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Unsere Galaxis: Warum ist die Milchstraße verkrümmt?

Die galaktische Ebene besteht aus Sternen, Gas und Staub. Beobachtungsdaten des ESA-Satelliten Gaia zeigen, dass diese Materiescheibe gewunden ist. Woran liegt das?
Eine wissenschaftliche Abbildung zeigt die Seitenansicht einer Galaxie im Weltraum. Die Galaxie erscheint als dünner, leuchtender Streifen mit einem hellen Zentrum, das von einem diffusen Licht umgeben ist. Auf beiden Seiten des Streifens sind farbige Punkte in Blau und Rot zu sehen, die möglicherweise Sterne oder andere astronomische Objekte darstellen. Der Hintergrund ist schwarz, was den Kontrast zur Galaxie verstärkt. Diese Darstellung könnte zur Untersuchung der Struktur und Verteilung von Sternen in der Galaxie dienen. Schlüsselwörter: Galaxie, Weltraum, Sterne, Astronomie.
Beobachtungen mit der ESA-Mission Gaia belegen eine riesige Welle, die durch unser Milchstraßensystem läuft. Dieses Bild basiert auf Gaia-Daten und zeigt den Blick auf die Kante unserer Galaxis; die Farbe der Datenpunkte gibt Auskunft über ihre relative Position: Rote Punkte befinden sich oberhalb der Scheibe und blaue darunter.

Ich muss gestehen: Ich habe Sie angelogen.

Bei vielen Gelegenheiten habe ich erklärt, dass unsere Galaxis eine flache Scheibe ist. Dabei ist sie nicht wirklich flach.

Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass ich nicht per se gelogen habe, sondern nur stark vereinfacht. Das ist in der Wissenschaft durchaus akzeptabel und sogar vorteilhaft. Wenn man versucht, etwas Komplexes zu verstehen oder zu erklären, ist es hilfreich, es so einfach wie möglich zu machen, damit die Mathematik und Physik leichter zu verstehen sind. Das ist so, als ob man anfangs annimmt, dass die Erde eine perfekte Kugel ist oder dass die Sonne die gesamte Masse des Sonnensystems enthält. Sobald man die grundlegenden Gleichungen zur Beschreibung des vereinfachten Modells aufgestellt hat, kann man nach und nach mehr Komplexität hinzunehmen – aber so, dass das Problem überschaubar bleibt.

Wenn man das Leuchten der Milchstraße von einem dunklen Ort aus betrachtet, sieht sie tatsächlich flach aus. Und viele ähnliche Galaxien und ihre Scheiben tun das auch. Doch viele von ihnen, vielleicht sogar die meisten, sind es nicht. Sie sind gekrümmt. So wie unsere Galaxie.

Zunächst ein kurzer Überblick: Das Milchstraßensystem wird als Scheibengalaxie eingestuft, mit einer breiten, kreisförmigen Ansammlung von Sternen, Gas und Staub mit etwa 120 000 Lichtjahren Durchmesser. Sie ist einige Tausend Lichtjahre dick, sodass »flach« zumindest ein passendes Adjektiv für sie ist. In der Mitte befindet sich eine zentrale Ausbuchtung aus Sternen, und das Ganze ist von einem riesigen Halo aus Sternen und Dunkler Materie umgeben, der etwa eine Million Lichtjahre breit ist.

Dieser letzte Teil ist wichtig. 

Denn wir wissen schon seit einiger Zeit, dass die Scheibe der Milchstraße zu ihren Rändern hin verzogen ist, auf der einen Seite nach oben und auf der anderen nach unten gewölbt – ähnlich wie die Krempe eines Filzhuts. In einer im Jahr 2019 in der Fachzeitschrift »Science« veröffentlichten Studie wurde diese Vorstellung jedoch erheblich verfeinert. Das Astronomenteam, das für diese Arbeit verantwortlich war, verwendete Daten von Gaia, einer jetzt stillgelegten Mission der Europäischen Weltraumbehörde ESA, welche die Positionen, Bewegungen und Entfernungen von mehr als einer Milliarde Sternen kartierte. Sie untersuchten speziell die Daten von Gaia für etwa 2400 Cepheiden-Veränderlichen – einer besonderen Art von Sternen, die pulsieren, also ihre Größe variieren und daher ihre Helligkeit verändern. Die Zeit, die ein Cepheid braucht, um seine Helligkeit zu verändern, hängt mit seiner Leuchtkraft zusammen, also mit der Energiemenge, die er abgibt. Aus dem Vergleich der Leuchtkraft oder absoluten Helligkeit eines Cepheiden mit der beobachteten (scheinbaren) Helligkeit dieses Sterns an unserem Himmel lässt sich seine Entfernung berechnen.

Durch die Kartierung so vieler Cepheiden in der galaktischen Ebene waren die Forschenden in der Lage, die Form der Milchstraßenscheibe nachzuvollziehen. Dabei fielen die Verwerfungen besonders auf: Unsere Galaxis sieht ein bisschen aus wie eine Vinyl-LP, die zu lange in der Sonne gelegen hat (Kinder, fragt eure Großeltern).

Was verursacht eine solche Verformung? Es ist möglich, dass eine Kollision mit einer kleineren Galaxie die Sterne in der Scheibe durch die Schwerkraft beeinflussen könnte, ähnlich wie die Wellen in einem Teich, nachdem ein Stein hineingeworfen wurde. Aber ein Astronomenteam, das seine Forschungsergebnisse im Jahr 2023 in dem Fachjournal »Nature Astronomy« veröffentlichte, hatte eine ganz andere Idee für das, was am Rand unserer Galaxie zerrt: Dunkle Materie.

Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Galaxis in einen Halo aus Sternen und Dunkler Materie eingebettet. Etwa ein Jahr vor der Veröffentlichung der genannten Studie haben einige Team-Mitglieder zusammen mit anderen Astronomen entdeckt, dass der stellare Halo nicht kugelförmig ist wie bisher angenommen. Stattdessen erscheint er länglich und ein wenig gequetscht, ein bisschen wie ein abgeflachter American Football. Außerdem neigt er sich in Bezug auf die Ebene der Galaxis.

Die Forschenden vermuteten, dass der diffusere und kaum sichtbare Halo aus Dunkler Materie die gleiche Form wie der stellare Halo haben könnte. Indem sie die Auswirkungen des viel massereicheren Halos der Dunklen Materie modellierten (indem sie annehmen, er wäre ähnlich strukturiert und ausgerichtet), fanden sie heraus, dass dies ein Gravitationsfeld erzeugt, das an der Scheibe zerrt. Das würde nicht nur die Form und Größe der Verwerfung, sondern auch ihre Ausrichtung in der Scheibe erklären. Das ist zwar kein stichhaltiger Beweis, aber ein ziemlich solides Argument.

Allerdings ist das nicht der einzige Grund, wieso die Scheibe unserer Galaxis aus dem Gleichgewicht geraten ist. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass sie auch geriffelt ist.

Erst in diesem Jahr hat ein anderes Forschungsteam mithilfe von Gaia-Daten 17 000 junge Sterne – die sich in der Regel genau in der Mitte der Galaxienscheibe bilden – und 3400 Cepheiden-Variablen in einer Region der Milchstraße mit einem Durchmesser von mehreren Zehntausend Lichtjahren untersucht. Sie haben herausgefunden, dass es in der Hauptscheibe und bis weit in die verzogenen äußeren Teile hinein eine auf- und absteigende Welle gibt, eine Struktur, die der Riffelung in dickem Karton ähnelt.

Sie ähnelt einer »La-Ola-Welle«, die Sportfans im Stadion machen und dabei aufstehen und sich wieder hinsetzen, was eine wellenförmige Erscheinung erzeugt. In unserem Fall bewegen sich die Sterne in der Galaxis relativ zur Ebene der Scheibe auf und ab. Da so viele der gemessenen Sterne jung sind, vermuten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass auch das Gas in der Galaxis, aus dem die Sterne entstehen, sich auf und ab bewegt. Was auch immer es ist, es ist also der Struktur der Scheibe eigen.

Die Ursache für diese Welle ist nicht bekannt, obwohl der wahrscheinlichste Schuldige in diesem Fall eine Kollision mit einer kleineren Galaxie ist. Ein möglicher oder sogar wahrscheinlicher Verursacher ist die Zwerggalaxie Sagittarius, ein kleines Objekt mit einem winzigen Bruchteil der Masse des Milchstraßensystems. Sie umkreist unsere Galaxis in einer fast vertikalen Schleife und taucht dabei durch die Scheibe. Im Jahr 2018 veröffentlichten Astronomen einen Artikel in der Fachzeitschrift »Nature«, in dem sie – wiederum unter Verwendung von Gaia-Daten – Wellenbewegungen bei sechs Millionen Sternen in einem Umkreis von etwa 10 000 Lichtjahren um die Sonne fanden, die den in der äußeren Scheibe gefundenen Wellen ähneln. Es könnte also sein, dass die Sagittarius-Galaxie diese Strukturen bei ihrem letzten Durchgang durch die Scheibe vor mehreren Hundert Millionen Jahren erzeugt hat.

Auch die Sonne zeigt diese Bewegung; vorsichtige Messungen offenbaren, dass sie eine vertikale Geschwindigkeit hat, während sie das galaktische Zentrum umkreist. Das bedeutet, dass unser Sonnensystem auf und ab wackelt. Von Zeit zu Zeit bewegt sie sich durch die Scheibe, entfernt sich ein wenig von ihr und wird dann von der Schwerkraft der Scheibe zurückgezogen, sodass der Zyklus von Neuem beginnt. Dieses Element der Bewegung unseres Sterns könnte ein Teil dieser größeren Welle sein.

Ich habe also nicht wirklich gelogen, was unsere flache Scheibe angeht. Ich habe lediglich über Details hinweggesehen, die für eine Diskussion über die Gesamtstruktur der Galaxie nicht notwendig sind. Dennoch lohnt es sich, diese zusätzlichen Effekte zu betrachten – sie verraten uns etwas über die Geschichte unseres Milchstraßensystems und können sogar aufzeigen, welche Rolle die Sonne dabei spielt.

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