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Neurobiologie: Gartenschere gegen Jugend-Wildwuchs

Hemmungsloses Wuchern ist nie gut - gerade wenn es Hirnzellen sind, die wild durcheinander zu wachsen drohen. Eine zelluläre Heckenschere stutzt offenbar, wenn und wann es nötig wird.
Menschenschädel
Was im Kopf manches Dreijährigen vorgeht, ist für Erwachsene völlig unverständlich – aber das gilt bestimmt auch umgekehrt. Es gilt auch für Neurobiologen. Das Gehirn jüngster Menschen ist gänzlich anders als jenes der Großen, stand lange fest: Viel formbarer und flexibler, während im Erwachsenen einmal angelegte Neuronenbahnen nicht mehr verändert oder beim Ausfall ersetzt werden. Diese Vorstellung überholt sich allerdings mehr und mehr.

Unser Nervengeflecht im Kopf ist zwar besonders in bestimmten Entwicklungsphasen bei den Kleinsten ein gezielt dynamisch ummoduliertes Netzwerk mit erstaunlicher Verformbar- und Wandelbarkeit, also enorm hoher "neurologischer Plastizität". Allerdings bleibt es auch später mehr plastisches Organ als statisches Netzwerk aus starr verbundenen Einzelteilen, es reagiert vielmehr ständig auf Einflüsterungen des genetischen Programms und der Umwelt, wächst, verändert sich und wird durch Erfahrungen beeinflusst. Neuronale Plastizität, soviel ist seit einiger Zeit anerkannt, findet nicht nur in frühkindlichen Köpfen statt.

Mit diesem neuen Blick stellen sich Neurobiologen aber auch neue Fragen. Wenn Nerven ständig umgebaut werden können, so es nötig ist – was verhindert dann eigentlich einen dauernden Umbau, der nicht nötig, sondern schädlich ist? Wer ordnet im Chaos die hohe Plastizität? Welcher Mechanismus bremst, nach dem ersten wilden Auf- und Umbau der Jugend und Lernjahre, irgendwann im Laufe der Reife einen ebenso wilden Abbau von Verbindungen, die sich als sinnvoll herausgestellt haben?

Einige molekulare und zelluläre Hemmmechanismen, welche die Verknüpfung von Synapsen beeinflussen, sind mittlerweile gut bekannt. Carla Shatz und ihre Kollegen von der Harvard Medical School entdeckten nun etwas mehr als das: Sie berichten von einem Proteinregulator, der bei Erwachsenen und Kindern modulierend eingreift – und bisher eigentlich in einem ganz anderen Zusammenhang bekannt war.

Die Forscher hatten gentechnisch veränderte Mäuse gezüchtet, denen ein bestimmtes Immunprotein fehlte, der Paired immunoglobulin-like receptor B (Pir-B). Dadurch sollten Neuronen im gesamten Gehirn einen fleißigen Helfer verlieren, wie eine In-Situ-Hybridisierung an Normalmäusen zuvor gezeigt hatte: Der Rezeptor wird gewöhnlich von Tieren aller Alterstufen in allen möglichen Gehirnregionen an Nervenzellen angebaut. Ihn zu entfernen, sollte demzufolge nicht folgenlos bleiben.

Verblüfft stellten die Forscher aber zunächst fest, das jungen und älter werdenden Mäusen ohne Pir-B nichts zu fehlen schien. Die Forscher nahmen daraufhin einen klassischen Test zur Abschätzung neuronaler Plastizität vor. Dabei wird ein Auge eines Nagers verdeckt, woraufhin das andere die Funktion beider Augen übernehmen muss. Je nach Alter des Versuchstiers beim Eingriff geschehen im für das Sehen zuständigen Gehirnbereich, dem visuellen Kortex, nun unterschiedliche Dinge. War der Kortex bei sehr jungen Tieren noch flexibel, so wandern Neuronen des gesunden Auges in die brach liegende, weil nicht mehr durch das erblindete Auge gereizte Hälfte des Hirnareals ein. Die neuronale Plastizität der reizlosen Seite verebbt aber schlagartig ab einer bestimmten Entwicklungsstufe der Tiere – nach diesem Zeitfenster können die Neuronen dort nicht mehr sprossen.

Das alles gilt im Normalfall – nicht aber bei den gentechnisch veränderten Tieren ohne Pir-B-Rezeptor, bemerkten Shatz und Kollegen. Auch alte Mäuse, deren visuelle Kortizes längst ihre neuronale Plastizität eingebüßt haben sollten, bauten beim Einaugentest munter weiter Neuronen im für das blinde Auge zuständigen visuellen Nervenareal. Bei sehr jungen Pir-B-losen Mäusen war die ohnehin hohe neuronale Plastizität nochmals deutlich stärker als bei unveränderten Mäusen.

Offenbar scheint Pir-B ein molekularer Hemmschuh und Regulator der Plastizität zu sein, schlussfolgern die Wissenschaftler. Das überrascht, denn bisher war der Rezeptor nur für seine Rolle im Immunsystem bekannt. Er zählt zu den so genannten MHC-Klasse-I-(MHCI)-Rezeptoren, deren bekannteste Funktion im Vermitteln der Körperabwehrkräfte besteht. Die Produkte der MHC-Gene, eingedeutscht des Haupthistokompatibilitätskomplexes, fangen im Rahmen einer Immunantwort Bruchstücke körperfremder Antigene ein und präsentieren sie benachbarten Abwehrzellen. Die MHC-Moleküle jedes Individuums sind einzigartig und dienen vor dem Abwehrsystem des Körpers als Erkennungsausweis – fehlt dieser, wird der Ausweislose als körperfremd entlarvt und bekämpft.

MHCI-Rezeptoren wie Pir-B spielen aber eben nicht nur eine Rolle im Immunsystem – mit ihnen erkennen sich, glauben Shatz und Co, auch zusammentreffende Neuronen und handeln dann ihre Synapsenverbindung aus. Tatsächlich fusioniert Pir-B in normalen Mäusen mit dem MHCI von Neuronen, zeigten die Forscher. Für eine Rolle als Plastizitätshemmer scheint er dort dann prädestiniert – aus seiner Funktion im Immunsystem ist klar, dass er etwa die Zellmobilität bremst, in den Aufbau des Zellgerüstes eingreift und die Reaktion von Zellen auf Integrin-abhängige und Kalziumsignale moduliert. Kalziumionen etwa sind aber Teil eines Verknüpfungsbefehls zwischen Nerven – eines Befehls, der von Pir-B gut blockieren werden könnte, um so unerwünschte neuronale Kontakte und damit neuronale Plastizität zu unterbinden.

Damit, so Shultz' Mitarbeiter Josh Syken, werde deutlich, dass Plastizität nicht nur durch bestimmte Faktoren hervorgerufen wird, denn "andere Mechanismen steuern dagegen und hemmen sie".

Auch das erwachsene Gehirn kann also durchaus noch sehr dynamisch werden, wenn ein paar Bremsen gelöst werden. Ob man dadurch zum Dreijährigen wird, konnten die Nager-Versuche noch nicht endgültig belegen.

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