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Spieltheorie: Gefangen in der Schneewehe

Wenn Mensch Verwandten unter die Arme greift, verwundert das - rein evolutionsbiologisch betrachtet - wenig: Familiäres Erbe voranzubringen, steckt tief in unseren Genen. Bei Fremden wird die Sache schon schwieriger, und selbst ausgeklügelte Spielchen geraten in Dilemmas. Zumal es darauf ankommt, ob Mann oder Frau am Tisch Platz nehmen.
Zusammen mit einem Kumpel haben Sie ein Verbrechen begangen und stehen nun vor der Wahl: Gestehen Sie, kommen Sie frei, doch Ihr Kompagnon landet für fünf Jahre hinter Gittern. Halten Sie den Mund, aber der andere verrät Sie, bezahlen Sie entsprechend dafür. Schweigen Sie beide, reichen die Indizien für zwei Jahre für jeden, und geben Sie beide die Tat zu, wird man Sie jeweils zu vier Jahren verurteilen. Was tun Sie?

Szenenwechsel. Die Straße vor Ihnen ist durch eine Schneewehe blockiert, die auch einem Wagen auf der Gegenfahrbahn den Weg versperrt. Wer steigt aus und schippt? Teilen Sie sich vielleicht sogar die Arbeit, oder warten Sie beide vergeblich auf den Schneepflug? Und wie ändert sich Ihr gesamtes Verhalten, wenn Sie in dieser Situation nach der Reaktion Ihres Leidensgenossen erneut entscheiden sollen?

Mit solchen mehr oder weniger alltäglichen Situationen wollen Forschern das Rätsel menschlicher Kooperation lösen – indem sie das Verhalten von Teilnehmern in entsprechenden Rollenspielen analysieren. Meist wählen sie allerdings abstraktere Variante, in denen festgelegte Spielgeldsummen Gewinn und Verlust durch Zusammenarbeit oder Verweigerung versinnbildlichen. Computermodelle haben dabei längst verschiedene klassische Verhaltensstrategien herauskristallisiert. Dazu zählt die Taktik "Wie du mir, so ich dir", bei der ein Spieler seinen nächsten Zug davon abhängig macht, wie sein Partner zuvor agiert hatte: Auf Kooperation folgt Kooperation, auf Verweigerung ein ebensolches Nein. Eine andere Vorgehensweise, benannt nach Pawlow, richtet sich nach dem erreichten Effekt: Führte die Entscheidung zu einem positiven Ergebnis, wird sie wiederholt, bleibt der Erfolg aus, greift man zum entgegengesetzten Verhalten.

Wer profitiert?

Das Gefangenendilemma gehört dabei zu den am weitesten verbreiteten Spielen. Doch Rolf Kümmerli von der Universität Edinburgh und seinen Kollegen war es nicht realitätsnah genug: Kooperation – Schweigen – bringt dem anderen klar einen Vorteil. Für einen selbst ist das jedoch nicht gesichert – einen Vorteil gibt es nur, wenn auch der andere kooperiert. Tut er es nicht, geht die Sache für den ersten am schlimmsten aus. Die Gefahr, sich umsonst aufgeopfert zu haben, ist also sehr groß und beeinflusst die Entscheidung. Gibt es nur eine Runde, ist daher Verweigerung für beide die optimale Wahl. Anders beim unbekannteren Schneewehen-Dilemma: Hier wäre es zwar am günstigsten, den anderen schippen zu lassen, doch wenn der im Wagen sitzen bleibt, ist es sinnvoller, selbst aktiv zu werden. Denn der Nutzen des kooperativen Verhaltens kommt hier grundsätzlich und sofort beiden zugute, egal wie sich der andere verhält. Und das, so Kümmerli und Co, sei im Alltag viel wahrscheinlicher.

Lausanner Studenten sollten – mit Spielgeld statt Strafen und Schneeschippen – zeigen, wie sich das Verhalten über mehrere Spielrunden hinweg in den beiden Varianten entwickeln würde. Tatsächlich nutzten sie in beiden Szenarien die beschriebenen Strategien, doch zeigten sich die Partner im Schneewehen-Dilemma weit kooperationsfreudiger als in der Gefangenenszene. Bei hohem Risiko, von einem nicht kooperierenden Partner ausgenutzt zu werden – wie im Gefangenen-Dilemma –, reduzieren Menschen offenbar ihren Willen zur Zusammenarbeit im Vergleich zu Situationen, in denen der Schaden im Zweifelsfall geringer ausfüllt.

Frauen sind anders

Und die Forscher beobachteten einen Geschlechtereffekt: Frauen, so berichten Kümmerli und seine Kollegen, setzten mehr als doppelt so häufig auf Zusammenarbeit wie Männer und nutzten auch eher die ausgeklügelten Strategien, sodass sie letztendlich einen größeren Gewinn erzielten. Dabei sind Männer keineswegs etwa die geborenen Einzelkämpfer: Spielten sie (ohne es zu wissen) mit einer Frau, steckte sie deren Kooperationsfreude durchaus an. Bei Mann gegen Mann hingegen wählten sie die harte Tour. Und auch das nur wiederum im Gefangenen-Dilemma, in dem die Kosten für vergebliche Zusammenarbeit entsprechend hoch liegen. Im Schneewehen-Szenario hingegen zeigte sich kein Unterschied.

Das aber widerspricht, so Kümmerli und Kollegen, dem klassischen Bild in der Sozialtheorie, die genau das entgegengesetzte Ergebnis vorhersagt. Ihr zufolge kooperieren Männer aus reiner Gier nicht – in der Hoffnung, dass ihr Gegenüber es tut und so einseitigen Gewinn bringt. Frauen hingegen verweigern sich eher aus der Angst heraus, dass ihr Gegenüber ebenfalls nicht kooperiert. Da das Gefangen-Dilemma beide Möglichkeiten zulässt, sollte sich hier kein Geschlechterunterschied zeigen. Im Schneewehen-Modell hingegen kann nur Gier eine Rolle spielen, Angst vor Nicht-Kooperation des Gegenübers bleibt außen vor: Es sollte daher zu Differenzen kommen. Dass dem gerade nicht so ist, kommentieren die Forscher lapidar mit: "Es gibt keine einfache Regel, wie sich Männer und Frauen in verschiedenen sozialen Dilemmas verhalten."

In jedem Fall aber sollte man neben dem üblichen Gefangenen-Szenario auch die Schneewehen stärker heranziehen, um menschliche Kooperation zu untersuchen, empfehlen sie. Schließlich könnte das Modell, wie schon gesagt, erheblich realistischer sein. Und führen gleich noch ein praktisches Beispiel an: Forscher hofften gern, ein anderer würde die Publikation schon schreiben, auf der dann auch der eigene Name steht. Im Falle allgemeiner Tatenlosigkeit macht es dann erheblich mehr Sinn, selbst in die Tasten zu hauen, statt darauf zu warten, dass die Konkurrenz die Lorbeeren einheimst.

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