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Gedächtnisforschung: Warum aktives Vergessen manchmal heilsam ist

Manche Erlebnisse würde man am liebsten aus dem Gedächtnis streichen. Das geht, wie aktuelle Forschung zeigt – zumindest bis zu einem gewissen Maß. Vielleicht schützt das gezielte Unterdrücken von Erinnerungen sogar vor Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen.
Familienfoto hängt an einer Lichterkette. Zwei Hände greifen danach.
An schöne Momente erinnern wir uns gerne. Doch manchmal kann es auch hilfreich sein, Dinge bewusst zu vergessen, etwa, wenn es um schlimme Erlebnisse geht. (Symbolbild)

Bei einem Vortrag den Faden verloren, beim Abschlussball vor allen Freunden und Verwandten gestolpert, eine intime Textnachricht an den Firmenmailverteiler versendet: Manche Erlebnisse brennen sich ins Gedächtnis ein und lösen auch Jahrzehnte später Scham aus. Belastender als peinliche Erinnerungen sind in aller Regel solche an Gewalt oder Gefahrensituationen, die die Betroffenen in einigen Fällen noch lange Zeit verfolgen. Manchmal reicht schon ein harmloses Geräusch oder ein Geruch als Auslöser, um die schlimmsten Momente wieder hervorzubringen.

Wie schön, wie praktisch, wie erlösend wäre es da, manche Erlebnisse einfach bewusst zu vergessen. Aber geht das wirklich? Und wenn ja: Wäre es überhaupt eine gute Idee?

Dass man Erinnerungen tatsächlich unterdrücken kann, belegt inzwischen eine Vielzahl von Studien. Ihnen zufolge wird es schwieriger, Erinnerungen abzurufen, wenn Menschen konsequent versuchen, sie daran zu hindern, ins Bewusstsein vorzudringen. Außerdem deuten Untersuchungen darauf hin, dass wir Dinge leichter vergessen, je öfter wir alle Gedanken an sie vermeiden.

Wie Erinnerungen entstehen

Um genauer zu verstehen, wie sich Erinnerungen unterdrücken lassen, muss man zunächst wissen, wie der Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis normalerweise funktioniert. Jede Erinnerung besteht in der Regel aus einem bestimmten Aktivitätsmuster im Gehirn. Beim Speichern und Abrufen dieses Musters spielt der Hippocampus, eine Hirnregion, deren Form ein wenig der eines Seepferdchens ähnelt, eine entscheidende Rolle. Vereinfacht kann man kann es sich so vorstellen, als würde der Hippocampus beim Entstehen einer neuen Erinnerung eine Art Schnappschuss des Aktivitätsmusters machen. Denken wir später an das Ereignis zurück, spult das Gehirn, ausgehend vom Hippocampus, das Aktivitätsmuster erneut ab: Wir erinnern uns.

Um Erinnerungen zu unterdrücken, muss man in diesen Vorgang eingreifen. Dazu ist vermutlich ein hemmender Mechanismus nötig, erklärt Michael Anderson, Professor für Neurowissenschaften an der University of Cambridge. Das könne man etwa vergleichen mit dem Impuls, einen heißen Topf anzufassen, und sich dann, während die Handlung bereits im Gang ist, selbst zu stoppen. In diesem Fall bremst der dorsolaterale präfrontale Kortex, der eine zentrale Rolle bei der Handlungsplanung spielt, den motorischen Kortex aus, der für die Bewegungssteuerung verantwortlich ist. »Vermutlich zeigt sich ein ähnliches Muster, wenn wir eine Erinnerung unterdrücken«, sagt Anderson. Nur dass in diesem Fall die Aktivität des Hippocampus vom präfrontalen Kortex gehemmt wird.

Wahrscheinlich halten wir auf diese Weite sehr viel häufiger Erinnerungen davon ab, wieder hervorzukommen, als uns bewusst ist. Inzwischen gehen Forscher allerdings davon aus, dass die so genannte Abrufunterdrückung auch willentlich funktioniert. Die Frage war lange Zeit jedoch: Verblassen damit auch die Spuren der Erinnerung im Gehirn? Oder ist nur der Abruf nicht mehr möglich?

Erinnerungen zu unterdrücken, lässt die Gedächtnisspur im Gehirn verblassen

Dieser Frage gingen Roland Benoit und Ann-Kristin Meyer vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig in einer Studie nach, deren Ergebnisse sie im März 2022 im Fachmagazin »eLife« veröffentlichten. Für die Untersuchung ließen sie ihre Versuchspersonen zunächst gezielt Erinnerungen bilden, indem sie ihnen immer wieder bestimmte Bildpaare zeigen – etwa eine Szene von einer Flutkatastrophe zusammen mit der neutralen Abbildung eines Gummistiefels. Per funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) konnten sie beobachten, wie dabei ein breites Netzwerk von Arealen im Gehirn aktiv wurde – unter anderem im parahippocampalen Kortex, einer Region, die ebenfalls eine wichtige Rolle beim Erinnern und Erkennen von Dingen spielt.

»Die Gedächtnisspur scheint verloren gegangen oder zumindest verblasst zu sein«Roland Benoit, Neurowissenschaftler

Im zweiten Teil des Experiments bekamen die Teilnehmer nur noch das neutrale Bild zu sehen (den Gummistiefel) und wurden gebeten, die zugehörige Szene dieses Mal aus ihrem Gedächtnis abzurufen (die Flutkatastrophe). Dabei spulte ihr Gehirn im parahippocampalen Kortex sowie in anderen Arealen erwartungsgemäß das gleiche Aktivitätsmuster ab wie beim Betrachten der Szene. Anders sah es hingegen aus, als die Probanden angewiesen wurden, die Erinnerung an die Bilder der Flutkatastrophe beim Anblick des Gummistiefels gezielt zu unterdrücken: Nun glich ihre Hirnaktivität dem ursprünglichen Aktivitätsmuster nicht mehr sonderlich. Selbst als Benoit und seine Kollegin die Probanden später baten, sich doch noch einmal an die zuvor unterdrückten Szenen zu erinnern, kehrte das ursprüngliche Aktivitätsmuster nicht mehr zurück. »Die Gedächtnisspur scheint verloren gegangen oder zumindest verblasst zu sein«, schlussfolgert Benoit daraus.

Michael Anderson geht davon aus, dass durch das Unterdrücken von Erinnerungen nicht nur ihr Abruf schwieriger wird: Es macht sie vermutlich auch weniger lebhaft und weniger belastend. »In einem Experiment zeigten wir Probanden sehr unangenehme Bilder und maßen dabei ihre Hautleitfähigkeit und Herzrate als Beleg für eine körperliche Reaktion«, erklärt der Neurowissenschaftler. Nachdem die Versuchspersonen einen Teil der belastenden Szenen unterdrücken sollten, deuteten sowohl die Herzrate als auch die Hautleitfähigkeit darauf hin, dass die Szenen nun weniger Stress bei ihnen auslösten.

Vergessen kann man üben

Studien zufolge sind Menschen im Alltag unterschiedlich gut darin, Erinnerungen zu unterdrücken. Wie leicht es einer Person gelingt, unerwünschte Bilder und Gedanken beiseitezuschieben, scheint dabei damit zusammenzuhängen, was sie bereits erlebt hat: Menschen, die schon mehrere Traumata durchleben mussten, sind besser darin als solche, die wenige oder keine schlimmen Erlebnisse in ihrer Vergangenheit zu verzeichnen haben. »Daher gehen wir davon aus, dass man diese Fähigkeit üben kann«, sagt Anderson. »Wie bei den meisten Dingen im Leben ist es wahrscheinlich so: Je mehr man es macht, desto besser wird man darin.«

Doch wie sieht das bei Menschen mit psychischen Erkrankungen aus, die dadurch gekennzeichnet sind, dass unangenehme Bilder und Szenen immer wieder vor ihrem inneren Auge auftauchen – etwa bei Depressionen oder einer Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)? Ist die Fähigkeit, Erinnerungen zu unterdrücken, bei diesen Personen schlechter? Das untersuchte Roland Benoit mit einigen Kollegen in einer 2020 erschienenen Metaanalyse. »Tatsächlich zeigte unsere Auswertung von 25 Studien, dass sich ängstlichere oder depressivere Menschen generell schwerer damit taten, Erinnerungen zu unterdrücken«, erklärt der Forscher. Und je schlechter ihnen das gelang, desto stärker war bei den Betroffenen mitunter auch die Tendenz zu Grübeleien und negativen Gedankenspiralen ausgeprägt.

Die Fähigkeit, Dinge zu vergessen und quälende Gedanken und Bilder beiseitezuschieben, ist damit vermutlich ein Kennzeichen psychischen Wohlbefindens. Die Frage nach der Kausalität bleibt bislang allerdings ungeklärt, sagt Benoit: »Können die Betroffenen schlechter Erinnerungen unterdrücken und sind deswegen krank? Oder behindert die Erkrankung vielmehr die Fähigkeit, negative Erinnerungen zu unterdrücken?«

Denkbar ist beides. Wenn einige Menschen grundsätzlich schlechter gegen Erinnerungen ankämpfen können, dann könnte das etwa erklären, warum manche nach emotionalen Ausnahmesituationen eine PTBS entwickeln, andere hingegen nicht. In diese Richtung deutet zum Beispiel eine Untersuchung des französischen Neurowissenschaftlers Pierre Gagnepain, der 2020 gemeinsam mit seinem Team Personen untersuchte, die die Terroranschläge in Paris im Jahr 2015 miterlebt hatten. Versuchsteilnehmer, die im Anschluss an die Erlebnisse eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hatten, zeigten sich schlechter darin, Erinnerungen zu unterdrücken, als Personen, die keine Traumafolgestörung davongetragen hatten. Außerdem kommunizierten bei den PTBS-Patienten jene Hirnregionen, die für Gedächtnis und Handlungssteuerung verantwortlich sind, schlechter miteinander. Ihre Krankheit könnte einer Beeinträchtigung des neuronalen Kontrollsystems geschuldet sein, das normalerweise Gedächtnisinhalte in Schach hält, schlussfolgern die Autoren.

So oder so könnte es Vorteile für die psychische Gesundheit mit sich bringen, das Unterdrücken von Erinnerungen zu trainieren, meint Michael Anderson. Womöglich lässt sich der Ansatz sogar therapeutisch nutzen.

Kann vergessen auch schaden?

Dieser Idee stehen allerdings nicht alle so aufgeschlossen gegenüber. Der niedergelassene Psychoanalytiker und tiefenpsychologische Psychotherapeut Rupert Martin etwa hält wenig vom gezielten Vergessen negativer Dinge. Auf Vergessenes habe man keinen Zugriff mehr – trotzdem sei es noch da und könne belasten. »Es kann einen beeinflussen, ohne dass man es merkt. Man weiß dann nicht, wovon man bestimmt wird«, sagt er. Völlig aus dem Gedächtnis ausradieren könne man Erlebnisse ohnehin nicht. »Alles, was in der seelischen Welt einmal da ist, bleibt auch da. Was wir glauben zu vergessen, verschwindet nur aus dem Bewusstsein. Aber man wird es nicht los.« Therapeuten, die mit psychodynamischen Ansätzen arbeiten, konzentrieren sich deshalb oft darauf, verdrängte Konflikte bei ihren Patienten hervorzuholen und sichtbar zu machen.

Das sei jedoch längst nicht immer der Schlüssel zur Heilung, sagt Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Es sei ein verbreiteter Irrglaube, dass man nur das traumatisierende Erlebnis hinter jahrzehntelangen Beschwerden wie Minderwertigkeitskomplexen oder körperlichen Problemen finden müsse und die Erinnerung mit dem damit verbundenen Gefühlsausbruch dann eine Art Befreiung auslösen würde. »Das ist in der Regel nicht so. Denn zum einen sind Erinnerungen an die Vergangenheit selten objektiv. Meist sind sie verzerrt und verändern sich ständig«, erklärt Kalbitzer. Und zum anderen könne es zwar manchmal nötig sein, sich vergangenen Ereignissen noch einmal bewusst zu stellen – doch damit sei nicht automatisch alles geheilt.

»Nur weil jemand eine schlimme Kindheit und Jugend hatte, muss es ihm nicht noch ein zweites Mal schlecht gehen. Wenn man das gut verdrängt hat, kann es da auch bleiben«Jan Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Am Ende ist es auch ein wenig eine Typfrage, welcher Ansatz besser funktioniert. »Menschen sind unterschiedlich gut darin, negative Emotionen wegzuschieben. Wenn jemand Dinge nicht so gerne emotional verarbeiten möchte, dann ist das auch in Ordnung und kann mitunter sehr gesund sein«, sagt Kalbitzer. Das gelte ebenfalls bei belastenden Erlebnissen aus der Kindheit: »Nur weil jemand eine schlimme Kindheit und Jugend hatte, muss es ihm nicht noch ein zweites Mal schlecht gehen. Wenn man das gut verdrängt hat, kann es da auch bleiben. Die Frage ist allerdings: Bereitet die Kindheit noch Probleme?« Dann müsse man genauer hinschauen. Entwickelt sich beispielsweise aus den Mobbingerfahrungen als Kind eine soziale Phobie, können dauerhaftes Vermeidungsverhalten und andere ungesunde Bewältigungsstrategien zu Erschöpfung führen, sagt der Psychiater.

»Viele negative Erfahrungen, die Menschen im Lauf ihres Leben machen, werden ein Teil von ihnen selbst. Weder ich noch meine Kolleginnen würden daher behaupten, dass es gut ist, immer alles Unerfreuliche zu vergessen«, sagt auch der Neurowissenschaftler Roland Benoit. Sich ständig an alle negativen Erfahrungen zu erinnern, die man je gemacht hat, ist aber ebenso wenig gesund. Das zeigt die aktuelle Forschung inzwischen deutlich. Und in solchen Situationen kann vergessen dann durchaus heilsam sein.

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