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Gravitationswellensignal GW190521: Gefunden: Das erste mittelschwere Schwarze Loch

Zum ersten Mal haben Astrophysiker ein mittelschweres Schwarzes Loch beobachtet – im Moment seiner Entstehung. Doch der Fund wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet.
Künstlerische Darstellung zweier Schwarzer Löcher

Verschmelzen zwei sich eng umkreisende Schwarze Löcher zu einem noch größeren Objekt, senden sie Gravitationswellen aus, die sich mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum fortpflanzen. Seit ein paar Jahren beobachten Physiker solche Gravitationswellenereignisse fast schon routinemäßig. Doch das Erzittern der Raumzeit, das die in den USA und in Italien stationierten Detektoren LIGO und Virgo am 21. Mai 2019 registrierten, war anders. Das GW190521 genannte Signal war mit 0,1 Sekunden Dauer kürzer und erreichte mit 60 Hertz eine geringere Maximalfrequenz als die bis dato empfangenen Gravitationswellenpulse, wie die Forscher am Mittwoch in der Fachzeitschrift »Physical Review Letters« berichten. Es sei nicht wie das »Zwitschern« gewesen, das die Wissenschaftler normalerweise detektieren, erklärt Nelson Christensen vom französischen Centre National de la Recherche Scientifique und Mitglied der Virgo-Kollaboration in einer Pressemitteilung. Mit diesem Begriff bezeichnen die Forscher seit dem ersten erfolgreichen Nachweis eines Gravitationswellensignals im September 2015 den an ein Seismogramm erinnernden Ausschlag ihrer Detektoren. »Dieses Mal erinnerte es uns mehr an einen ›Knall‹; es ist das gewaltigste Signal, das LIGO und Virgo bisher gesehen haben.«

Die Schwarzen Löcher, die dieses Signal auslösten, waren 85- beziehungsweise 66-mal schwerer als die Sonne – und damit massereicher als alle Schwarzen Löcher, die LIGO und Virgo bislang beobachteten. Neun Sonnenmassen wurden bei der Kollision in Gravitationswellenenergie umgewandelt; nur deshalb ließ sich das Ereignis in über acht Milliarden Lichtjahren Distanz von den Detektoren wahrnehmen. Der Koloss, der aus diesem Verschmelzungsvorgang hervorgegangen ist, bringt 142 Sonnenmassen auf die imaginäre Waage und fällt damit in die Klasse der bislang nur vermuteten mittelschweren Schwarzen Löcher. Nach diesen suchen Astronomen bereits seit Jahren. Nun sind sie endlich fündig geworden.

Der Beweis: Mittelgewichte existieren!

Astronomen klassifizieren Schwarze Löcher anhand ihrer Masse. Aber nicht nur aus Liebe zur Ordnung: Die beiden Extreme der Massenskala entstehen auf sehr unterschiedlichen Wegen. Die leichtgewichtigen stellaren Schwarzen Löcher bleiben zurück, wenn massereiche Sterne kollabieren. Sterne sind so lange stabil, wie die Energie, die in ihrem Innern bei der Kernfusion erzeugte wird, dem Druck der Gravitation standhält. Versiegt der Brennstoff, gewinnt die Gravitation die Oberhand: Sterne mit mehr als zehn Sonnenmassen explodieren als Supernova, bei der ein Teil ihrer Materie ins All entkommt. Der Rest kollabiert bei ausreichender Masse zu einem Schwarzen Loch, das einen Bruchteil der ursprünglichen Sternmasse enthält. Modellrechnungen zeigen, dass auf diese Weise Schwarze Löcher von bis etwa 65 Sonnenmassen entstehen können.

© Mark Myers, ARC Centre of Excellence for Gravitational Wave Discovery (OzGrav)/Swinburne University
Schwarzes Loch

Am anderen Ende der Skala befinden sich die supermassereichen Schwarzen Löcher, die Astronomen in den Zentren vieler Galaxien gefunden haben. Sie können Millionen oder sogar Milliarden Sonnenmassen enthalten. Das Exemplar im Zentrum unserer Milchstraße ist mit vier Millionen Sonnenmassen noch ein relatives Leichtgewicht. »Eines der großen Rätsel der Astrophysik ist die Frage, wie supermassereiche Schwarze Löcher entstehen«, erklärt Christopher Berry von der LIGO-Kollaboration ebenfalls in der Pressemitteilung. »Bilden sie sich aus stellaren Schwarzen Löchern oder auf eine andere, unbekannte Weise? Wir haben lange nach mittelschweren Schwarzen Löchern gesucht, die eine Brücke zwischen den stellaren und den supermassereichen Schwarzen Löchern bilden könnten. Jetzt haben wir den Beweis, dass diese Mittelgewichte tatsächlich existieren.«

In der Massenlücke

Doch woher stammten die beiden 85 und 66 Sonnenmassen schweren Schwarzen Löcher? Zumindest das größere der beiden ist definitiv zu schwer, um bei einem Sternkollaps entstanden zu sein. Sterne mit 130 Sonnenmassen oder mehr sollten am Ende ihres Lebens so hohe Temperaturen in ihrem Innern erreichen, dass ein Effekt namens Paar-Instabilität eintritt: Gammaphotonen zerfallen spontan in Paare aus Elektronen und Antielektronen und entziehen dem Stern so viel Energie, dass die anschließende Supernova-Explosion den Stern völlig zerreißt, ohne ein Schwarzes Loch übrig zu lassen. Erst ab 200 Sonnenmassen könnten Sterne so schwer werden, dass sie direkt zu Schwarzen Löchern mit mindestens 120 Sonnenmassen kollabieren – ohne Supernova-Explosion. Damit ergibt sich eine »Massenlücke« von etwa 65 bis 120 Sonnenmassen, in der keine stellaren Schwarzen Löcher existieren dürften.

Es gibt eine »Massenlücke« von etwa 65 bis 120 Sonnenmassen, in der keine stellaren Schwarzen Löcher existieren dürften

Belegen die LIGO- und Virgo-Messungen also, dass Sterne doch schwerere Schwarze Löcher erzeugen können – oder sind die beiden Vorläufer von GW190521 auf anderem Weg in die »verbotene Zone« hineingewachsen? In einer Arbeit, welche die LIGO- und Virgo-Wissenschaftler in der Zeitschrift »The Astrophysical Journal Letters« veröffentlichten, untersuchen sie diese Frage.

Ihr favorisiertes Modell ist das multiple Merger-Szenario: Kleine Schwarze Löcher verschmelzen fortlaufend zu immer schwereren. Dazu müssen natürlich ausreichend viele Schwarze Löcher einander nahekommen können. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass dies am ehesten dort möglich ist, wo viele massereiche Sterne und damit auch viele Schwarze Löcher entstehen: In den dicht besiedelten Zentralbereichen aktiver Galaxienkerne und in so genannten Kugelsternhaufen. Hier ist die Dichte der Sterne hoch genug, damit eine mehrfache Verschmelzung von Schwarzen Löchern realistisch ablaufen kann.

Oder doch etwas ganz anderes?

Das Signal von GW190521 unterscheidet sich so stark von denen aller bisherigen Gravitationswellenereignisse, dass man es auch als etwas ganz anderes als ein Verschmelzungsereignis deuten kann. So untersuchen Berry und seine Kollegen mehrere alternative Möglichkeiten, darunter so exotische wie kosmische Strings aus der Frühzeit des Universums. Keine davon passe jedoch so gut zu den Daten wie das Verschmelzungszenario.

Viele Details bleiben aber im Ungewissen. Könnten die Schwarzen Löcher anders gewachsen sein, etwa dadurch, dass sie Gas aus ihrer Umgebung angesammelt haben? Und gibt es tatsächlich auch Mittelgewichte mit zehn- oder hunderttausenden Sonnenmassen? Diese wären für den Brückenschlag zu den supermassereichen Löchern notwendig. Das nun gefundene Schwarze Loch liegt mit seinen 142 Sonnenmassen gerade am unteren Rand dessen, was als mittelschwer gilt. »(GW190521) wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet«, kommentiert LIGO-Mitglied Alan Weinstein, Professor für Physik am California Institute of Technology in der Mitteilung. »Aus der Perspektive der Physik gesehen ist das eine sehr spannende Sache.«

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