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Schadstoffe in Kinderspielzeug: »Diese Stoffe können die hormonellen Signalketten stören«

Experten warnen vor hormonaktiven Stoffen in Weihnachtsgeschenken. Der Forscher Josef Köhrle erklärt, wie sie im Körper wirken – und in welchen Produkten sie stecken.
Eine Vielzahl bunter Dinosaurier-Spielzeugfiguren liegt dicht beieinander auf einer dunklen Oberfläche. Die Figuren sind in verschiedenen Farben wie Grün, Rot, Blau und Orange gestaltet und zeigen unterschiedliche Dinosaurierarten mit charakteristischen Merkmalen wie Hörnern, Platten und langen Schwänzen. Die Szene wirkt lebendig und chaotisch, da die Figuren in verschiedenen Richtungen ausgerichtet sind.
Wenn Kinderspielzeug mit Schadstoffen belastet ist, sei das besonders kritisch, sagen Fachleute.

Es ist ein beunruhigendes Statement: Zum bevorstehenden Weihnachtsfest warnt die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie vor gefährlichen Stoffen in Kinderspielzeug und Alltagsprodukten. Hormonaktive Substanzen könnten zu »Problemen in Bezug auf Wachstum, Stoffwechsel, Entwicklung und Fruchtbarkeit führen«. Wie diese Stoffe wirken, wo sie vorkommen und wie sich die Belastung senken lässt, erklärt Josef Köhrle, Seniorprofessor für Experimentelle Endokrinologie an der Berliner Charité.

Herr Köhrle, warum warnt die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie jetzt vor Schadstoffen in Spielzeug?

Die Substanzen, vor denen wir warnen, können unser Hormonsystem auf vielfältige Weise beeinflussen. Sie finden sich in vielen Alltagsprodukten, darunter in Spielzeug und Kosmetika. Das zeigen etwa Stichproben der Europäischen Chemikalienagentur Echa, der Stiftung Warentest, der europäischen Spielzeugindustrie und vieler Nichtregierungsorganisationen. Diese weisen seit Jahren auf das Problem hin. Es verschärft sich gerade, weil große Onlinemarktplätze massenweise billige Produkte auf den europäischen Markt pumpen, die bei Tests wiederholt durch hohe Schadstoffgehalte aufgefallen sind.

Josef Köhrle

ist Fachmann für das Hormonsystem und Seniorprofessor am Institut für Experimentelle Endokrinologie an der Berliner Charité, wo er eine Arbeitsgruppe leitet, die sich besonders mit der Schilddrüsenhormonachse beschäftigt. Er forscht außerdem dazu, wie Umwelteinflüsse das Hormonsystem beeinflussen können.

Die Stiftung Warentest hat erst kürzlich vor Produkten gewarnt, die auf den chinesischen Billigplattformen Temu und Shein verkauft wurden. Sie fanden etwa Schadstoffe in Babyspieltüchern. Im Fall von Temu hat die EU-Kommission bereits ein Verfahren eingeleitet, weil sie zum Schluss kam, dass Verbraucher dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Produkte treffen, die nicht den EU-Regularien entsprechen, etwa Babyspielzeug und Elektronikprodukte. 

Und jetzt zu Weihnachten bekommen viele Kinder neues Spielzeug, das mit solchen Stoffen belastet sein kann. Besonders problematisch ist das bei Kleinkindern, die die Produkte ja oft in den Mund nehmen. Darauf wollen wir aufmerksam machen.

Besonders sorgen Sie sich um sogenannte endokrine Disruptoren. Was sind das für Stoffe?

Das sind Substanzen, die das fein abgestimmte Zusammenspiel der Hormone im Körper stören – und zwar sowohl kurz- als auch langfristig. Bisher hat die Echa rund 50 solcher Stoffe eindeutig als schädliche endokrine Disruptoren gelistet. Dazu zählen etwa Weichmacher, Bisphenole, bromierte Flammschutzmittel, PFAS – die sogenannten Ewigkeitschemikalien – sowie Schwermetalle und Pestizidrückstände. Solche Substanzen finden sich in Kunststoffen, Beschichtungen oder Textilien. Im Kinderalltag können sie als Plastikspielzeug auftreten, aber auch in Kleidung, Spielmatten und unzähligen weiteren Produkten. Und diese 50 Substanzen sind nur der Anfang. Mehrere Tausend weitere Stoffe werden verdächtigt, das menschliche Hormonsystem zu stören. Unsere Hormone wirken bereits in geringsten Konzentrationen – und reagieren daher sehr empfindlich auf solche Umweltfaktoren.

Und wie genau stören diese Disruptoren die Balance der Hormone?

Das hängt vom konkreten Hormonsystem ab, das betroffen ist. Bei den Sexualhormonen etwa ist häufig die Interaktion des natürlichen Hormons im Körper mit seiner Bindungsstelle gestört, etwa an Östrogenrezeptoren. In anderen Fällen greifen die Disruptoren früher in den Regelkreis ein – etwa von Schilddrüsenhormonen oder auch Insulin. Ein Beispiel ist Bisphenol A, das in Babyflaschen zwar verboten, in anderen Kunststoffen aber weiterhin erlaubt ist. Manche Substanzen können bereits im Mutterleib wirksam sein und beim Ungeborenen dazu führen, dass sich Stammzellen nicht in die eigentlich vorgesehenen gewebetypischen Zellen differenzieren, dass sich also zum Beispiel mehr Fett- statt Muskelzellen entwickeln oder die Vernetzung der Hormonschaltkreise gestört wird. Aber auch der Abbau der Hormone kann durch endokrine Disruptoren gestört sein.

Sie warnen vor Auswirkungen auf Wachstum, Stoffwechsel, Entwicklung und Fruchtbarkeit. Das dürfte viele Menschen beunruhigen, speziell Eltern. Wie gut ist belegt, dass endokrine Disruptoren beim Menschen gesundheitliche Wirkungen haben können? 

Nach heutigem Forschungsstand ist das klar belegt. Tierexperimentelle Daten zeigen, dass viele hormonaktive Schadstoffe biologische Vorgänge im Körper beeinflussen. Und das Hormonsystem unterscheidet sich kaum zwischen verschiedenen Tierarten und dem Menschen, es ist evolutionär stark konserviert. Daher lässt sich aus Tierexperimenten mit Kaulquappen, Zebrafischen, aber auch Nagetieren oder Hühnern der Schluss ziehen: Die Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die wir dort sehen, verlaufen beim Menschen nach denselben Prinzipien. 

Gestützt wird das durch epidemiologische Daten aus der Bevölkerung, etwa aus Skandinavien und Asiendie nahelegen, dass sich zunehmende Belastungen mit endokrinen Disruptoren bereits vor der Geburt und in bestimmten Lebensphasen negativ auf das menschliche Hormonsystem auswirken können. Stoffe wie Phthalate, Bisphenole oder PFAS können demnach einen Anteil daran haben, dass Menschen an Adipositas erkranken oder an Typ-2-Diabetes, etwa weil sie die Insulinherstellung in der Bauchspeicheldrüse stören. Auch ein Einfluss endokriner Disruptoren auf den Beginn der Pubertät und Menopause sowie das polyzystische Ovarialsyndrom wird diskutiert. Diese epidemiologischen Studien allein können solche Zusammenhänge natürlich nicht beweisen, und sie sind natürlich auch nicht die einzige Ursache, aber zusammen mit den experimentellen Daten ist klar, dass sie eine Rolle spielen. Dennoch sind viele Fragen offen. Die Europäische Chemikalienagentur Echa bewertet gerade, wie viele der Schadstoffe im Spielzeug in welcher Konzentration im menschlichen Körper ankommen. Es wird aber noch einige Zeit dauern, bis die Daten vorliegen.

Warum sind Kinder besonders gefährdet?

Vor allem Kleinkinder stecken sich Spielzeug ständig in den Mund, lecken sie ab, nuckeln daran oder kauen darauf herum. Sie nehmen Schadstoffe wie Weichmacher über die Schleimhäute in deutlich größeren Mengen auf, als das geschieht, wenn man ein Spielzeug nur anfasst. Gleichzeitig sind bei Kindern die Schutzfunktion der Haut und wichtige Barrieren des Körpers noch nicht vollständig ausgeprägt, etwa die Blut-Hirn-Schranke. Schadstoffe können also leichter das zentrale Nervensystem erreichen. Auch die kindliche Leber ist noch nicht so effektiv darin, schädliche Substanzen abzubauen oder zu inaktivieren. Außerdem wissen wir, dass die Gehirnreifung stark vom Gleichgewicht der Schilddrüsenhormone abhängt. Endokrine Disruptoren können die hormonellen Signalketten stören. Dazu kommt, dass Kleinkinder im Schnitt verhältnismäßig viel Fettgewebe haben, in dem sich viele der langlebigen endokrinen Disruptoren bevorzugt einlagern. 

»Gerade deshalb müsste das Vorsorgeprinzip gelten«Josef Köhrle, Endokrinologe

Wäre es besser, auf älteres Spielzeug zurückzugreifen?

Nicht unbedingt. In altem Spielzeug können Stoffe sein, die heute verboten sind, etwa bestimmte Weichmacher, bromierte Flammschutzmittel, Bisphenol A oder Schwermetalle. Endokrine Disruptoren sind teils langlebig. Man kann nicht davon ausgehen, dass sie sich inzwischen in den Materialien verflüchtigt haben. Dazu kommt: Die Tendenz, Plastik zu recyceln, führt dazu, dass sich die Schadstoffe mit der Zeit mischen und anreichern. Werfe ich etwa ein sauberes Produkt weg, kann daraus beim Recycling ein schadstoffbelastetes Produkt werden. Und wir wissen in vielen Fällen nicht, welche hormonellen Auswirkungen solche Kombinationen von Schadstoffen haben. Es kommen dann synergistische Effekte zum Tragen, das heißt, die Stoffe können in Kombination schon bei geringeren Konzentrationen gesundheitsschädlich wirken, als das bei jedem einzelnen der Fall wäre.

Das klingt alles eher beunruhigend.

Wie gesagt: Viele der Wirkungen sind noch nicht final und bis ins Detail erforscht. Aber gerade deshalb müsste bis dahin das Vorsorgeprinzip gelten.

Worauf können Eltern achten, um das Risiko zu senken?

Man kann auf Prüfsiegel und Zertifikate wie CE, TÜV oder den Blauen Engel achten, oder darauf, dass man Produkte aus europäischer Produktion kauft. Das erhöht zumindest die Wahrscheinlichkeit, ein nicht gesundheitsschädliches Produkt zu erhalten. 

Hilft es, Produkte renommierter Hersteller zu kaufen, auch wenn sie nicht in der EU produzieren?

Das kann das Risiko ebenfalls senken. Aber es kommt eben sehr darauf an, welche Ausgangsprodukte verwendet werden. Wenn ein renommierter Hersteller mit Zulieferern zusammenarbeitet, die die verwendeten Chemikalien nicht ausreichend deklarieren, unreine Ausgangssubstanzen verwenden oder bei der Herstellung unsauber arbeiten, können Schadstoffe auch in den Produkten bekannter Hersteller vorkommen.

Wann sollte man vorsichtig sein?

Etwa, wenn ein Produkt stark riecht. Dann sollte man es auf jeden Fall ein paar Tage an der frischen Luft auslüften lassen – aber am besten gar nicht erst kaufen oder, wenn man es im Onlinehandel gekauft hat, im Zweifel lieber wegwerfen. Viele Produkte sind heutzutage mit Duftstoffen behandelt, damit man den chemischen Geruch nicht so stark wahrnimmt, aber oft dringt er trotzdem durch. Stofftiere, Kinderkleidung oder Kostüme sollte man am besten vor dem ersten Benutzen waschen. Aber solche Maßnahmen helfen nur bedingt. Nicht alle Schadstoffe verflüchtigen sich beim Auslüften oder lassen sich auswaschen. Manche bleiben lange Zeit in den Produkten und werden freigesetzt, oft noch stärker, wenn sie zerkratzt oder beschädigt sind, und können von dort in den Körper gelangen.

Bei dem riesigen Angebot an Billigartikeln, gerade auf Onlinemarktplätzen, ist es für Konsumenten meist kaum nachvollziehbar, ob ein bestimmtes Produkt unbedenklich ist. 

Richtig. Und die Verantwortung dafür darf auch nicht bei den Verbrauchern liegen. Im Moment ist das aber weitgehend der Fall. Die Importkontrolle findet in vielen Fällen nicht statt oder hinkt der schieren Masse der eingeführten Produkte hinterher. Zumal man für den Nachweis endokriner Disruptoren Labore braucht, die die entsprechenden hochempfindlichen Methoden vorhalten, etwa Massenspektrometer. Die Proben müssen zudem vorher aufbereitet werden. Da kann niemand einfach im Hafen ein Messgerät nehmen und die Produkte in den Containern durchmessen. Zumal die Schadstoffe, die bisher als solche definiert sind, nur ein kleiner Teil der Verbindungen sind, die sich mittlerweile etwa im Urin von Menschen finden. Das zeigen Biomonitoringdaten des großen EU-Projekts HBM4EU. Für viele davon gibt es noch keine standardisierten Testmethoden. Aber für eine ganze Reihe eben schon, und damit belastete Produkte sollten aus dem Verkehr gezogen werden.

Dabei gibt es seit einigen Jahren einen Plan, der Menschen besser vor schädlichen Stoffen schützen soll. Die EU-Kommission hat im Jahr 2020 die EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit vorgestellt, die Teil des europäischen Green Deal ist. 

Das ist ein Paradigmenwechsel im Chemikalienrecht. Zum ersten Mal werden hormonaktive Stoffe als eigene Gefahrenklasse anerkannt. Bisher wird ein Stoff nur dann verboten oder beschränkt, wenn seine endokrine Wirkung im Einzelfall eindeutig nachgewiesen ist. Die Prüfung dauert oft viele Jahre. Weichmacher etwa sind teils verboten, teils innerhalb bestimmter Grenzwerte erlaubt. PFAS, also die sogenannten Ewigkeitschemikalien, werden bislang ebenfalls nur teilweise beschränkt. Künftig sollen hormonaktive Stoffe genauso streng bewertet werden wie krebserregende, erbgutverändernde oder fortpflanzungsgefährdende Substanzen. Das bedeutet: Sie müssten von den Herstellern vollständig deklariert werden und dürften in sensiblen Produkten wie Kinderspielzeug, Kosmetika oder Textilien mit Hautkontakt überhaupt nicht mehr eingesetzt werden.

Wo liegt das Problem?

Diese Strategie muss endlich in konkretes Recht umgesetzt werden. Auf EU-Ebene laufen die Verfahren, aber sie dauern nun schon Jahre. In Deutschland sind mehrere Behörden zuständig, die wiederum auf die EU-Verordnung warten. Dazu kommt Druck aus der Wirtschaftslobby, die behauptet, dass bestimmte Substanzen unverzichtbar seien. Und so zieht sich der Prozess weiter in die Länge. Der Plan ist also längst beschlossen, aber er greift noch nicht – und solange das so bleibt, gelangen weiterhin hormonaktive Chemikalien in Alltagsprodukte.

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