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Gedächtnis: Sind unsere frühesten Erinnerungen echt?

Viele Menschen glauben, sich an Erlebnisse aus ihren ersten beiden Lebensjahren erinnern zu können. Doch Forscher bezweifeln das.
Kleinkind isst eine Melone

Erstaunlich viele Menschen sind offenbar davon überzeugt, sich an Dinge erinnern zu können, die sie als Kleinkinder im Alter von ein oder zwei Jahren erlebt haben. Darauf weist eine Untersuchung hin, für die Wissenschaftler um Shazia Akhtar an der University of London mehr als 6600 Menschen in Großbritannien befragten. Die Forscher baten die Probanden per Onlinefragebogen, ihnen möglichst detailliert ihre früheste Erinnerung zu schildern sowie das Alter zu nennen, in dem sich das entsprechende Ereignis abgespielt habe. Dabei gaben rund 40 Prozent der Befragten Erlebnisse an, die sich vor ihrem zweiten Geburtstag ereignet haben sollen. Knapp 900 Versuchspersonen berichteten sogar, sich an ein Erlebnis aus ihrem ersten Lebensjahr erinnern zu können.

Den meisten Experten zufolge entstehen die frühsten Erinnerungen, die wir im Jugend- und Erwachsenenalter noch abrufen können, in der Regel im Alter von drei bis dreieinhalb Jahren. Akhtar und Kollegen glauben deshalb, dass die meisten der geschilderten Erlebnisse aus dem ersten oder zweiten Lebensjahr auf »fiktiven Erinnerungen« beruhen. Die wahrscheinlichste These ist in den Augen der Forscher, dass sich hier Fragmente frühester Erfahrungen – das Fahren im Kinderwagen, die Bindung an die Eltern, Gefühle der Traurigkeit – mit dem später erworbenen Wissen über die eigene Kindheit vermengt haben. Entsprechend meinen die Teilnehmer sich an Szenen zu erinnern, die sie lediglich aus Familienanekdoten oder Fotoalben kennen. Dazu würde passen, dass manche Probanden vor allem die »Meilensteine« ihrer ersten Lebensjahre schilderten, wie das erste gesprochene Wort oder den ersten gelaufenen Schritt.

Nach heutiger Befundlage scheinen Erlebnisse, die vor dem Alter von zwei Jahren entstehen, später wie ausgelöscht. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Unter anderem könnte die Sprachentwicklung mitmischen, denn ab dem Alter von zwei bis vier Jahren lernen Kinder immer mehr Wörter. Damit werden auch die Gedächtnisspuren zunehmend versprachlicht und die älteren, die noch aus Bildern und Gefühlen bestehen, schwerer abrufbar. Die Neurogenese, also die Bildung neuer Nervenzellen, leistet womöglich ebenfalls einen Beitrag. Im Gehirn von Kleinkindern entstehen noch viele neue Neurone, bei Erwachsenen hingegen nur wenige und beschränkt auf einzelne Hirnareale. Die Flut an neuen Zellen im kindlichen Gehirn könnte den Zugriff auf ältere Erinnerungen blockieren.

Um die Erinnerungen an die ersten Lebensjahre zu erhalten, hilft es, wenn Eltern mit ihren Kleinkindern regelmäßig abends den Tag rekapitulieren. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum manche sich an Dinge erinnern können, die ihnen mit zwei Jahren passiert sind, während bei anderen die Erinnerung erst ab dem sechsten Lebensjahr einsetzt.

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