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News: Ganz frühe Krabbler

Nach pflanzlichen Pionieren besiedelten bald auch erste landlebende Insekten die festen Gestade der Erde - und erhoben sich offenbar schon recht früh auch in die Luft. Wann genau aber entflogen die ersten geflügelten Sechsbeiner der Krabbelstube?
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Mit Rekorden ist es so eine Sache, zumal mit offiziellen. Schließlich ist zum Beispiel durchaus anzunehmen, dass irgendein schneller Mann bereits irgendwo einmal einhundert Meter in weniger als 9,78 Sekunden zurückgelegt hat – und damit noch schneller lief als der US-Amerikaner Tim Montgomery, seit 2002 anerkannt als "schnellster Sprinter der Welt". Nur, falls wirklich jemand einmal schneller war, gilt das nicht: Gesehen hat es eben keiner, glaubhaft bezeugen kann es niemand.

So strenge Maßstäbe sollte man an den neuen Rekord von Rhyniognatha hirsti nicht anlegen – das Urinsekt stellte ihn wohl gut 400 Millionen Jahre vor dem Auftauchen erster potenzieller menschlicher Zeugen auf. Wie David Grimaldi und Michael Engel von der Universität Kansas berichten, ist ein fossiles Fundstück von Rhyniognatha hirsti älter als alle bislang untersuchten Kerbtierreste – und damit neuer ältester Insektenfossil-Fund.

Die Rhyniognatha-Fundstücke – bestehend aus kaum mehr als den Resten ehemaliger Mundwerkzeuge, die aus einer mindestens 396 Millionen Jahre alten Schicht schottischen Rotsandsteins gekratzt worden waren – mussten lange warten auf ihre Bestätigung als Rekordhalter. Sie fanden sich bereits vor rund 90 Jahren im schottischen Rhynie, verstaubten dann aber im Archiv, und lange Zeit interessierte sich niemand besonders dafür. Erst Engel und Grimaldi stolperten nun über ein paar alte Dias des Fossils und erkannten darin etwas Besonderes: Bei den aufgenommenen Resten handelte es sich eindeutig um Insekten-Kieferzangen.

Genauere Untersuchungen bestätigten diese dann als echte "Mandibel" mit zwei Gelenkansatzstellen. Am Insekten-Opa diese so genannte dicondyle Aufhängung der Kiefer zu entdecken, war gleich die nächste Überraschung: Solche nahezu modernen Kauwerkzeuge entwickelten sich erst nach und nach im Laufe der Insektenevolution. Frühen und ursprünglichen Formen oder gar den Vorfahren der Kerbtiere fehlen die zwei typischen Kaugelenke – woraus zwangsläufig folgt, dass Insekten zu Lebzeiten von Rhyniognatha, im frühen Devon vor 400 Millionen Jahren, bereits recht mannigfaltig entwickelt waren.

Tatsächlich erinnern Form und Strukturmerkmale der Kiefer-Mundwerkzeuge schon stark an heute lebende fliegende Insektengruppen. Rhyniognatha ist demnach, so schlussfolgern die Wissenschaftler, nicht allein ein ziemlich alter Krabbler, sondern vielleicht sogar eine Frühform fliegender Insekten – auch wenn der endgültige Beweis dafür, fossile Überbleibsel von Flügeln, beim lückenhaft erhaltenen Rhyniognatha-Fundstück nicht gefunden wurde.

Wenn die Insekten tatsächlich im frühen Devon bereits auf dem Sprung zum Flug waren, dann muss wohl die gesamte Insekten-Evolutionsgeschichte weit in die Vergangenheit zurückverlegt werden, meinen die Wissenschaftler. Passen würde dies zu jüngsten Befunden aus DNA-Vergleichen verschiedener geflügelter Insektenordnungen. Die Studien waren zum Schluss gekommen, dass erste Kerbtiere schon vor 434 Millionen Jahren krabbelten und vor mindestens 387 Millionen Jahren bereits flogen – im mittleren Devon, früher als zuvor vermutet.

Diese Meinung dürfte nicht ganz unumstritten bleiben. Flugleistungen, so die herrschende Theorie, erforderten schließlich eine besonders gute Sauerstoffversorgung, die erst in späteren Zeiten der Erdgeschichte, etwa Perm und Karbon mit ihrer sauerstoffreicheren Atmosphäre, sichergestellt war – nicht aber im Devon, als die Luft etwa 15 Prozent niedrigere O2-Gehalte aufwies.

Wären geflügelte Insekten aber tatsächlich erst etwa im frühen Karbon entstanden, kontert Engel, dann wären sie den ersten baumartigen Pflanzen um doch einige Zeit nachgefolgt – wohl unwahrscheinlich. Vielmehr vermutet er eine parallele Koevolution von höherem Pflanzenwuchs und dem Entstehen von Flügeln. Diese entwickelten sich wohl sinnvollerweise in Lebensräumen, in denen zunehmend luftigere Höhen erreichende Absprungpunkte zum Erlernen von energiesparendem Abwärtsgleiten einladen. Zu Zeiten von Rhyniognatha aber seien erste Strauchpflanzen gerade einen Meter hoch gewachsen, so der Forscher: Ideale Bedingungen zum Erlernen der ersten kontrollierten Luftsprünge und genug Zeit, um sie nach und nach zu echtem Flug zu perfektionieren.

Das neue älteste Insekt ist also vielleicht sogar Doppelrekordhalter als frühester Verwandter aller flügeltragenden Insekten. Er wird es nicht bleiben, bei all der zu erwartenden Menge seiner Vorfahren. Noch lauern die allerdings unentdeckt im Boden – quasi in den Startlöchern.

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