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Milgram-Experiment: Gehorsam mindert Mitgefühl

Wer anderen Schmerzen zufügt, leidet zumeist mit. Jedoch deutlich seltener, wenn eine Autorität dazu auffordert. Hirnscans offenbaren eine mögliche Ursache.
Weinende Frau

Die Geschichte ist voll von Menschen, die auf Befehl grausame Taten begangen haben. Das lässt sich nicht allein mit besonderen Umständen oder Gefahren für das eigene Wohl und Leben erklären, wie sie beispielsweise in den Zeiten des Nationalsozialismus herrschten. Die klassischen Experimente von Stanley Milgram und seinen Nachfolgern legen nahe: Es genügt etwas Druck seitens einer Autorität, damit einige Menschen anderen schweres Leid zufügen. Wie kann das sein?

Ein Experiment in den Niederlanden wirft jetzt ein neues Licht auf diese dunkle Seite des Menschseins. Ein Team um Emilie Caspar und Valeria Gazzola vom Institut für Neurowissenschaften in Amsterdam warb knapp 40 Versuchspersonen an, im Schnitt 25 Jahre alt. Der Ablauf: Erst verabreichte eine Versuchsperson der anderen über zwei Handelektroden Elektroschocks, dann tauschten sie die Rollen. Vorab wurde das Gerät individuell so angepasst, dass ein Stromstoß nur ein bisschen schmerzte. Teils bestimmte der Versuchsleiter, ob es in der Runde einen Schock gab oder nicht; teils durften die ausführenden Versuchspersonen selbst entscheiden. Die »Täter« lagen dabei im Hirnscanner und konnten das Zucken der Hand des »Opfers« auf einem Bildschirm beobachten.

Die Auswertung der Hirnscans zeigte: Wenn die Versuchspersonen auf Anweisung einen Schock verabreichten, fiel die Aktivität in den an empathischen Reaktionen beteiligten Hirnregionen geringer aus, als wenn sie sich selbst dazu entschieden. Sie fühlten sich dann auch weniger verantwortlich, und es tat ihnen weniger leid. Das spiegelte sich in der verminderten Beteiligung des anterioren zingulären Kortex und der Inselrinde wider, die gewöhnlich bei Schuldgefühlen aktiv werden.

Entscheidender schien jedoch die Aktivität in der mittleren Windung des Schläfenlappens. Grundsätzlich gilt: Je aktiver diese Region, desto sensibler reagieren Menschen auf die Schmerzen anderer, wie die Forscherinnen erläutern. Das zeigte sich auch in ihrem Experiment: Je stärker Teile des Schläfenlappens auf die Beobachtung der zuckenden Hand reagierten, desto weniger Stromschläge verabreichten die Versuchspersonen aus eigenem Antrieb.

Und noch etwas fanden Caspar und ihre Kolleginnen bemerkenswert: Obwohl die Beteiligten ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, dass sich die Schockstärke nicht veränderte, hielten sie die Schmerzen ihres Opfers nach einer Anweisung für schwächer als nach eigener Entscheidung. »Einem Befehl zu gehorchen, beeinflusst die Wahrnehmung so sehr, dass sich auch die wahrgenommene Schockstärke verändert, nicht nur das Mitempfinden«, folgern die Autorinnen der Studie. Oft habe man die Milgram-Befunde damit erklärt, dass sich die Menschen für das zugefügte Leid nicht verantwortlich gefühlt hätten. Doch offenbar erscheinen die zugefügten Schmerzen weniger schlimm, wenn einen eine Autorität dazu veranlasst hat.

Das Milgram-Experiment

Das 1963 veröffentlichte Experiment von Stanley Milgram ist eines der bekanntesten der Psychologiegeschichte: Unter dem Eindruck der Verbrechen im Nationalsozialismus wollte der US-Psychologe herausfinden, unter welchen Umständen Menschen auf Anweisung einer Autorität anderen Leid zufügen. Die Versuchspersonen sollten dazu falsche Antworten eines vermeintlichen Mitspielers in einem Gedächtnistest mit Elektroschocks bestrafen, bis hin zur potenziell tödlichen Stärke von 450 Volt. Laut Milgram gehorchten 26 Versuchspersonen den Befehlen und verabreichten die höchstmögliche Schockstärke; 14 brachen das Experiment ab, nachdem das vermeintliche Opfer protestierte und weitere Antworten verweigerte. Die Probanden wurden allerdings stark unter Druck gesetzt. In Varianten des Experiments, in denen der Druck schwächer ausfiel, widersetzten sich deutlich mehr von ihnen.

Ein halbes Jahrhundert später bestätigte eine Neuauflage des Experiments in Frankreich Milgrams Ergebnisse. Dort gaukelte man den Versuchspersonen mit einer Fernsehkulisse samt Publikum vor, es handle sich um Tests für eine TV-Show.

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