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Sinnesphysiologie: Geistloser Blick

Würfelquallen gelten nicht gerade als Krone der Schöpfung. Das Dasein der durch die Meere treibenden, hirnlosen Wesen wirkt wenig anspruchsvoll. Dennoch haben sie hoch präzise Sehorgane entwickelt, die sich vor den Augen der Wirbeltiere nicht verstecken müssen.
Linsenauge von Tripedalia cystophora
Die Entwicklung des Sehsinns gilt als schön anschauliches Beispiel, wie die Evolution aus einfachen Anfängen hoch komplexe Organe schuf: Es begann mit simplen lichtempfindlichen Zellen auf der Außenhaut, mit denen ihre Besitzer lediglich zwischen Hell und Dunkel unterscheiden konnten. Dann gelang es einigen Arten – wie beispielsweise Napfschnecken oder Planarien –, ihre Lichtsinneszellen in einer Grube oder einen Becher zu versenken, wodurch zumindest eine grobe Wahrnehmung der Richtung des Lichteinfalls möglich wurde. Der nächste Schritt war das einfache Lochkameraauge mancher Mollusken, die schon ein – mangels Linse allerdings unscharfes – Bild wahrnehmen können. Erst die Wirbeltiere – und parallel zu ihnen die höheren Tintenfische – sind in der Lage, ein präzises Linsenauge mit guter Abbildungsqualität zu liefern.

Passt also alles zusammen: Bei "niederen" Tiere reicht es nur für einfache Augen, während die komplizierten Sehorgane ausschließlich den im Stammbaum des Lebens ganz oben stehenden Arten vorbehalten bleibt.

Wenn nur nicht Tripedalia cystophora wäre.

Tripedalia cystophora | Die Würfelqualle Tripedalia cystophora lebt in Mangrovengebieten der Karibik.
Bei dem nur nur ein Zentimeter großen Tierchen handelt es sich um einen Vertreter der Cubozoa oder Würfelquallen; und diese zum Stamm der Cnidaria oder Nesseltiere gehörende Gruppe siedeln die Zoologen ganz unten an der Basis tierischen Lebens an. Es sollte demnach lediglich primitive Sehorgane sein Eigen nennen dürfen.

Dem ist aber nicht so, wie Dan Nilsson und seine Kollegen von der schwedischen Universität Lund jetzt herausgefunden haben.

Rhopalium | In jedem der vier Rhopalien der Würfelqualle sitzt ein oberes sowie ein unteres Linsenauge, flankiert von zwei Paar einfach gebauter Pigmentbecheraugen.
Bekannt war bereits, dass die Tentakeln der Würfelqualle mit lichtempfindlichen Zellen ausgestattet sind. Sie sitzen in vier Sinneskörpern – Rhopalien genannt – an den Ecken des würfelförmigen Körpers. Jedes Rhopalium hat sechs Augen: Vier – wie es sich gehört – primitive Pigmentbecheraugen sowie zwei weitere, etwas komplexer aufgebaute Sehorgane, die es in sich haben – es sind echte Linsenaugen.

Unteres Linsenauge | Das untere Auge hat eine bewegliche Pupille, mit welcher der Lichteinfall kontrolliert werden kann.
Wie die diffizilen anatomischen Studien an den nur Bruchteile eines Millimeters großen Organen jetzt ergaben, brauchen diese sich vor den Sehorganen der Wirbeltiere nicht zu verstecken. Das untere der beiden Augen besitzt eine Pupille, die in weniger als eine Minute auf wechselnde Lichtverhältnisse reagiert. Die Würfelquallen haben sich sogar bemüht, die Abbildungsqualität zu optimieren: Der Brechungsindex der Linsen sinkt kontinuierlich von innen nach außen leicht ab, wodurch ihr Abbildungsfehler korrigiert wird. Beim oberen Auge geschieht das nahezu perfekt – gestochen scharfe Bilder sollten damit möglich sein.

Allerdings – und das ist das erste Rätsel – liegt die Brennweite hinter der Netzhaut; die Tiere können also, trotz perfekt gebautem optischen Apparat, nur ein unscharfes Bild erkennen. Und zur Erkenntnis – womit wir bei Rätsel Nummer zwei wären – fehlt den Quallen schlicht das Zentralnervensystem: Die hirnlosen Tiere besitzen lediglich einfache Nervenstränge, mit denen sie das Pulsieren ihres Schirmes koordinieren. Wozu also der ganze Aufwand?

Eine endgültige Antwort wissen die Forscher auch nicht. Sie vermuten, dass die unterfokussierten Augen quasi als Tiefpassfilter die Wahrnehmung großer Objekte ermöglichen, während kleine Partikel unsichtbar bleiben. Das hätte für das in den karibischen Mangroven lebende Tier durchaus Vorteile, könnte es ihm doch helfen, den in seinem Lebensraum zahlreichen Hindernissen rechtzeitig auszuweichen.

Was es auch sei, irgendeinen Überlebensvorteil müssen die Würfelquallen aus dem komplexen Sehapparat gewonnen haben. Ein Gehirn war dagegen wohl nicht nötig.

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