Geier: Ausgehungert und vergiftet
Am 12. Juli 2016 wird in der Nähe einer Windkraftanlage im Thüringer Wald ein verletzter Gänsegeier gefunden. Die Handschwingen sind nach oben abgebogen und aufgeschlitzt. Nach und nach fallen die Federn aus. Wie eine Röntgenuntersuchung später zeigt, ist auch die "Hand" des Geiers gebrochen. Der Jungvogel ist mit einem der Rotorblätter kollidiert. Flugunfähig und stark verletzt schafft er es trotzdem noch zur nahe gelegenen Landstraße, weil ihn da ein überfahrener Mäusebussard anlockt. Dort wird er entdeckt und eingefangen. Gypsi – so wird er schließlich von seinen Findern getauft – kommt zum Auskurieren seiner Verletzungen in eine nahe gelegene Falknerei. Die Handschwingen wachsen tatsächlich nach, so dass der Vogel nach einem Jahr wieder voll flugfähig ist.
Das Auswildern übernimmt die Geierschutzinitiative "Gesi" aus Baden-Württemberg. Am 31. August 2016 wird der Geier im Donautal wieder in die Freiheit entlassen. "Das Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell hat ihn auf unsere Bitte hin mit einem leistungsstarken Sender ausgestattet, so dass wir seine Flugbewegungen genau nachvollziehen konnten", sagt Dieter Haas, der Leiter der Geierschutzinitiative. Von den detaillierten Daten erhofft sich Haas wichtige Erkenntnisse zum Verhalten der großen Greifvögel. Am Ende hilft der Sender zweimal dabei, den abgestürzten Vogel zu retten.
Ein paar Tage bleibt Gypsi im Gebiet, dann fliegt er stramm nach Süden bis zum Matterhorn und Mont Blanc, wo er sich kurzzeitig anderen Geiern anschließt. Nach ein paar Tagen macht er kehrt und fliegt zurück nach Deutschland, wo er im Leipheimer Ried in der Nähe von Ulm landet. Durch die Beobachtung von Krähen und anderen Aasfressern entdeckt er auf seiner Rückkehr ins Donautal eine Stelle, an dem ein Jäger die Innereien des erlegten Wildes ausgelegt hatte. Das alles kann mit ein bisschen Verzögerung durch das Auslesen des Senders nachvollzogen werden.
Ein besonders tollpatschiger Geier?
"Es ist schön zu sehen, wie gut der Geier sich im Flachland zurechtfinden und problemlos Nahrung aufspüren kann", sagt Haas. Aber auch dort verweilt der Vogel nicht lange. Mit den kräftigen Herbststürmen lässt Gypsi sich zwei Wochen später bis nach Österreich treiben, wo er am 5. Oktober 2017 in der Nähe von Salzburg erschöpft zu Boden geht und wenig später von Menschen gefunden wird. Nach zweiwöchiger Pflege im Salzburger Zoo wird er wieder frei gelassen. Nur ein paar Tage später muss er in Slowenien kurz hinter der Grenze schon wieder notlanden. Entkräftet und orientierungslos lässt er sich bereitwillig einfangen. In anderthalb Jahren musste der Gänsegeier dreimal von Menschen gerettet werden. Ist Gypsi also ein besonders tollpatschiger Vogel oder einfach nicht kräftig genug, um selbstständig in der Natur zu überleben? Oder sieht man dank des Senders einfach die Gefahren viel besser, die auch andere Geier (und andere Arten) bedrohen?
"Gypsi hat ganz normales, für Geier typisches Verhalten gezeigt", erklärt Haas. Junge Geier fliegen auf ihren Suchflügen sehr weite Strecken – das ist schon lange bekannt. Und seit sich die Bestände im Süden Europas erholen, finden jedes Jahr mehr als 100 Bartgeier und Gänsegeier ihren Weg auch nach Deutschland. Dass Windkraftanlagen für viele Groß- und Kleinvögel sowie Fledermäuse eine tödliche Gefahr darstellen können, ist ebenfalls bekannt. In Deutschland sind bei den Großvögeln vor allem Rotmilane, See- und Schreiadler sowie Mäusebussarde betroffen. In Spanien fliegen auch Geier immer wieder gegen die Rotorblätter.
Rätselhafter sind die beiden Schwächeanfälle, die zweimal innerhalb eines Monats zum Aufgreifen des Vogels geführt haben. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Aasfresser grundsätzlich Schwierigkeiten haben, genügend Nahrung zu finden. Weil jedes tote Tier, das entdeckt wird, sofort aus der Landschaft entfernt wird. Die gründlichen Untersuchungen in Österreich haben aber gezeigt, dass Nahrungsmangel nicht der Grund für Gypsis Schwäche war. "Aber der Bleigehalt in seinem Körper war um ein Vielfaches höher als normal", betont Dieter Haas, der in engem Kontakt zu den Geierfreunden im Nachbarland steht. Gypsi leidet also unter einer akuten Bleivergiftung, die er sich mit Sicherheit über die Nahrung zugezogen hat.
Bleivergiftung als Todesursache fast der Hälfte der Seeadler
Ein Verbot von bleihaltiger Munition für die Jagd wird zwar immer wieder diskutiert und seit Jahrzehnten von Naturschutzorganisationen gefordert; ein striktes Verbot gilt in Deutschland aber nur in Schleswig Holstein, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und in Baden-Württemberg. Ob sich dort auch alle Jäger an das Verbot halten, ist eine andere Frage. In den übrigen Bundesländern – und in den meisten Ländern der EU – dürfen Jäger in ihren Revieren weiter mit Blei schießen. Durch angeschossene Tiere, die nicht vom Jäger gefunden werden, oder durch die Innereien, die zurückgelassen werden, bleibt das Blei in der Nahrungskette und kann von Aasfressern wie Seeadlern, Rotmilanen oder Geiern aufgenommen werden. Fast 40 Prozent aller verendeten Seeadler, die zwischen 1990 und 2003 in Brandenburg untersucht wurden, starben an einer Bleivergiftung.
Die hohe Konzentration von Schwermetall im Körper hat den jungen Geier nicht nur geschwächt, sondern möglicherweise auch sein Verhalten verändert. "Als Gypsi gefunden wurde, war er ungewöhnlich zutraulich. Auch das kann mit der Vergiftung zusammenhängen. Blei ist schließlich ein Nervengift", erklärt Dieter Haas. "Um das Blei aus dem Körper zu bekommen, wurde er einer so genannten Chelat-Therapie unterzogen", erzählt Haas weiter. Durch die Behandlung wird das Schwermetall aus dem Körper ausgeschwemmt, bevor es sich in den Knochen ablagern kann.
Gypsi spricht gut auf die Therapie an. Trotzdem ist noch nicht sicher, wo er ein drittes Mal wieder ausgewildert wird. Die Gefahr, dass er sich dann erneut an bleihaltiger Nahrung vergiftet, ist jedenfalls nicht auszuschließen. "Wir wissen noch nicht genau, wie es mit ihm weitergehen wird", sagt Haas. Bis endgültig geklärt ist, ob sich bei Gypsi das Blei nicht auch in den Knochen eingelagert hat, wird er ohnehin noch in Österreich bleiben.
Auswilderung noch ohne Happy End
Auch wenn der ersten Geierauswilderung in Deutschland noch kein endgültiges Happy End beschieden ist, sieht Dieter Haas doch einen großen Erkenntnisgewinn. "Wenn Gypsis Schicksal dazu beiträgt, dass die Gefahr, die von Bleimunition ausgeht, ernst genommen wird, ist das ein wichtiger Schritt", sagt Haas. Außerdem habe man an Gypsis Bewegungsmuster sehen können, dass er sich auch außerhalb der Alpen in Deutschland grundsätzlich wohl fühle. "Bis das endgültige Aus für Bleimunition kommt, brauchen wir dringend Futterstellen, an denen Geier und andere Vögel sicher fressen können."
Genügend Nahrung dafür gibt es in jedem Fall. Jedes Jahr werden mehr als 500 000 Tiere – vom Hasen bis zum Rothirsch – auf den Straßen in Deutschland überfahren. Die meisten "Roadkills" werden sehr schnell beseitigt und entsorgt. "Unmengen an Aas gehen der Natur so verloren", betont Haas. Wenn ein Teil dieser Verkehrsopfer an bestimmten Futterplätzen ausgelegt würde, könnten sich Geier und andere Aasfresser satt essen, ohne sich mit Blei zu vergiften. Durch einen Zaun könnte man außerdem Füchse, Wölfe und andere Mitesser von der Futterstelle fernhalten.
Theoretisch ist das Einrichten von Kadaverplätzen durchaus möglich. Praktisch gibt es aber oft nur schwer zu überwindende bürokratische Hürden, die logisch nicht unbedingt nachzuvollziehen sind: Jäger können im Sinne der "guten jagdlichen Praxis" erlegte Tiere oder Teile davon an selbst gewählten Plätzen offen liegen lassen. Für Naturschützer dagegen, die Kadaver auslegen wollen, ist eine behördliche Genehmigung zwingend erforderlich, und das, obwohl die gleichen Kadaver – nur ohne Bleibelastung – zum Einsatz kommen sollen.
Bürokatie verunmöglicht bleifreien Futterplatz
Für die Geierinitiative Gesi hat Dieter Haas auf der Schwäbischen Alb im Januar 2012 einen Futterplatz für Aasfresser beantragt. Der wurde ihm schließlich auch genehmigt, allerdings nur an einer Stelle, die höchstens suboptimal geeignet ist, am Ortsrand in einem umzäunten Grundstück. Ein anderes zukunftsweisendes Projekt konnte nicht umgesetzt werden, weil die beteiligten Behörden die Genehmigung mit einer Unmenge an Auflagen verbanden. "Wir wollten im Biosphärenreservat Schwäbische Alb bei Münsingen einen Platz einrichten, an dem die Besucher Geier und andere Greifvögel unter optimalen Bedingungen erleben können", sagt Haas. Sogar ein paar Geier aus Spanien hätte er dafür bekommen können, die geholfen hätten, andere misstrauische Geier anzulocken. Am Ende wurde das Vorhaben zwar nicht direkt verboten, aber an so viele Auflagen geknüpft, dass eine Umsetzung trotz gesicherter Finanzierung unmöglich wurde.
Mit einem günstig gelegenen, sicheren Futterplatz und ein paar spanischen Lockvögeln hätten sich die ersten Geier möglicherweise schon in Deutschland niedergelassen. Dass die durch Pulver und Blei ausgerotteten Geier wieder in Deutschland heimisch werden können, steht für Haas außer Frage – wenn die Menschen es denn zulassen: "Bartgeier und Gänsegeier brüten nur ein paar Kilometer von der Grenze entfernt", so Haas. Der Bartgeier sei schon jetzt Jahresvogel in Deutschland. Würde nur ein kleiner Teil der überfahrenen Tiere in der Landschaft liegen gelassen und auf Bleimunition verzichtet, "dann werden schon in wenigen Jahren Geier auch bei uns brüten."
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