Sie treten aber gerade dann auf, wenn es Ihnen besonders wichtig ist, dass Sie sich gut bewegen können«, erklärt sie. »Da geht es eher darum, welche Bedeutung Ihr Gehirn der Situation zuschreibt und welche Aufmerksamkeit es den Symptomen zukommen lässt.«

Tatsächlich ist belegt, dass sich funktionelle neurologische Symptome verstärken oder abschwächen können, je nachdem, worauf sich die Erkrankten gerade fokussieren. Auch therapeutische Ansätze basieren auf dieser Prämisse: Je besser es gelingt, die Aufmerksamkeit umzulenken, desto stärker bessern sich die Beschwerden. Das zeigte zum Beispiel ein Team um die Neurologin Anne-Catherine Huys, damals am University College London, in einer 2021 erschienenen Studie. Es verglich Menschen, die an funktionellem Zittern litten, mit gesunden Kontrollpersonen und Patienten mit einem nicht funktionellen Tremor. Die Teilnehmenden führten auf einem Touchpad Streckbewegungen des Zeigefingers von einer Ausgangsposition zu einem Ziel aus. Ihre eigene Bewegung sahen sie dabei nicht, sondern nur einen Cursor auf einem Bildschirm, der ihrer Bewegung entsprach. Um zu ermitteln, wo sich die Aufmerksamkeit der Untersuchten dabei befand, variierten die Forschenden verschiedene Aspekte der Aufgabe: Erkannten die Versuchspersonen beispielsweise, dass sich die Helligkeit des Zielpunktes änderte, aber nicht, dass auch der Cursor heller oder dunkler wurde? Dann lag der Fokus auf dem Ziel, nicht auf dem visuellen Feedback für die Bewegung. Die Bahn des Cursors wurde außerdem manchmal so manipuliert, dass sie nicht mehr wie zuvor exakt der Bewegung entsprach. Erkannten die Untersuchten diese Veränderung, verfolgten sie anscheinend die visuelle Rückmeldung sehr genau. In diesem Teil des Experiments zeigte sich: Personen mit funktionellem Zittern erkannten zwar kleinste Veränderungen in der Helligkeit des Cursors, nicht aber, wenn dieser nicht mehr mit ihrer tatsächlichen Bewegung übereinstimmte. Die Forschenden schlussfolgern, dass die Betroffenen ein schlechteres Gespür für ihre Bewegung haben und vermehrt auf das visuelle Feedback achten.

»Die Symptome treten gerade dann auf, wenn es Erkrankten besonders wichtig ist, dass sie sich gut bewegen können«Anne Weissbach, Expertin für funktionelle Bewegungsstörungen

Generell zeigte sich, dass die Aufgabe immer dann schlechter gelang, wenn ihr ganz besonders viel Aufmerksamkeit zuteilwurde – und zwar bei allen drei Gruppen: Die motorische Leistung sank bei allen, wenn sie angewiesen wurden, sehr präzise oder so langsam wie möglich vorzugehen. Hingegen verbesserte sich die Leistung bei allen, wenn es kein visuelles Feedback gab, mit dem sie sich selbst kontrollieren konnten oder wenn die Bewegung schnell erfolgen sollte. Hieß es, die Bewegung diene rein zur Vorbereitung, hatte für die Versuchspersonen also keine erkennbare Bedeutung, ging sie allein jenen mit dem funktionellen Zittern deutlich leichter von der Hand. Je wichtiger die Aufgabe ihnen erschien, desto stärker zitterten sie.

Bewegungen laufen nicht mehr automatisch ab

Der Grund: Je beiläufiger eine Bewegung erfolgt, desto eher greift die automatische Steuerung. Und genau bei diesem automatischen Ablauf hakt es bei funktionellen Bewegungsstörungen. Wird eine Bewegung, die normalerweise ohne viel Nachdenken gelingt, zur bewussten Aufgabe, wird die automatische, implizite Ausführung außer Kraft gesetzt und durch eine explizite Bewegungskontrolle ersetzt. Doch dafür sind die meisten Bewegungen gar nicht gemacht. Sie enthalten zu viele Komponenten und erfordern zu viele komplexe Rechenleistungen, die für sich genommen gar nicht bewusst überwacht, geschweige denn gesteuert werden können. Und mehr noch: Wer sich beim Bewegen stark auf das visuelle Feedback konzentriert – etwa auf das Beobachten der eigenen Hand – erhöht dabei unbewusst die Muskelspannung. Das könnte, so Huys und ihr Team, auch zur Entstehung des funktionellen Zitterns beitragen.

Ohne verlässliche Wahrnehmung keine präzisen Bewegungen

Der Einsatz von Aufmerksamkeit für Bewegungen, die eigentlich implizit ausgeführt werden sollten, belastet die begrenzten kognitiven Ressourcen. Ein verstärkter Fokus auf die Bewegung steht in Konkurrenz zu anderen Prozessen, die ebenfalls Aufmerksamkeit beanspruchen. Ein solcher Prozess ist zum Beispiel die sensorische Wahrnehmung. So hatten Menschen mit funktionellen Bewegungsstörungen in einer 2020 publizierten Untersuchung Probleme, Reize korrekt wahrzunehmen. Es fiel ihnen schwer, zwei kurz aufeinander folgende elektrische Impulse auf der Haut als getrennte Reize zu erkennen. Offenbar sammelt ihr Gehirn sensorische Informationen langsamer, was zu einer unsicheren Wahrnehmung führt. Die Studienautorinnen um die Neurologin Anna Sadnicka vom University College London vermuten, dass eingehende Informationen nicht effizient gefiltert werden – auch ein Prozess, für den Aufmerksamkeit relevant ist, denn sie bestimmt, welche Informationen ins Gehirn gelangen. In diesem Fall scheint eine veränderte Zuweisung von Aufmerksamkeitsressourcen zu beeinträchtigen, welche sensorische Informationen überhaupt zur Verfügung stehen. Diese braucht das Gehirn jedoch für die angemessene Planung und Anpassung von Bewegungen: Wenn die Sinnesinformationen, die das Gehirn erhält, unklar und unverlässlich werden, misslingt die präzise Bewegungssteuerung.

Eine Verknüpfung zwischen Wahrnehmung und Bewegung zeigt sich schon im Alltag: Wir nehmen Objekte kaum wahr, ohne sie direkt mit einer Handlung zu verknüpfen: Ein Stift ist zum Schreiben da, eine Tasse zum Trinken. Eine 2023 veröffentlichte Studie eines Teams um Anne Weissbach zeigte: Betroffene mit funktionellen Bewegungsstörungen tun sich schwer, solche bestehenden Verbindungen von Objekt und Handlung (so genannte Reiz-Reaktions-Verknüpfungen) wieder zu lösen, wenn sich die Anforderungen ändern. Das spricht für ein so genanntes Hyperbinding – ein festes, unflexibles Band zwischen Wahrgenommenem und motorischer Antwort.

Die Ausprägung des Hyperbindings hing direkt mit der Schwere der Symptome zusammen und spiegelte sich auch in der Hirnaktivität wider, die mittels Elektroenzephalografie (EEG) gemessen wurde. Bei Gesunden zeigten sich die erwarteten Aktivitätsmuster in Regionen, die für die Verknüpfung von Sensorik und Motorik zuständig sind. Menschen mit funktionellen Bewegungsstörungen hatten unterdessen eine verstärkte Aktivität in motorisch geprägten Netzwerken, die mit der Vorbereitung und Kontrolle von Bewegung in Verbindung gebracht werden. Diese Verschiebung führt womöglich zu einer fehlerhaften oder starren Steuerung von Bewegungen.

Die Rolle von Emotionen

Die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) misst den Blutfluss im Gehirn und damit indirekt die Aktivierung von Hirnarealen. Valerie Voon und ihr Team nutzten fMRT, um die Emotionsverarbeitung bei Menschen mit funktionellen Bewegungsstörungen zu untersuchen. Denn auch wenn der Zusammenhang zwischen Gefühlen und funktionellen Erkrankungen nicht so einfach ist wie früher angenommen, finden sich auch hier spezifische Veränderungen. Gesunde und erkrankte Versuchspersonen bekamen im MRT-Scanner Gesichter mit ängstlichem, fröhlichem oder neutralem Ausdruck gezeigt und sollten das Geschlecht der abgebildeten Person benennen. Bei den Gesunden zeigte sich eine verstärkte Aktivität der Amygdala nur bei ängstlichen Gesichtern, während bei den Erkrankten die Amygdala unabhängig von der Emotion immer aktiv war. Das deutet auf eine erhöhte unspezifische Aktivität hin, was auch durch andere Studien gestützt wird, die bei Betroffenen einen erhöhten Cortisolspiegel und andere Anzeichen für ein hohes Erregungsniveau zeigen. Bei Gesunden wurde die Amygdala außerdem nach wiederholten Reizen weniger aktiv, bei den Erkrankten nicht – sie gewöhnte sich nicht an die Reize. Auch das könnte mit einer fehlenden Flexibilität von Aufmerksamkeitsprozessen zusammenhängen. Schließlich zeigte sich noch, dass bei den Erkrankten die Amygdala stärker mit dem supplementär-motorischen Areal (SMA) in Kontakt trat, welches für die Handlungsvorbereitung zuständig ist. Diese Verbindung tritt normalerweise bei angstbedingten motorischen Reaktionen auf, etwa beim Flüchten vor einer Bedrohung.

Das Hirn geht eine Wette ein

Es gibt bei Menschen mit angeblich unerklärlichen Lähmungen oder mysteriösem Zittern also sehr wohl nachweisbare Veränderungen: nämlich unter anderem in Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Emotionsverarbeitung. Was im ersten Moment nach voneinander abgekoppelten Prozessen klingt, sind tatsächlich verschiedene Facetten eines gemeinsamen zu Grunde liegenden Mechanismus. In älteren Theorien zur Gehirnfunktion wäre man von einer einfachen zeitlichen Abfolge ausgegangen: Die Aufmerksamkeit bestimmt, was wir wahrnehmen, und darauf folgt im Anschluss eine Reaktion. Mittlerweile ist bekannt, dass das Gehirn nicht einfach auf ankommende Reize reagiert, sondern diese aktiv vorhersagt. Dieser Prozess wird »prädiktive Codierung« (englisch: predictive coding) genannt.

Dabei nutzt das Hirn vergangene Erfahrungen als Schablone für zukünftige Erlebnisse: Je häufiger eine Situation bereits erfolgreich bewältigt wurde, desto eher wird sie als Schablone genutzt. Demnach sind Wahrnehmungen und Handlungen das Ergebnis eines fortlaufenden Prozesses der Prüfung, Feinabstimmung und Aktualisierung von Schablonen, um eine stabile und vorhersehbare Darstellung der Welt zu schaffen. Das Gehirn testet seine Vorhersagen über die Welt dabei kontinuierlich anhand der ankommenden Signale. Das, was wir als Wahrnehmung erleben, entsteht dann aus der Verrechnung dieser beiden Datensätze. Die physikalische Grundlage für dieses Vorhersagespiel liefert die vielschichtige, hierarchische Organisation des Nervensystems mit wechselseitigen Verbindungen zwischen den Organisationseinheiten. Hier werden Vorhersagen und sensorische Daten zwischen den Ebenen ausgetauscht und angepasst. Ob die Vorhersage oder der tatsächliche sensorische Input »gewinnt«, hängt davon ab, wie stark diese jeweils gewichtet sind. Hier kommen Aufmerksamkeitsprozesse ins Spiel, denn diese sind für die Gewichtung maßgeblich verantwortlich.

Bei funktionellen Bewegungsstörungen verschätzt sich das Gehirn bei der Wette, die es eingeht. Es »vertraut« seinen Schablonen mehr als den Sinnen. Das Gehirn überschätzt die eigene Vorhersage – etwa, dass ein Symptom wie Zittern oder Lähmung wieder auftreten wird – und unterschätzt gleichzeitig die Glaubwürdigkeit der sensorischen Rückmeldung aus Körper und Umwelt. Veränderte Aufmerksamkeitsprozesse verstärken die Dominanz der Vorhersagen noch, wodurch ein neuronaler Kreislauf in Gang gesetzt wird, der die erwartete Bewegung (oder deren Ausfall) tatsächlich hervorbringt – obwohl keine strukturelle Schädigung vorliegt. Emotionen und andere Erregungszustände haben dabei verstärkt Auswirkungen auf die Motorik.

Funktionelle Erkrankungen können aus strukturellen entstehen

Woher die fehlerhaften Vorhersagen kommen, kann dabei ganz unterschiedlich sein. Funktionelle und nicht funktionelle Symptome schließen sich nämlich keineswegs aus. Im Gegenteil: Parkinsonerkrankte entwickeln manchmal zusätzlich ein funktionelles Zittern und Menschen mit Epilepsie haben teils auch funktionelle Anfälle. Das Gehirn entwirft die Schablone für funktionelle Anfälle dann sehr wahrscheinlich nach seinen Erfahrungen mit den epileptischen Anfällen.

Die Vorhersagen des Gehirns folgen spannenderweise oft unserem kulturellen Wissen über Gesundheit, Krankheit und Körper: Funktionelle Tics – ungewolltes Zucken, Grimassenschneiden oder Fluchen – erinnern zum Beispiel oft an eine überzeichnete, mediengeprägte Version des Tourette-Syndroms. Sie ähneln also eher dem landläufigen Bild von Tourette als der tatsächlich typischen Symptomatik. Auch funktionelle Sensibilitätsstörungen – zum Beispiel Kribbeln oder Taubheit – passen weniger dazu, wie die Nerven anatomisch verlaufen, als dazu, wie man sich deren Funktionsweise gemeinhin vorstellt.

Die Veränderung der Aufmerksamkeit ist der Schlüssel

Die Ärztin erklärt es der Patientin noch einmal anders: »Kennen Sie es, wenn Sie beim Treppensteigen noch eine weitere Stufe erwartet haben und keine mehr kommt? Diesen Moment, in dem es sich anfühlt, als würden Sie kurz die Orientierung verlieren? Diese Verwirrung entsteht dadurch, dass die Erwartung Ihres Gehirns, dass noch eine Stufe da ist, und die Bewegung, die es auf Grund dieser Vorhersage einleitet, nicht zur tatsächlichen Lage passt. Bei einer funktionellen Bewegungsstörung ist es so, als wäre Ihr Gehirn permanent in diesem Zustand. Das Modell, dass es sich vom Körper und der Welt gemacht hat, kommt durcheinander.« »Und was kann man dagegen tun?«, will die Patientin wissen. »Aktuell hat Ihr Gehirn etwas Falsches gelernt. Aber was es einmal gelernt hat, kann es auch wieder verlernen. Sie müssen Ihrem Gehirn helfen, die Aufmerksamkeit und das Kontrollbedürfnis von den Symptomen zu lösen, und je öfter Ihnen das gelingt, desto seltener kommt Ihr Gehirn durcheinander«, rät die Ärztin.

So belegt eine Reihe an Studien von Forschenden um Glenn Nielsen von der University of London, die letzte davon 2024, dass eine spezielle Physiotherapie bei funktionellen Bewegungsstörungen wirkt. Grundlegendes Merkmal dieser so genannten Neurophysiotherapie: Statt den gestörten Bewegungsablauf direkt zu üben – was den Aufmerksamkeitsfokus auf die Bewegung und das Symptom lenken und diese somit verschlechtern würde – setzt sie auf Umlenkung der Aufmerksamkeit. Statt auf die Koordination zu achten, kann es zum Beispiel beim Gehen schon helfen, sich auf das Geräusch zu konzentrieren, das durch die Schritte entsteht oder gleichzeitig eine andere Bewegung mit der Hand zu machen. Schon liegt der Aufmerksamkeitsfokus nicht mehr auf der expliziten Kontrolle der Bewegung.

Training wirkt | In einer speziellen Physiotherapie lernen Menschen mit funktionellen Bewegungsstörungen Bewegungsabläufe unter Ablenkung neu. So werden fehlerhafte Prozesse im Gehirn mit der Zeit durch gesunde überschrieben.

Auch in der Psychotherapie gibt es einige Ansätze, die sich Techniken zur Aufmerksamkeitslenkung zu Nutze machen. Ein Aufmerksamkeitstraining aus der so genannten metakognitiven Therapie kann helfen, den Fokus in Anwesenheit der Symptome flexibel zu steuern. Andere psychotherapeutische Ansatzpunkte sind Techniken zur Stressbewältigung: Wer einen Zusammenhang zwischen Anspannung und den Symptomen bemerkt, kann diese Anspannung mit bestimmten Übungen herunterfahren – etwa mit Yoga, Tai-Chi oder Atemtechniken. Auch um schädliche Verhaltensweisen zu erkennen und zu verändern, kann eine Psychotherapie hilfreich ein: Grübelt die Patientin viel über ihr Problem? Vermeidet sie bestimmte Situationen? Ergotherapie kann ebenfalls sehr hilfreich sein, um die Wahrnehmung von Bewegungsabläufen zu verbessern.

Wenn uns die funktionellen Störungen eines zeigen, dann dass Körper und Psyche nicht voneinander zu trennen sind. Deshalb helfen fächerübergreifende Behandlungskonzepte besser als eine Physiotherapie oder Psychotherapie allein. Ein solches entwickelte ein Team um den Neurologen David Palmer, damals am Capital and Coast District Health Board im neuseeländischen Wellington: Betroffene arbeiten dabei etwa drei Monate lang ambulant mit Behandelnden aus der Neurologie, der Physiotherapie, der Psychologie und der Psychiatrie an ihrer Erkrankung. Zentraler Fokus der Sitzungen ist auch hier die Umlenkung der Aufmerksamkeit mit Übungen, angelehnt an die physiotherapeutischen Empfehlungen, die Glenn Nielsen und Kollegen formuliert haben. Hinzu kommen psychologische Übungen zur Steuerung der Aufmerksamkeit. Je nach Bedarf wird auch an kontraproduktiven Denkmustern oder symptombezogenen Ängsten gearbeitet.

2023 veröffentlichten Palmer und sein Team erste Ergebnisse auf Grundlage ihrer Arbeit mit elf Patientinnen und Patienten. Nach Ende des Programms gaben fast alle an, ihre Symptomatik habe sich verbessert. Acht berichteten eine deutliche Linderung, zwei weitere spürten zumindest eine leichte Besserung, nur eine Person konnte keine Veränderung feststellen. Wie sich zeigte, konnten die Patientinnen und Patienten wieder mehr am Arbeits- und Sozialleben teilnehmen. Auch die Lebensqualität war nach dem Programm höher. In sieben von acht Bereichen des dafür verwendeten Fragebogens gab es statistisch signifikante Verbesserungen.

Eine Kombination aus aufmerksamkeitsbasierter Physio- und Psychotherapie untersuchen Anne Weissbach und ihr Team aktuell am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Patientinnen und Patienten absolvieren dabei entweder zweimal pro Woche eine spezialisierte Neurophysiotherapie oder eine Kombination aus Neurophysiotherapie und dem kognitiven Aufmerksamkeitstraining aus der metakognitiven Therapie. Davor und danach – an mehreren Terminen bis zu einem Jahr nach Ende der Behandlung – werden auf klinischer, Verhaltens- und neurophysiologischer Ebene mit unterschiedlichen Verfahren die Krankheitsmechanismen näher untersucht. Denn in der Therapieforschung zeigt sich auch: Nicht alle Erkrankten profitieren gleich stark von der Umlenkung der Aufmerksamkeit. Es ist daher wichtig, neben der Reduktion von Symptomen auch die Veränderung anderer Parameter zu untersuchen. Eine genaue Charakterisierung des Beschwerdebildes der betroffenen Person vor Beginn der Therapie ist entscheidend.

Hilfe für Erkrankte

Von Betroffenen und Behandlern gegründet bietet die Patienteninitiative für FNS eine Plattform für Information, Austausch und gegenseitige Unterstützung. Unter anderem kann man auf www.fns-initiative.de einer Onlineselbsthilfegruppe beitreten. Die interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für funktionelle neurologische Störungen informiert ausführlich über die Erkrankung und führt auf www.ag-fns.de ein Register der Spezialambulanzen in Deutschland. Auch medizinisches Personal findet hier Wissen über funktionelle neurologische Störungen und kann sich in deren Behandlung schulen lassen.

Ziel einer jeden Behandlung sollte sein, die Handlungsfähigkeit der Betroffenen zu stärken und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. So auch bei der Patientin. Nach langem Suchen befindet sie sich seit einigen Wochen in ambulanter Physio- und Psychotherapie. Außerhalb ihrer Sitzungen versucht sie, das Gelernte in den Alltag zu integrieren. Sie geht weiter in den Zoo, meistens mit den Kindern, manchmal allein. Wenn sie sich auf die Stimmen um sie herum konzentriert oder auf die Geräusche der Tiere, funktionieren ihre Beine besser. Statt auf Außengeräusche zu achten, sagt sie manchmal still ein Gedicht auf oder unterhält sich mit jemandem, so dass ihr Gehirn gar nicht dazu kommt, sich angestrengt auf die Bewegung zu konzentrieren. Zwischenzeitlich hatte sie aber auch eine Phase, in der es fast so schlimm war wie am Anfang. Es ist kein geradliniger Prozess. Sie arbeitet darauf hin, mehr gute Tage zu haben als schlechte. Ein paar Mal wurde sie schon darauf angesprochen, dass sie ja wieder ganz normal laufe. Ihr fiel das in diesen Momenten gar nicht auf – ihre Aufmerksamkeit war schließlich woanders.

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  • Quellen

Huys, A. C. et al.: Misdirected attentional focus in functional tremor. Brain 144, 2021

Palmer, D. D. G. et al.: Outcomes of an Integrated Multidisciplinary Clinic for People with Functional Neurological Disorder. Movement Disorders Clinical Practice 10, 2023

Sadnicka, A. et al.: Reduced drift rate: A biomarker of impaired information processing in functional movement disorders. Brain 143, 2020

Stone, J. et al.: Who is referred to neurology clinics? The diagnoses made in 3781 new patients. Clinical Neurology and Neurosurgery 112, 2010

Weissbach, A. et al.: Perception–action integration is altered in functional movement disorders. Movement Disorders 38, 2023

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