Gedächtnis: Warum wir vergessen
Wer gibt schon gern zu, die Brille verlegt oder einen Termin verschwitzt zu haben? Auch unter Gedächtnisforschern gilt Vergessen als Gegenpol zum Erinnern, falls sie es überhaupt beachten. Dabei ist es weit mehr als nur eine Lücke im Gedächtnis – es ist ein integraler Bestandteil davon. Was wir uns merken, erleben oder für die Zukunft planen, hängt nicht nur von unseren vorhandenen Erinnerungen ab, sondern auch von all dem, was wir nicht mehr wissen. Die Situation gleicht einer Marmorskulptur, die gerade erst durch das entfernte Gestein entsteht.
Da unser Leben aus fortlaufenden Veränderungen besteht, ist es ganz entscheidend für unser Gehirn, zu vergessen. Um uns an wandelnde Umweltbedingungen anzupassen, müssen wir sowohl Neues lernen als auch bereits Gelerntes wieder verlernen (also vergessen) sowie umlernen. Das lässt sich gut anhand der Wahrnehmung verdeutlichen: Wir müssen das, was wir sehen, fühlen, hören, schmecken oder riechen, zwar kurz im Gedächtnis behalten, allerdings nur so lange, bis der nächste Sinneseindruck ankommt.
Weil zum Beispiel die Verarbeitung des Seheindrucks in der Retina länger dauert als die des Schalls im Innenohr, speichern wir jeden Input eines Sinnessystems etwa eine viertel Sekunde lang, sonst könnten wir eine Stimme nicht der entsprechenden Lippenbewegung zuordnen. Aber sobald der nächste Sinneseindruck folgt, muss der alte gelöscht werden, damit die beiden sich nicht überlagern. Löschen und Vergessen sind daher keine Fehler oder Aussetzer in der Wahrnehmung, vielmehr gehören sie fest zu den dafür nötigen Abläufen. Längerfristiges Speichern und Erinnern leisten wir uns dagegen nur bei einem verschwindend kleinen Teil unserer Erlebnisse.
Wenn wir etwas Neues abspeichern, ist es häufig sinnvoll, frühere Ereignisse zu überschreiben. So ist es für uns nicht relevant, wo wir das Auto vor einer Woche geparkt haben oder wo es am häufigsten steht. Stattdessen müssen wir uns daran erinnern, an welcher Stelle wir es beim letzten Mal abgestellt haben. Diese Art des fokussierten Vergessens betreiben wir ständig, etwa bei alten Passwörtern.
Auch die bewusste Erinnerung an die ersten Lebensjahre, in denen wir unglaublich viel lernen, vergessen wir im Lauf des Lebens. Ebenso begeben wir uns jede Nacht in eine mehrstündige Phase der Amnesie. Im Schlaf fehlen entscheidende Voraussetzungen zur Gedächtnisbildung: Die Instanzen des Gehirns, die ein Ich-Bewusstsein vermitteln, befinden sich im Ruhezustand. Dieses Bewusstsein ist aber notwendig, um etwas im autobiografischen Gedächtnis speichern zu können. Ebenso sind jene Neurotransmitter wenig aktiv, die es braucht, um das Gelernte durch eine Stärkung der Kommunikation zwischen Nervenzellen abzuspeichern, etwa Azetylcholin, Dopamin und Noradrenalin. Was wie ein Fehler erscheint, ist genauer betrachtet jedoch sinnvoll: Um tagsüber Erlebtes zu festigen, soll nichts störendes Neues hinzukommen. So wie man die Augen schließt, um sich zu konzentrieren, sperrt das Gehirn die Gegenwart im Schlaf aus, um besonders gut speichern zu können. Daher ist Schlaf für die Gedächtnisbildung essenziell.
Das deutsche Wort »vergessen« beruht auf dem Stamm »gessen« und drückte ursprünglich eine Bewegung in Richtung des Sprechers aus; er »bekommt« also etwas. Durch die Vorsilbe »ver« wird es ins Gegenteil verwandelt. Damit ist Vergessen vom Wortstamm her ein aktiver Prozess – entgegen unserem Alltagsverständnis. Tatsächlich passiert Vergessen im Gehirn ebenfalls nicht passiv, etwa indem lange nicht genutzte synaptische Verbindungen einfach schwächer würden. Stattdessen gleicht es einem gut programmierten Spamfilter, der von Natur aus unserem Gedächtnis innewohnt. Arbeitet dieser nicht, erdrückt einen die Fülle irrelevanter Informationen regelrecht. Auch abstraktes Denken funktioniert nur, wenn wir Unmengen an Informationen weglassen, ignorieren und vergessen. Einzelnen Gedächtnis-Savants gelingt das nicht. Diese Menschen sind Berühmtheiten, weil sie etwa jedes Wort eines gelesenen Buchs im Gedächtnis behalten. Aber sie können ihr Wissen nicht dazu verwenden, kreativ Probleme zu lösen oder Neues zu entdecken.
Vergessen erlaubt es dem Gehirn, sich auf die jeweils wesentlichen Informationen zu fokussieren und alle unwichtigen, damit verknüpften Fakten zu unterdrücken, damit bei einem Gespräch keine klangverwandten Wörter abgerufen werden oder irrelevantes Wissen im Bewusstsein auftaucht. Das macht die Informationsverarbeitung schnell und präzise. Manchmal unterlaufen dem Spamfilter jedoch Fehler, so dass uns Dinge nicht einfallen, die wir gern in einem bestimmten Moment parat hätten. Vergessen ist eben nicht immer sinnvoll und adaptiv, so wie auch Lernen maladaptiv sein kann, etwa wenn Menschen ein Suchtverhalten entwickeln. Bei so genannten freudschen Versprechern funktioniert der Mechanismus ebenfalls nicht richtig. Anders als gemeinhin angenommen offenbaren sie keine geheimen Wünsche; vielmehr entstehen sie, wenn einem assoziierte, aber unpassende Wörter in den Sinn kommen.
Die molekularen Grundlagen des Erinnerns und Vergessens sind ähnlich
Wie gut wir uns erinnern, hängt also unter anderem davon ab, wie gut wir vergessen. Damit ist Vergessen nicht der Feind des Lernens, sondern sein Verbündeter. Ein ihm zu Grunde liegender zellulärer Mechanismus heißt Langzeitdepression (LTD). Er findet an den gleichen Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen (den Synapsen) im Hippocampus und in anderen Hirnregionen wie der Amygdala statt, die auch beim Speichern neuer Informationen beteiligt sind – bei der so genannten Langzeitpotenzierung (LTP). Das ist bemerkenswert, denn der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle dabei, Fakten und autobiografische Erinnerungen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Inzwischen können Forscher den Prozess der Langzeitdepression nicht nur beobachten, sondern sogar aktiv auslösen, indem sie Nervenfasern im Hippocampus für eine längere Zeit mit einer niedrigen Frequenz von ein bis fünf Hertz stimulieren oder miteinander kommunizierende Nervenzellen zeitlich versetzt reizen.
Die molekularen Grundlagen von LTD und LTP sind sehr ähnlich: Entscheidend ist die Menge an Kalzium (Ca2+), die in die postsynaptische Zelle gelangt. Während ein starker Einstrom von Ca2+ durch einen speziellen Glutamatrezeptor (den NMDA-Rezeptor) zu LTP führt, führt ein geringer Ca2+-Zufluss zu LTD. Bei einer hohen Ca2+-Konzentration werden Phosphatgruppen an die entsprechenden synaptischen Rezeptoren angehängt, um diese effektiver zu machen, bei einer niedrigen werden sie wieder entfernt, was gegenläufige Signalkaskaden auslöst. Dadurch kommt es entweder zu einer Verstärkung oder zu einer Abschwächung synaptischer Übertragungsmechanismen.
Kinder haben noch deutlich mehr Synapsen als Erwachsene. Im Lauf der Zeit kristallisiert sich heraus, welche Verknüpfungen relevant sind und welche nicht mehr benötigt werden. Sie werden ausgedünnt, um die Verarbeitung effizienter zu machen. Je sicherer wir beispielsweise eine Sprache beherrschen, umso weniger Neurone sind beim Sprechen aktiv. Als Erwachsene hören wir bestimmte Laute nicht mehr, die wir als Kleinkinder noch wahrnehmen konnten. So »vergessen« deutsche Muttersprachler etwa, welche Mischlaute zwischen p und b liegen, um beide Buchstaben beim Sprechen und Zuhören schneller unterscheiden zu können. Auch dieser Prozess könnte auf der Langzeitdepression basieren.
Ein Neuron steht mit bis zu 100 000 anderen in Verbindung. Zwischen seinen verschiedenen Synapsen herrscht ein Konkurrenzkampf. Häufig kommunizierende Kontaktstellen verändern sich sowohl strukturell als auch funktionell und ziehen von benachbarten, aber weniger aktiven Synapsen so genannte Wachstumsfaktoren ab. Das sind körpereigene Proteine, die verschiedene wichtige Funktionen der Nervenzellen wie deren Wachstum und Überleben regulieren. Dieser Mechanismus, den ich gemeinsam mit zwei Kollegen in einer 2014 veröffentlichten Untersuchung entdeckte, schwächt weniger benutzte Synapsen und stärkt wiederholt aktive. Er ermöglicht es, das Anhäufen großer Mengen unnützer Informationen zu verhindern und kurzfristig Gespeichertes wieder zu löschen. Denn wären alle synaptischen Kontakte eines Neurons durch Langzeitpotenzierung maximal verstärkt, könnte die Zelle nichts Neues mehr abspeichern und wäre zudem leicht übererregbar, was eine Epilepsie auslösen könnte.
Ob wir allerdings tatsächlich vergessen oder ob der Zugang zu einer Erinnerung bloß schwieriger wird, darüber diskutieren Forscher nach wie vor. So könnte es sein, dass das Gehirn beim so genannten Extinktionslernen eine vorher erworbene Assoziation zwischen zwei Ereignissen vollständig durch eine neue überschreibt. Ebenso wäre es jedoch möglich, dass es etwas, was im Nervensystem fest verankert wurde, nie wirklich löscht. In so einem Fall könnte die Erinnerung wieder auftauchen. Hintergrund dieser Diskussion sind unter anderem Ergebnisse von Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried, die gezeigt haben, dass einmal geknüpfte strukturelle Nervenverbindungen, die mit dem Erinnern einhergehen, dauerhafter bestehen bleiben als funktionelle Veränderungen wie die Langzeitpotenzierung und die Langzeitdepression. Das spricht für die Annahme, dass wir nie wirklich vergessen.
Wenn ein Mensch nicht vergessen kann
Mediziner kennen auch pathologische Zustände, in denen Menschen nicht vergessen können: Wenn wir uns in einer lebensbedrohlichen Lage oder emotionalen Notsituation befinden, schüttet der Körper nicht nur Stresshormone aus, um maximale Energie bereitzustellen und alle körperlichen Vorgänge, die nicht zum unmittelbaren Überleben notwendig sind, auf ein Minimum zu reduzieren. Auch die Gedächtniszentren unseres Gehirns laufen auf Hochtouren. Alles, was mit der Gegebenheit assoziiert ist, soll möglichst genau und nachhaltig abgespeichert werden (während der Abruf bereits gespeicherter Informationen unterdessen gestört ist). Die Erinnerung brennt sich förmlich in das Gedächtnis ein. Evolutionär gesehen ist das sinnvoll: Denn ein Lebewesen, das eine lebensbedrohliche Lage vergisst, läuft Gefahr, wieder in eine zu geraten.
In so einer Situation koordiniert die Amygdala alle notwendigen physiologischen Reaktionen. Dabei ist sie nicht nur für die Stressantwort des Körpers, sondern auch für das Angstgedächtnis zuständig. Alles mit dem Zustand Assoziierte wird dort abgespeichert und hat eine höhere Wahrscheinlichkeit als andere Gedächtnisinhalte, wieder abgerufen zu werden. Auf zellulärer Ebene verstärkt die Langzeitpotenzierung die synaptischen Verbindungen in der Amygdala derart, dass ein starkes und stabiles synaptisches Aktivitätsmuster entsteht, eine Art Narbe im Gedächtnis. Zukünftig reicht nun oft schon ein einziges Element aus diesem neuronalen Aktivitätsnetzwerk, um das gesamte Muster wieder in gleicher Intensität zu aktivieren: Allein die Farbe eines entgegenkommenden Autos vermag die Erinnerung an einen Verkehrsunfall wieder heraufzubeschwören; ein lauter Knall genügt, um Kriegserlebnisse wachzurufen.
Doch warum bleiben die Synapsen in der Amygdala bei einem traumatischen Erlebnis so widerstandsfähig gegen das Vergessen? Und weshalb wird die Hirnregion dauerhaft stark aktiviert, sobald etwas an die traumatische Situation erinnert? Forscher um Andreas Lüthi vom Friedrich Miescher Institut in Basel entdeckten in Tierexperimenten einen möglichen Mechanismus: Während eines bedrohlichen Ereignisses entstehen um verstärkte Synapsen so genannte perineuronale Netze. Diese Zucker-Protein-Komplexe sind eine Art biologischer Beton und machen die Verknüpfungen der Nervenzellen immun gegen jede Form von Veränderung oder Abschwächung.
Weltweit beschäftigen sich Wissenschaftler mit dem Verlust des Gedächtnisses, etwa bei Demenz. Dagegen erforschen weit weniger die Hypermnesie, also ein zu gutes Gedächtnis, bei dem das Vergessen infolge eines Traumas nicht funktioniert. Bisher weiß man zum Beispiel nicht, warum manche Menschen nach einem traumatischen Erlebnis an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkranken und andere nicht. Die Amygdala scheint dabei aber eine zentrale Rolle zu spielen, darauf deuten Befunde der US-amerikanischen Traumaforscherin Katie McLaughlin hin. Sie hatte für eine ihrer Studien die Reaktion und Hirnaktivität von Heranwachsenden auf positiv, negativ und bedrohlich erscheinende Bilder aufgezeichnet. Nach dem Bombenattentat auf den Boston-Marathon 2013 wiederholte sie die Untersuchung mit denselben Jugendlichen. Anhand der erhobenen Daten konnte sie vorhersagen, wer gut mit dem schrecklichen Ereignis zurechtkam und wer eine PTBS entwickelte. Probanden, deren Amygdala besonders stark auf negativ behaftete Bilder reagierte, besaßen ein wesentlich höheres Risiko, zu erkranken.
Unsere Erinnerungen sind keineswegs in Stein gemeißelt, sondern verändern sich bei jedem Abruf und berücksichtigen dabei die momentan empfundenen Emotionen. Bei traumatisierten Menschen scheint das anders zu sein. 2015 wies ein Team um Ronald S. Duman von der Yale University nach, dass bei Menschen mit einer PTBS die Produktion eines Proteins namens SGK1 im präfrontalen Kortex im Vergleich zu Gesunden um mehr als 80 Prozent vermindert war. Dieses Enzym scheint eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Langzeiterinnerungen zu spielen. Wird es seltener gebildet, ist es unwahrscheinlicher, dass eine alte Gedächtnisspur mit neuen Erfahrungen abgeglichen wird – sie ist quasi schreibgeschützt. Dadurch ist es für die Betroffenen schwer, einen Knall oder Geruch neu einzuordnen, auch wenn er wiederholt in einer sicheren Umgebung auftritt. Vergessen ist so kaum möglich.
Wenn die Posttraumatische Belastungsstörung also offenbar auf einem Problem des Gedächtnisses beruht: Kann man dieses gezielt verändern, um den Betroffenen zu helfen? In diesem Zusammenhang sind die Experimente von Karim Nader interessant, der inzwischen an der McGill University in Montreal forscht. Der Neurowissenschaftler wies durch Versuche an Ratten nicht nur nach, dass sich die Gedächtnisspur jedes Mal verändert, wenn man sich ein Ereignis ins Gedächtnis ruft. Er entdeckte sogar, dass die Erinnerung nach dem Abruf ganz neu gespeichert werden muss. Stört man diesen Prozess der Rekonsolidierung, verschwindet die Erinnerung. Nader und seinem Team gelang es, die Erinnerung der Tiere an einen Stromschlag zu löschen, indem sie die gesamte Eiweißproduktion im Gehirn von Ratten lahmlegten. Bei Menschen verbietet sich ein solch drastisches Vorgehen. Die Löschung muss hier auf anderem Weg erfolgen.
Eine Möglichkeit zeigte ein Team um Daniela Schiller, Elizabeth Phelps und Joseph LeDoux auf. Die Hirnforscher von der New York University verpassten ihren Versuchspersonen stets einen schmerzhaften, aber ungefährlichen Stromschlag, wenn diese ein gelbes Quadrat auf dem Bildschirm entdeckten. Schon nach kurzer Zeit zeigten die Teilnehmer Stress- und Angstsymptome, sobald sie etwas Gelbes oder Quadratisches erblickten. In einem anschließenden Extinktionstraining in sicherer Umgebung sollte die gelernte Assoziation wieder gelöscht werden. Begann es bereits zehn Minuten nach dem letzten Stromschlag, hatte es dauerhaft Erfolg, vermutlich weil der Prozess der Rekonsolidierung noch nicht abgeschlossen war und durch das Training gestört wurde. Begann die Behandlung jedoch erst nach sechs Stunden, blieb sie erfolglos. Die Ergebnisse machen deutlich, wie wichtig es nach einem schrecklichen Ereignis ist, den Betroffenen unmittelbar zu helfen. Die gleichen Gedächtnismechanismen, die unsere Erinnerungen manchmal verfälschen, könnten dabei helfen, Angst zu bekämpfen und vergessen zu lernen.
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