Genetik: Beschleunigte Evolution

Jahrzehntelang hat sich die Evolutionsbiologie von der Grundannahme leiten lassen, dass sich das Leben durch blinden Versuch und Irrtum anpasst: Lebewesen erwerben zufällige Mutationen, und die natürliche Auslese filtert anschließend die Gewinner dieser Lotterie heraus. Doch immer mehr Indizien deuten auf ein differenzierteres Bild hin. Wenn Populationen von Lebewesen einen evolutionären Wandel durchlaufen, muss das nicht zwingend eine passive Reaktion auf Umweltveränderungen sein. Manchmal können evolutionäre Prozesse auch dazu führen, dass sich die Anpassungsfähigkeit selbst verändert.
Dass sogar die Fähigkeit der Lebewesen, sich anzupassen, einer Entwicklung unterliegt, stellt traditionelle Ansichten über die biologische Evolution in Frage. Die natürliche Auslese kann nicht in die Zukunft sehen und demzufolge nicht planen. Wenn aber einige Organismen besser als andere dazu in der Lage sind, nützliche Variationen hervorzubringen, dann ist es wahrscheinlicher, dass sie überleben und die weniger wandlungsfähigen Organismen verdrängen. Die natürliche Selektion sollte daher Mechanismen begünstigen, welche die Evolvierbarkeit erhöhen: das Vermögen, sich evolutionär zu verändern. Aber wie genau funktioniert das, und wo liegen die Grenzen?
Obwohl die Evolution nicht vorausblicken kann, weisen Lebewesen manchmal Variationsmuster auf, die nicht auf bloßem Zufall zu beruhen scheinen. Einige pathogene Bakterienspezies verfügen beispielsweise über besonders mutationsanfällige DNA-Sequenzen, die als »contingency loci« (sinngemäß: Regionen, die Möglichkeiten eröffnen) bekannt sind und vermehrt nützliche Veränderungen hervorbringen. Diese DNA-Sequenzen ermöglichen es den Bakterien, ihre Oberflächenproteine rasch zu verändern, so dass sie für das Immunsystem des Wirtsorganismus schwerer zu erkennen sind – was ihr Überleben und ihre Vermehrung begünstigt. Ein ähnliches Verhalten kennt man von virtuellen Organismen, die für Computermodelle programmiert werden. Konfrontiert man sie mit wiederkehrenden Herausforderungen, entwickeln sie »genetische« Architekturen, die vorteilhafte Veränderungen wahrscheinlicher machen, was wiederum ihre Anpassungsfähigkeit verbessert. Solche Beobachtungen deuten darauf hin, dass der Selektionsdruck und die natürliche Auslese nicht nur das Erscheinungsbild der Organismen prägen, sondern auch ihre Evolvierbarkeit. Das verbessert die Fähigkeit, auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren.
Nur wer sich ändert, bleibt im Spiel
Diese These haben wir im Labor getestet. Wir setzten dazu verschiedene Populationen des Bakteriums Pseudomonas fluorescens einem wiederholten Wechsel der Umweltbedingungen aus, was einen Selektionsdruck auf sie ausübte, sich immer wieder neu anzupassen. Die Populationen, die daran scheiterten, starben aus und wurden durch erfolgreichere Abstammungslinien ersetzt. Die Fähigkeit der Bakterien, sich an die veränderliche Umwelt anzupassen, war anfangs begrenzt, doch mit der Zeit wurden die Mikroben besser darin.
Schließlich entwickelten einige Abstammungslinien örtlich begrenzte »Mutations-Hotspots« auf ihrer DNA – Bereiche, in denen Mutationen tausende Male häufiger auftraten als anderswo im Genom. Diese überdurchschnittlich veränderlichen Sequenzen erhöhten die Chance der Bakterien, vorteilhafte Merkmale auszuprägen. Dabei ist der zu Grunde liegende Mechanismus genau der gleiche wie bei den oben beschriebenen pathogenen Bakterien.
Die Struktur des Erbguts und das Tempo, in dem es mutiert, können offenbar durch evolutionären Druck beeinflusst werden, so dass sich die künftige Anpassungsfähigkeit erhöht
Unseren Experimenten zufolge wirkt die Selektion nicht nur auf die bestehende Variation zwischen Individuen ein, die aus zufälligen Mutationen hervorgegangen ist, sondern beeinflusst auch die Fähigkeit von Abstammungslinien, überhaupt eine solche Variation hervorzubringen. Evolution ist somit nicht nur ein Spiel des blinden Zufalls. Die Struktur des Erbguts und das Tempo, in dem es mutiert, können offenbar durch evolutionären Druck beeinflusst werden, so dass sich die künftige Anpassungsfähigkeit erhöht. Ist dieses Phänomen auf Mikroben und virtuelle Organismen beschränkt oder findet es sich ebenso bei komplexeren Lebewesen?
Regelmäßig am Rand des Aussterbens
Eine Antwort hierauf liefern die Studien der Evolutionsbiologen Peter und Rosemary Grant über die Darwinfinken auf den Galapagosinseln. Diese Vögel sind seit Langem ein Paradebeispiel für die natürliche Auslese in Aktion: Die Schnabelgrößen und -formen der Tiere haben sich klar erkennbar in Reaktion auf die Umweltbedingungen entwickelt.
Synthetische Evolutionstheorie
Die Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (1823–1913) stellten Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Konzept einer Evolutionstheorie vor. Demnach führt natürliche Selektion dazu, dass sich Organismen an ihre Umwelt anpassen. Die Auslese folgt aus einem Überschuss an Nachkommen, die miteinander konkurrieren; aus einer Variation zwischen ihnen; aus der Vererbbarkeit ihrer Merkmale sowie aus den ökologischen Rahmenbedingungen. Der Mechanismus der Selektion und die daraus resultierende Evolution lassen sich in der Natur überall beobachten und experimentell beliebig oft reproduzieren. Daher sind es keine theoretischen Phänomene mehr, jedenfalls nicht in der alltagsgeläufigen Bedeutung dieses Begriffs, sondern Tatsachen. Fachleute sprechen deshalb oft von Evolutionsbiologie statt von Evolutionstheorie.
Im 20. Jahrhundert verschmolzen Erkenntnisse aus der Embryologie, Zoologie, Botanik, Ökologie, Paläontologie und Molekularbiologie zur Synthetischen Evolutionstheorie. Sie vereint die mendelsche Genetik mit der darwinschen Vorstellung einer graduellen Evolution und erklärt das Auftauchen neuer Arten mithilfe der Populationsgenetik.
Da sich der Erkenntnisstand ständig weiterentwickelt, diskutieren Fachleute, ob das Evolutionskonzept zu einer »erweiterten evolutionären Synthese« ausgebaut werden müsse. Es geht ihnen aber nicht darum, die gegenwärtigen Erklärungen des evolutionären Geschehens aufzugeben, sondern sie wollen diese ergänzen. (fs)
Schwere Dürren und El-Niño-Ereignisse verändern die Nahrungsverfügbarkeit auf den Galapagosinseln immer wieder dramatisch und treiben die dort lebenden Vogelpopulationen regelmäßig an den Rand des Aussterbens. Neu einwandernde Vögel begründen dann ihrerseits Populationen, die sich auf den Inseln verbreiten. In diesen Auf-und-Ab-Zyklen begünstigt die Selektion jene Finken, deren Schnäbel am besten für die gerade verfügbare Nahrung geeignet sind: große, massige Schnäbel zum Knacken harter Samen beziehungsweise schlanke Schnäbel für weichere Nahrung.
Jüngste Genomuntersuchungen haben gezeigt, dass nur relativ wenige Gene die Schnabelentwicklung bei den Finken steuern. Diese Erbanlagen haben aber eine große Wirkung. Bei anderen Vogelarten hingegen wird die Schnabelform von sehr viel mehr Genen kontrolliert, die jeweils nur einen kleinen Beitrag leisten. Bei den Darwinfinken verursachen lediglich sechs genetische Loci (Bereiche auf der DNA) etwa 45 Prozent der Variationsbreite der Schnabelgröße. Zu ihnen gehört ein besonders einflussreiches »Supergen«: ein Cluster aus vier funktional verwandten Genen, die nah beieinanderliegen. Bei veränderlichen Umgebungsbedingungen reagiert er stark auf Selektionsdrücke. Die räumliche Bündelung zusammengehöriger Erbanlagen verhindert, dass sie während der sexuellen Rekombination (dem Umsortieren des Erbguts bei der geschlechtlichen Fortpflanzung) voneinander getrennt werden, und stellt die Vererbung überlebenswichtiger Merkmale wie der Schnabelform sicher.
Mehr Variation für mehr Erfolg in der Evolution
Viele Fachleute nehmen an, dass eine solche modulare genetische Architektur den Vögeln eine schnellere Anpassung an die Umwelt ermöglicht im Vergleich zu Arten, deren Merkmale von vielen weit übers Genom verstreuten Erbanlagen mit jeweils nur geringer Wirkung abhängen. Angesichts der extremen Umweltschwankungen auf den Galapagosinseln könnte die Fähigkeit, mehr Variationen im Erscheinungsbild hervorzubringen, einen entscheidenden Überlebensvorteil darstellen. Das spricht für die Annahme, dass die ausgeprägte Evolvierbarkeit der dort lebenden Finken selbst ein Ergebnis der Selektion sein könnte.
Bei solchen Schlussfolgerungen ist allerdings Vorsicht geboten, da die Evolution bekanntermaßen opportunistisch ist: Sie sattelt stets auf vorhandenen Merkmalen auf, die sich mitunter als vorteilhaft erweisen, obwohl sie sich eigentlich aus ganz anderen Gründen entwickelt haben. Bei unseren Experimenten mit Bakterienpopulationen konnten wir beobachten, wie deren Evolvierbarkeit immer weiter zunahm, indem wir verfolgten, welche Abstammungslinien untergingen und warum. Im Fall der Darwinfinken jedoch haben alle heute lebenden Arten eine genetische Architektur gemeinsam, die bereits ihre Vorfahren vor fast einer Million Jahren besaßen. Sollte die natürliche Selektion bei ihnen tatsächlich eine größere Evolvierbarkeit begünstigt haben, dann läuft der Prozess schon seit sehr langer Zeit, und die weniger wandlungsfähigen Arten unter ihnen sind längst ausgestorben. Das erschwert es, die These zu überprüfen, ob gesteigerte Evolvierbarkeit selbst eine evolutionäre Anpassung darstellt.
Nichtsdestoweniger wird immer deutlicher: Unter bestimmten Bedingungen kann die Selektion Organismen begünstigen, die nicht nur besser angepasst sind, sondern zudem Anpassungen rascher hervorbringen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Evolution zielgerichtet abläuft oder eine innewohnende Tendenz hin zum Fortschritt hat. Die natürliche Auslese bleibt auch angesichts der neuen Erkenntnisse blind für die Zukunft. Aber bei sich wiederholenden Umweltveränderungen können durch Selektion genetische Architekturen entstehen, welche die Adaption ihrer Trägerorganismen begünstigen: Die Evolution kann gewissermaßen aus ihrer eigenen Geschichte lernen.
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