Genstudie: Wer die allerersten Slawen waren

Ab dem Jahr 550 n. Chr. muss es einen tiefgreifenden Wandel in Kultur und Lebensweise der Menschen in großen Teilen Osteuropas gegeben haben. Das hatten Archäologen schon vor längerer Zeit beobachtet: Die Menschen stellten nun simplere, undekorierte Keramikgefäße her, machten wenig Gebrauch von Metallen wie Eisen oder Bronze, ihre Häuser waren einfacher gebaut als zuvor. Anders als die Menschen in den Jahrhunderten davor verbrannten sie zudem ihre verstorbenen Angehörigen. Eine DNA-Studie legt nun nahe, dass diese neuen kulturellen Praktiken von Immigranten mitgebracht wurden, die antike Autoren ab diesem Zeitpunkt als »Slawen« bezeichnen.
Das ergaben die Genanalysen an alten menschlichen Überresten aus dem heutigen Ostdeutschland, Polen, der Ukraine und dem nördlichen Balkan. Ein Team um Joscha Gretzinger, Zuzana Hofmanová und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat die Ergebnisse nun in der Zeitschrift »Nature« veröffentlicht. Im Fachblatt »Genome Biology« publizierte Hofmanová mit einem zweiten Team die Resultate von entsprechenden Untersuchungen in Tschechien.
Die Wissenschaftler stützen sich bei ihrer Analyse auf die Gendaten von 550 Menschen, die sowohl vor als auch nach der slawischen Migration lebten und somit einen Einblick in die zeitliche Veränderung der lokalen Genetik geben. Die genetische Signatur der Immigranten lässt sich dabei teils erst Jahrhunderte später fassen, nachdem die Menschen wieder zum Brauch der Körperbestattung übergegangen waren.
Die Expansion der slawischen Gruppen sei nicht nach dem »Modell von Eroberung und Imperium« vonstattengegangen, schreibt das Max-Planck-Institut (MPI) in einer Pressemitteilung. Ganze Familien seien gemeinsam umgezogen und Männer und Frauen hätten gleichermaßen zu den entstehenden Gesellschaften beigetragen. Das ließ sich aus dem untersuchten Erbgut ableiten.
Die slawische Expansion sei aber auch kein einheitliches Ereignis gewesen, »bei dem ein einzelnes Volk als Ganzes wanderte, sondern ein Mosaik verschiedener Gruppen, von denen sich jede auf ihre eigene Weise anpasste und integrierte«, erklärt Hofmanová in der Pressemitteilung. Das deute darauf hin, dass es nie nur die eine »slawische« Identität gegeben habe, sondern viele.
Sahen sich die Einwanderer selbst als »Slawen«?
Weil eigene Schriftzeugnisse fehlen, ist unklar, ob sich alle Bevölkerungsgruppen, die damals oder heute unter dem Begriff »Slawen« zusammengefasst werden, überhaupt selbst so bezeichneten oder sich als gemeinsames Volk verstanden. Es sei nicht einmal gewährleistet, dass sie überhaupt ein Idiom der slawischen Sprachfamilie verwendeten, erläutert der Mittelalterhistoriker Steffen Patzold von der Universität Tübingen in einem begleitenden Kommentar in der Fachzeitschrift »Nature«. Belege dafür fänden sich erst ab dem späten 9. Jahrhundert.
Die Ergebnisse zeigen, dass der Vorgang der slawischen Immigration für jede Region gesondert betrachtet werden muss. Im Norden des Balkans vermischten sich die slawischen Einwanderer mit der ortsansässigen Bevölkerung. In Ostdeutschland dagegen folgten die Neuankömmlinge auf den Niedergang des Thüringer Königreichs. Dessen völkerwanderungszeitliche Bevölkerung verschwindet fast vollständig aus dem Genpool. Anschließend dominiert das genetische Erbe der slawischen Gruppen.
Bemerkenswert ist, dass sich dieses genetische Erbe bis heute bei den Sorben findet. Diese slawischsprachige Minderheit in Ostdeutschland habe sich somit ein genetisches Profil bewahrt, das eng mit den frühmittelalterlichen slawischen Bevölkerungsgruppen verwandt ist, heißt es weiter in der Pressemitteilung.
»Die Ausbreitung der Slawen war wahrscheinlich das letzte demografische Ereignis von kontinentaler Bedeutung, welches sowohl die genetische als auch die sprachliche Landschaft Europas dauerhaft und grundlegend verändert hat«, sagt Mitautor und MPI-Direktor Johannes Krause.
Mangels Funden und verwertbarer DNA-Daten bleiben Details zum Ausgangspunkt der slawischen Expansion und dem ursprünglichen Kerngebiet noch weitgehend offen. Anhand der genetischen Signaturen lässt sich auf eine Ursprungsregion zurückrechnen, die sich vom südlichen Weißrussland bis in die zentrale Ukraine erstreckt. Die Gendaten »deuten auf einen Ursprung irgendwo zwischen den Flüssen Dnister und Don hin«, erklärt Erstautor Gretzinger.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.