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News: Ganz neue Blickwinkel

Sinus, Cosinus, Tangens - was manchen in der Schule schwer geplagt hat, ist für unser Gehirn alltägliche Routine. Denn mithilfe bestimmter Winkel berechnet es die Entfernung fixierter Objekte. Wird ihm der Blick auf die Welt verzerrt, kommt es daher zu falschen Ergebnissen.
Schwimmt ein Ball direkt vor uns im Meer, sehen wir ihn zu unseren Füßen. Je weiter er jedoch hinaus treibt, desto mehr wandert er in unserem Gesichtsfeld nach oben in Richtung Horizont und damit in die waagerechte Blickachse, bis wir ihn nicht mehr erkennen können. Woraus schließen wir, dass sich die Entfernung vergrößert? Das Objekt wird immer kleiner, werden viele sagen.

Aber das ist nicht der einzige Hinweis. Denn zwischen dem Ball und dem Beobachter existiert ein rechtwinkliges Dreieck – eine Seitenkante bildet die Augenhöhe des Betrachters, während senkrecht dazu die Distanz von den Füßen bis zum Objekt die zweite Seitenkante darstellt. Die optische Achse – also der Blick aus den Augen zum Ball – ergibt dann die Hypotenuse. Und da unser Gehirn zahlreiche komplizierte Rechenverfahren beherrscht, warum dann nicht auch Trigonometrie: Aus dem Tangens des Winkels zwischen horizontaler Achse und Blick auf das Objekt sowie der Körpergröße könnte es die Entfernung des Objekts berechnen.

Eine Vermutung, die schon lange existiert, durch Versuche aber nur schwer nachzuweisen ist. Doch die ausgeklügelten Experimente von Teng Leng Ooi vom Southern College of Optometry und ihren Kollegen schließen nun diese Lücke. Zunächst ließen die Wissenschaftler ihre Versuchspersonen ein Objekt am Boden betrachten, verbanden ihnen dann die Augen und baten sie, blind zu dem Gegenstand zu gehen und mit der Hand dessen Position genau zu kennzeichnen – eine Aufgabe, die alle Teilnehmer recht problemlos erfüllten.

Dann jedoch erhielten die Freiwilligen Brillen mit Prismen, die Strahlen nach oben ablenkten – um dasselbe Objekt zu fixieren, mussten die Personen ihren Blick nun stärker nach unten richten. Diese größere Abweichung zur horizontalen Achse zeigte sich, als die Teilnehmer nun wiederum mit verbundenen Augen die Position angeben sollten: Sie blieben immer zu früh stehen.

Konnten sie sich aber zunächst 20 Minuten an ihre neue Sicht der Welt gewöhnen, kehrte auch das richtige Entfernungsempfinden zurück. Allerdings gerieten sie wieder in Schwierigkeiten, als sie die Brillen dann ablegten: Ihr Blick auf den Horizont war nun nicht mehr waagerecht, sondern aufgrund der ständigen Ablenkung durch die Prismen leicht nach unten gerichtet. Durch den geringeren Winkel zwischen der vermeintlichen Horizontalen und dem Blick auf das Objekt verfielen sie nun ins andere Extrem und überschätzten die Distanzen, bis sich das Gehirn wieder auf die alten Verhältnisse einstellte.

Um zu überprüfen, dass wirklich der waagerechte Blick als Bezugslinie benutzt wird, ließen die Forscher ihre Kandidaten anhand leuchtender Punkte im Dunkeln die eigene Augenhöhe bestimmen – sowohl ohne als auch mit Prismen und dies mit und ohne Gewöhnungszeit. Die selbstständige Einschätzung zeigte deutlich, wie sich die innere Wahrnehmung des Horizontes durch die Prismen veränderte.

Zu den verschiedenen Mechanismen, über die wir uns in der Umwelt orientieren, kommt also nun noch die Trigonometrie hinzu. Da sie auf Informationen beruht, für die man nur ein Auge benötigt und nicht beide, ist sie für technische und medizinische Anwendungen interessant. Und die Ergebnisse zeigen einmal mehr, wie sich auch einäugige Menschen in unserer komplexen, dreidimensionalen Umwelt zurechtfinden können.

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