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Medizinische Diagnostik: Gedankenexperiment

In japanischen Krankenhäusern werden psychiatrische Erkrankungen mittels "Nahinfrarotspektroskopie" diagnostiziert. Kritiker halten die Technik noch nicht für einsatzreif. Der Asien-Korrespondent von "Nature" macht den Selbstversuch.
Bildgebung in der Krise
Tokio, Innenstadt, ein Raum voller Psychiater. Mittendrin sitze ich und warte darauf, meinen Geisteszustand analysiert zu bekommen. Einfühlsame Fragen hat mir niemand gestellt. Stattdessen trage ich eine Art bizarrer Schwimmhaube, die mit Kabelgewirr und roten und blauen Noppen dekoriert ist. Auf Knopfdruck werden die 17 roten Noppen infrarotes Licht zwei bis drei Zentimeter tief in mein Hirn strahlen, wo meine Neurone es streuen oder absorbieren sollen. Fotorezeptoren in den blauen Noppen fangen dann alles an Lichtwellen auf, was wieder aus dem Kopf herausdringt. Mit diesen Informationen, so erklären es mir die Wissenschaftler am Bedienpult, können sie Depressionen, bipolare Störungen oder Schizophrenie vom ganz normalen Geisteszustand unterscheiden.

Spuren der Geisteskrankheit? | Bei der NIRS wird der Blutfluss in ausgewählten Großhirnrindenarealen bestimmt, indem man die Veränderung der Konzentration von mit Sauerstoff beladenen ("oxygenated", gelb) und unbeladenen ("desoxygenated", blau) Hämoglobinmolekülen über einen kurzen Zeitraum hinweg misst. Einige Forscher glauben, an den typischen Kurven bestimmte mentale Störungen erkennen zu können, etwa Depression oder Schizophrenie.
Schon mehr als 1000 Patienten haben sich mittlerweile dieser Prozedur unterzogen – der so genannten Nahinfrarotspektroskopie (NIRS), die der Psychiater und Neurowissenschaftler Masato Fukuda vom Medizinischen Zentrum der Gunma-Universität in Maebashi in Zusammenarbeit mit der Medizinabteilung von Hitachi entwickelt hat. Die meisten Getesteten sind bis dato Probanden wissenschaftlicher Studien; seit April 2009 haben aber auch über 300 Menschen rund 13 000 Yen aus der eigenen Tasche für die Untersuchung hingeblättert. Damals war die NIRS vom japanischen Gesundheitsministerium als "ausgereifte Medizintechnik" zur Unterstützung psychiatrischer Diagnosen eingestuft worden. Das Universitätskrankenhaus in Tokio – eine der acht führenden medizinischen Forschungskliniken in Japan, die bildgebende NIRS zu Diagnosezwecken anbieten – hat wegen der Flut von Interessenten schon zweimal die Wartelisten schließen müssen. Auch die Gunma-Universität ist schon bis Ende März ausgebucht. "Wir werden", sagt Fukuda, "von Anfragen überrollt."

Der Charme der NIRS liegt in ihrem Versprechen einer schnellen, eindeutigen Diagnose. Psychiatrische Erkrankungen mit ihrem notorisch unüberschaubaren Mix aus schlecht voneinander abgrenzbaren Symptomen werden noch immer häufig entweder fehldiagnostiziert oder gar nicht erkannt. Studien in den USA zeigen zum Beispiel, dass 70 Prozent aller Patienten mit bipolarer Störung zunächst falsch diagnostiziert wurden. Patienten, erklärt Fukuda, "wollen harte Fakten", vor allem um Ausfallzeiten am Arbeitsplatz erklären zu können.

Und die NIRS könnte nun eine objektive Methode sein, um verlässliche, den Patienten wenig belastende Routinetests der mentalen Verfassung durchzuführen. Sie könnte, meint Fukuda, genauso viel zu einer korrekten Diagnose beisteuern wie die Röntgenuntersuchung bei einer Lungenentzündung oder das Elektrokardiogramm beim Herzproblem. Von Fukuda und anderen Ärzten in Japan abgesehen sind davon allerdings nur wenige Mediziner wirklich überzeugt. Kritik entzündet sich vor allem daran, dass bisher viel zu wenige, zu kleine und nur unzureichend designte Studien den klinischen Nutzen der Technik wirklich belegen. NIRS sei "ein lohnendes Forschungsfeld, das aber noch kein überzeugendes Datenmaterial geliefert hat", findet etwa der Neurowissenschaftler Masahiko Haruno von der Tamagawa-Universität in Tokio.

John Sweeney, Neurologe an der University of Illinois in Chicago, arbeitet schon seit zwei Jahrzehnten daran, mit verschiedenen Verfahren das Hirngeschehen zu überwachen und Auffälligkeiten mit Krankheiten wie der Schizophrenie zu korrelieren. Und das, so Sweeney, "hat noch nie reproduzierbar zu aller Zufriedenheit funktioniert". Nun sei NIRS zudem die am wenigsten ausgereifte all dieser Methoden, oder, in seinen Worten, "ganz, ganz dünnes Eis, auf dem wir uns da bewegen. Wir sind noch weit davon entfernt, Patienten und ihren Angehörigen diese Art von Test ans Herz legen zu können."

Willkommen im Klub

Mit meinem Noppenkopfschmuck starre ich die japanischen Schriftzeichen auf einem Monitor an und spreche, auf ein Tonsignal hin, laut Wörter nach. Ganz so prompt fallen mir die nicht ein, das Auditorium umstehender Psychiater und Neuroforscher macht die Sache nicht einfacher. Sie sind aus allen Richtungen Japans zu ihrem monatlichen Treffen gekommen, um die neuesten NIRS-Erkenntnisse und ihr weiteres Vorgehen zu besprechen.

Im Vergleich zur funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI) oder der Elektroenzephalografie (EEG) ist die NIRS eine recht neue Methode; vor gerade einmal rund 15 Jahren ist sie in der Wissenschaftswelt aufgetaucht. In Japan folgte eine rasante Karriere in die klinische Praxis (tatsächlich kommen die beiden größten Zulieferer für NIRS-Analysegeräte, Hitachi und Shimadzu, aus Japan, wo auch etwa zwei Drittel aller wissenschaftlichen Publikationen zur NIRS-Analyse entstehen). Die Technik macht sich zu Nutze, dass das Hämoglobin im Blut mehr Licht im nahinfraroten Bereich absorbiert als Bestandteile des Körpergewebes. In Hirnregionen mit aktiven Neuronen verstärkt sich der Blutstrom, und demnach können, indem man die Verschiebung der Hämoglobinkonzentration misst, Rückschlüsse auf die lokale Aktivität der Neurone gezogen werden. Fukudas NIRS-Gerät fokussiert die Aufmerksamkeit auf den präfrontalen und den temporalen Kortex, also auf Hirnareale, die bekanntermaßen eine Rolle bei vielen psychiatrischen Störungen spielen. Die Erkrankungen sollen, so die Theorie, mit typischen Signaturen der Blutströmung in diesen Arealen einher gehen – und daran diagnostizierbar sein.

Die NIRS ist weniger präzise und hat eine geringere Reichweite als die fMRI, mit der Blutströmungen viel genauer und gründlicher in höherer Auflösung erkannt werden. NIRS-Analysen sind dagegen billiger und mobil: Die Untersuchten sitzen und müssen sich nicht in die lärmende und gelegentlich nervenaufreibende Enge einer Tomografenröhre zwängen. Somit ist NIRS die Methode der Wahl bei unruhigen Probanden wie Kindern oder Patienten mit Psychosen und Angstörungen.

Diese Vorteile haben bildgebende Infrarotverfahren mittlerweile überall auf der Welt zunehmend beliebt gemacht. Geräte vom größten US-Hersteller NIRx Medical Technologies in Glen Head, US-Bundesstaat New York, dienen Studienzwecken von der Autismusforschung bis zum Design von Hirn-Computer-Schnittstellen. Hitachi bietet eine abgespeckte Version an, mit der man gleich vier interagierende Probanden in einem Raum drahtlos analysieren kann.

Fukuda hat sich dagegen darauf spezialisiert, die Technik für Diagnosezwecke zu perfektionieren – die wachsenden Möglichkeiten werden Patienten zugutekommen, meint er. Sein erstes, noch einfaches NIRS-Gerät hatte er schon 1997 im Einsatz, als Assistenzprofessor an der Universität Tokio. Seitdem analysiert er unterschiedlichste Störungen. Wenn man die Daten von 10 bis 20 Patienten mit Depressionen, bipolarer Störung oder Schizophrenie kombiniert, dann würde ein jeweils krankheitsspezifisches, charakteristisches Muster der Aktivität im temporalen und präfrontalen Kortex während der ersten 60 Sekunden einer Denkaufgabe lesbar. Der NIRS-Test, meint Fukuda, erkennt eine zuvor mit anderen Methoden diagnostizierte Erkrankung mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit richtig.

Andere Neurowissenschaftler sind skeptisch. Haruno meint zum Beispiel, dass die Anzahl der getesteten Personen in den Studien "viel zu gering" gewesen sei, um überhaupt Muster definieren zu können. Und selbst wenn solche Muster auftreten, nachdem man die Signale mehrerer Kandidaten zusammengeworfen und gemittelt hat – ob eine einzelne Person mit ihrem eigenen charakteristischen Muster in die definierte Sammelgruppe hineingehört oder nicht, bleibe ungewiss. "Was bedeutet das Ergebnis für den einzelnen Patienten? Das führt ziemlich in die Irre", meint Haruno.

Sogar Forscherkollegen von Fukuda wie Andreas Fallgatter von der Universität Tübingen – er hat in den zurückliegenden 14 Jahren rund 100 Patienten mit NIRS untersucht und Fukudas Tests ins Deutsche übersetzt – weisen darauf hin, dass NIRS derzeit noch in den Bereich der Grundlagenforschung gehöre. Aber: Fukuda habe die japanischen Behörden offensichtlich überzeugen können.

Seine Genehmigung kam 2005; im Schnellverfahren erteilt vom Gesundheitsministerium, das im Zuge eines Programms zur Förderung der Medizintechnik die Entwicklung biomedizinischer Technologie vorantreiben wollte. Die Evaluation der NIRS lag dabei in den Händen von Teruhiko Higuchi, einem Depressionsspezialisten und Vorsitzenden des Nationalen Zentrums für Psychiatrie und Neurologie. Am Ende hatte er damals festgehalten, die Methode sei schnell, effektiv und sicher und könne, kombiniert mit anderen diagnostischen Methoden, die subtilen Unterschiede bei schweren Depressionen, bipolarer Störung oder Schizophrenie zu erfassen helfen. Laut den online verfügbaren Protokollen der Tagung meinte er gegenüber dem Evaluationskomitee aber auch, dass die NIRS "letztlich nur zur Unterstützung einer Diagnose" diene. Higuchis Zentrum bietet die Technik nun ebenfalls an. Andere Komiteemitglieder hatten besorgt die geringe Zahl der Teilnehmer in den Studien angesprochen, zudem hätten einige Probanden Medikamente erhalten. Der Genehmigung der NIRS widersprachen die Panelmitglieder nicht.

Berechtigte Kritik?

Laut Fukuda soll in Kürze eine Großstudie mit mehr als 500 Teilnehmern zur Publikation eingereicht werden, um Bedenken der Kritiker zu zerstreuen. Verbesserungen der Methodik, etwa eine Verdopplung der Noppenzahl auf der Haube, sollen die Differenzierung mentaler Zustände weiter verbessern. Es habe sich beim Vergleich von Gesunden und in Behandlung befindlichen Personen außerdem gezeigt, dass die Medikation eines Patienten sein NIRS-Profil nicht unleserlich machen muss. Kritik an der Praxis, Gruppendurchschnittswerte zur individuellen Diagnose heranzuziehen, hält er für "prinzipiell gerechtfertigt". Allerdings treffe dies auch auf viele andere Diagnosemethoden zu, etwa auf Elektrokardiogramme oder EEGs, bei denen die unterschiedlichen Daten Einzelner der Interpretation bedürfen. Wertvolle klinische Informationen könnten sie nichtsdestoweniger liefern. "Klinische Diagnose und NIRS-Analysen ergänzen einander", so Fukuda. Und diese Komplementarität "betonen wir gegenüber allen Patienten auch deutlich".

Das mag sein, nur: Zumindest in einigen Fällen scheint die NIRS zur tragenden Säule der Diagnose zu werden. So werden etwa NIRS-Ergebnisse in den Behandlungsstatistiken von Fukuda als Erfolg gewertet, wenn sie die psychiatrische Diagnose bestätigen. Trifft dies nicht zu, bestätigt Fukuda, so werden der Patient und sein Umfeld "wiederholt" befragt, ob sie nicht wesentliche Aspekte oder Symptome vernachlässigt haben: ob also zum Beispiel ein Patient mit Depressionen, dessen NIRS-Profil aber eine Schizophrenie nahelegt, nicht doch an Halluzinationen leide, dies aber vergessen habe zu erwähnen. Andreas Meyer-Lindenberg von der Universität Heidelberg, Psychiater und Experte für bildgebende Verfahren, hielte Studien mit Patienten für überzeugender, die zuvor nicht diagnostiziert wurden und keine Medikamente nehmen. Man bräuchte eine Stichprobe "unklarer Fälle, wie sie im Klinikalltag vorkommen, müsste sie untersuchen und einstufen und die Diagnose dann durch eine längere anschließende Beobachtung absichern".

Fukudas Team arbeitet derzeit bereits an NIRS-Studien zur Analyse von Erkrankungen wie Panik- und Angststörungen oder posttraumatischem Stress.

Mein eigenes Untersuchungsergebnis ließ an Deutlichkeit übrigens zu wünschen übrig. Schon nach einer Viertelstunde, Tests und rasche Computeranalyse inklusive, hatte Fukuda mein Datenprofil ausgewertet und seine Diagnose gestellt: normal. Mein eigener, späterer Vergleich der Daten mit publizierten Mustertypen platziert mich allerdings eher irgendwo zwischen normal und "bipolar". Noch etwas später meinte Fukuda dann, dass mein Profil kein normales NIRS-"normal" zeigen würde, vielleicht, weil die Beobachter im Raum meinen Sprachfluss gestört hätten. Außerdem erklärte er mir, dass eine bestimmte Untergruppe gesunder Probanden typischerweise mein Muster im Frontallappen zeige; zu diesem Schluss sei er durch die Auswertung der Daten des Temporallappens gelangt. Egal – ich sollte mich glücklich schätzen, wie auch immer das Ergebnis zu Stande kam.

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