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Neurobiologie: Gemeinsam auf die Nerven gehen

Um unbedeutende Zufälle und wichtigen Zusammenhängen in unserem Lebensumfeld zu unterscheiden, müssen auch die vermeintlich simplen Nervenverdrahter des Gehirns mehr sein als schnelle Informationsvermittler. Wer aber ist hier verantwortlich für das Werten, Vergleichen und Entscheiden im neuronalen Zellnetz?
Von Pavlow, seinen Versuchshunden und deren Speichelfluss hat der eine oder andere wohl schon gehört: Bereits vor gut hundert Jahren berichtete der russische Forscherpionier von seinen im Klassiker-Experiment trainierten Tieren, denen nicht nur beim Anblick von Leckereien das Wasser im Mund zusammenlief, sondern auch sobald nur eine Glocke ertönte – obwohl von schmackhaften Happihappi weit und breit nichts zu sehen war. Pavlow hatte die Hunde zuvor konditioniert: Wiederholt hatte er ihnen Lieblingsspeisen zusammen mit Glockenschlägen serviert und so nach und nach Ton und Speise im Gehirn der Tiere miteinander assoziiert.

In gut einem Jahrhundert tut sich so einiges in dynamischen Forschungsfeld Biologie: Längst ist klar geworden, welche unschätzbaren Vorteile es für Lebewesen von Wurm bis Mensch haben muss, häufig wiederkehrende Zusammenhänge zu erkennen und im Gehirn zu speichern. Und seit geraumer Zeit wird demnach en detail ausgetüftelt, wie neuronale Netze eigentlich erkennbar zusammen auftretende Umweltereignisse fest verdrahten. Im Fokus der Forscher stand dabei zuletzt ein bestimmter Glutamat-Rezeptor der Gehirnneuronen: der durch das Signalmolekül N-Methyl-D-Aspartat ansteuerbare NMDA-Rezeptor.

Er geriet ins Blickfeld als Schlüsselstelle bei unterschiedlichen Gehirnprozessen – von Lern- und Gedächtnisvorgängen bis hin zur Alkoholsucht. Je länger der Rezeptor untersucht wurde, desto deutlicher zeigte sich, dass er exakt die Voraussetzungen erfüllt, welche vom Physiologen Hebb für einen "Koinzidenzrezeptor" gestellt worden waren – gut vier Jahrzehnte nach Pavlow, aber auch schon rund fünf vor der Jahrtausendwende. Als "Hebb'sche Synapse" wird gemeinhin ein neuronaler Entscheider postuliert, mit dessen Hilfe die Zusammengehörigkeit zweier Ereignisse molekular erkannt und umgesetzt wird – ein Mechanismus also, der etwa "Glockenschlag" und "Futterpräsentation" als wiederkehrendes Ritual wahrnimmt und für eine neuronale Neuverknüpfung mit "Speichelfluss" sorgt.

NMDA-Rezeptoren dürften ein Schlüsselbestandteil solcher Synapsen sein. Das aus mehreren Untereinheiten aufgebaute Rezeptorprotein arbeitet nur, sobald zwei Dinge zugleich eintreten: Ein Nervensignal, welches die unmittelbare Membranumgebung ihrer Nervenzelle polarisiert, muss kombiniert mit dem zeitgleichen Andocken des Transmittersignals am Rezeptor einhergehen, damit der Rezeptor für einen Kalzium-Einstrom in die Nervenzelle sorgt und dadurch für eine Weiterverarbeitung. So beeinflusst er zwangsläufig die kommunikative Verbindung zwischen zwei simultan aktiven Nervenzellen. Je häufiger die beiden Ereignisse eintreten, desto mehr NMDA-Rezeptoren bilden sich, wodurch die Reaktionskette gefestigt und verstärkt wird – wahrscheinlich ist genau dies die Grundlage vieler Lern- und Gedächtnisprozesse.

Beweisen lässt sich diese Theorie allerdings nicht so leicht: Notwendig wäre dazu, die NMDA-Rezeptoren gezielt abzuschalten, ohne irgendwelche anderen Funktionen der neuronalen Kommunikation ebenfalls zu beeinträchtigen. Dies gelang bislang nicht völlig zufrieden stellend. Mit erheblichem experimentellen Aufwand machten sich nun Shouzhen Xia vom Cold Spring Harbour Laboratory und seine Kollegen an die Arbeit: Die Forscher entwickelten einen Mechanismus, mit dem sie in ihren Versuchstieren – Taufliegen – gezielt NMDA-Rezeptoren ausknipsen konnten.

Bevor die Wissenschaftler diesen Schalter betätigten, war es den durchaus lernfähigen Insekten gelungen, zwei Ereignisse als relevant zusammengehörig zu erkennen: Ein bestimmter Geruch, der stets mit einem leichten Stromschlag einherging, brachte die Fliegen nach einer Konditionierungsphase verlässlich zum präventiven Abheben vom elektrifizierbaren Untergrund. Dann aber verhinderten Xia und seine Kollegen die Produktion eines wichtigen Bauteils des NMDA-Rezeptors, indem sie dessen Boten-RNA-Bauanleitung mit Hilfe einer RNA-Sonde flächendeckend abfingen, bevor sie vom Proteinsyntheseapparat der Zellen umgesetzt werden konnte.

Die NMDA-losen Fliegen zeigten daraufhin genau die Ausfälle, die beim Versagen einer Hebb'schen Synapse zu erwarten wären: ein nahezu vollständiges Versagen ihrer assoziativen Lernbefähigung. Zwar konnten die Insekten den Ausfall mit intensivem Training teilweise kompensieren – unbekannt bleibt, welche Ersatz-Mechanismen hier eine Rolle spielen könnten –, stets aber versagte ohne NMDA das Langzeitgedächtnis der Insekten völlig: Alle mühsam antrainierten Lerninhalte gingen nach kurzer Zeit wieder verloren. Wohl, so schließen die Wissenschaftler, weil dauerhafte, NMDA-rezeptorengestützte Kommunikationswege nicht länger neu gebahnt werden konnten.

Was für Fliegen gilt, so die Forscher abschließend, dürfte im übrigen auch für eine Vielzahl anderer Organismen zutreffen: Die NMDA-Rezeptoren von Taufliegen und Bienen, Fadenwürmern und Meeresschnecken ähneln sich im Aufbau und Funktion beträchtlich. Wahrscheinlich ist also die Hebb'sche Synapse, jener molekulare Mechanismus mit dem gemeinsam ablaufende Umweltereignisse neuronal verdrahtet werden, ein uraltes gemeinsames Erbe der Tierwelt.

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