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Geograf Strabon: Die ganze Welt in einem Buch

Strabon schrieb viel. Richtig viel. Er beschrieb die ganze Welt. Vor 2000 Jahren interessierte sich keiner für seine Bücher. Doch dann, lange nach seinem Tod, kam der Hype um den großen Gewährsmann der Antike.
Eine malerische Darstellung einer antiken, idealisierten Stadt am Wasser, inspiriert von klassischer Architektur. Im Vordergrund sind prächtige Gebäude mit Säulen und Kuppeln zu sehen, umgeben von lebhaften Szenen mit Menschen, die Boote besteigen und Handel treiben. Statuen und dekorative Elemente schmücken die Umgebung, während im Hintergrund weitere monumentale Bauwerke und eine Statue auf einer Säule sichtbar sind. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Wohlstand und kultureller Blüte.
Die erfundene Szene eines römischen Hafens, gesäumt von Tempeln, Statuen und Säulenhallen, schuf der Maler Thomas Cole (1801–1848). Der tatsächliche Hafen Roms sah nicht so aus, war aber ein Tor in die Welt der Antike.

An diesem Mann kommt keiner vorbei. Zumindest nicht, wenn es um antike Geschichte und Geografie geht. Die Rede ist von Strabon von Amaseia und seinem Buch »Geographika«, das außerhalb von Fachkreisen allerdings kaum jemand komplett gelesen haben dürfte. Verständlicherweise: Seine Beschreibung der gesamten bekannten Welt vor 2000 Jahren, der »Oikumene«, umfasst ganze 17 Bände. Detailverliebt durchstreift er darin zahlreiche Länder, betrachtet orgiastische Kulte und grausame Hinrichtungen. Vieles, was die Zeiten nicht überdauerte, blieb einzig in seinen Zeilen erhalten.

Strabon war ein Zeitgenosse der ersten beiden Kaiser des Römischen Reichs, Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) und Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.). In seiner »Geografie« führt er die Leser beginnend in Iberien im Uhrzeigersinn auf eine Rundreise um das Mittelmeer. Dabei fanden auch Gegenden Eingang in sein Werk, die keine Mittelmeeranrainer waren, wie die keltischen Gebiete nördlich der Iberischen Halbinsel, Britannien und sogar Indien.

»Strabon beschreibt die Oikumene aber nicht lückenlos – das wäre ihm zu langweilig gewesen«, sagt Eckart Olshausen, emeritierter Professor für Alte Geschichte der Universität Stuttgart und Strabon-Experte. »Er wählt seinem subjektiven Empfinden nach wichtigere Details aus und lässt nach demselben Maßstab Unwichtigeres weg.«

So beschreibt der antike Geograf in seiner Weltschau zwar durchaus die jeweiligen Regionen, referiert gewissenhaft die Städte und Häfen einzelner Provinzen oder schildert Küstenverläufe und Gebirgszüge. Das war aber nicht sein hauptsächliches Interesse. »In den Mittelpunkt seiner Geografie stellt Strabon nicht den Kosmos, nicht die Weltkugel, nicht die Vermessung der Oikumene, sondern den Menschen«, erklärt Olshausen. In welcher Umgebung lebt eine Bevölkerung, welche Geschichte hat sie geprägt, welche religiösen Vorstellungen – und wie sind Wirtschaft und Politik ausgerichtet? Strabon beschreibt zudem, was den Menschen »sonst noch innerlich und äußerlich bewegt«, kurzum – dessen Kultur.

Ein Buch in 47 Bänden war Strabons wichtigste Schrift

Strabons Werk zählt zu den wenigen antiken Schriften, die nahezu vollständig überliefert sind. Mit dem Niedergang des Weströmischen Reichs zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert ging ein unermesslicher Schatz an Wissen verloren, schätzungsweise bis zu 90 Prozent der antiken griechischen und römischen Schriften – darunter auch Strabons eigentliches Hauptwerk, die 47 Bücher umfassenden »Historika Hypomnemata« (Geschichtliche Aufzeichnungen). Von ihnen sind nur Fragmente erhalten. Als Ergänzung dazu schrieb er eine jüngere römische Geschichte, die hauptsächlich den Zeitraum von etwa 145 bis 30 v. Chr. umspannte und somit die letzten, turbulenten Jahrzehnte der römischen Republik abdeckte. Für dieses Opus fasste er sich vergleichsweise kurz: In 17 Büchern legte er die »Geografie« vor, an der er bis an sein Lebensende arbeitete.

Als Kind einer wohlhabenden griechischen Familie um 63 v. Chr. in Amaseia (dem heutigen Amsya) im Nordwesten Kleinasiens geboren, genoss Strabon standesgemäß eine Spitzenausbildung und durchlief einen enzyklopädischen Unterricht, der den römischen »artes liberales« (freien Künsten) entsprach. Unter anderem studierte er in Nysa am Mäander, einem Zentrum der Gelehrsamkeit, dessen Ruinen heute in der westtürkischen Provinz Aydın liegen. In Rom setzte er seine Ausbildung fort und lernte Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie.

Triumphzug | Der Maler Carl Theodor von Piloty gab um 1870 einen Moment aus der römischen Geschichte wieder – allerdings den Vorstellungen seiner eigenen Zeit entsprechend: Frau und Sohn von Arminius werden im Triumphzug des Germanicus vorgeführt. Strabon überliefert das Ereignis. Piloty bildete den Geografen am rechten Bildrand ab.

»Seine Neigung galt aber ganz offensichtlich der Geschichte«, sagt Olshausen. Und die des Römischen Reichs betrachtete der griechisch schreibende Autor aus einem bestimmten Blickwinkel heraus: »Strabons ›Geografie‹ ist eine vorzügliche Quelle für das Selbstverständnis der Griechen im Imperium Romanum, das zwischen kulturellem Stolz und notwendiger Anerkennung der militärischen Überlegenheit Roms schwankte«, so der Althistoriker.

Die Reichshauptstadt sollte der Geograf auch lange nach Abschluss seiner Studien noch mehrmals besuchen, so wie er überhaupt weit herumkam und im Reich viel sah – allerdings vor allem im Osten des Imperiums, wie er selbst schrieb. Es ging »von Armenien bis in die Gegend von Etrurien bei Sardinien und nach Süden vom Schwarzen Meer bis an die Grenze von Äthiopien«.

Ein Bericht über Indien, ohne Indien je gesehen zu haben

Für die Darstellung jener Weltgegenden, die er nicht aus eigener Anschauung kannte – etwa West- und Nordeuropa sowie Afrika und Indien –, konnte er auf zahlreich vorhandene Berichte anderer Autoren zurückgreifen. »Verständlicherweise ist er für diese Gegenden immer nur so gut wie seine Quellen«, sagt Olshausen. Besonders problematisch sei die Quellenlage für die Beschreibung Indiens gewesen, so der Althistoriker. Strabon verdankte seine Kenntnisse über das ferne Land unter anderem Geografen, die zum Teil selbst den Subkontinent nie betreten hatten. Daneben gab es Berichte der sogenannten Alexanderhistoriker, von denen einige persönlich am Indienfeldzug des Makedonenkönigs zwischen 327 und 325 v. Chr. teilgenommen hatten. Dennoch zweifelte Strabon an deren Zuverlässigkeit, weil er von deren Angaben nicht durchweg überzeugt war.

Trotz allem ist seine Beschreibung des Subkontinents »die beste, die uns aus der antiken Literatur erhalten ist«, sagt Olshausen. So schildert Strabon zwar fehlerhaft, aber recht detailliert das in Indien herrschende Kastensystem, berichtet von den indischen »Philosophen« (Brahmanen) und widmet sich eingehend den Glaubensvorstellungen der Inder. Natürlich nimmt er auch all die exotischen, ans Wunderbare grenzenden Erscheinungen des fernen Landes in seine Weltbeschreibung mit auf: die vielen Affen etwa, die Elefanten und Riesenschlangen oder den indischen Feigenbaum, der seine Luftwurzeln in die Erde senkt.

Aus erster Hand konnte Strabon hingegen berichten, wie rege Waren zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. zwischen dem Römischen Reich und Indien verhandelt wurden. Davon hatte er sich in Roms Fernhandelshäfen am Roten Meer selbst überzeugt. »Als Gallus Statthalter von Ägypten war und ich mit ihm verkehrte und in seiner Gesellschaft bis Syene und bis zu den Grenzen Äthiopiens reiste, erfuhren wir, dass wohl [jährlich] 120 Schiffe von Myoshormos [am Roten Meer] nach Indien führen, während vorher unter den ptolemäischen Königen überhaupt nur einige dorthin zu fahren und die indischen Waren einzuführen den Mut gehabt hätten.« Auf den Gedanken, die beherzt »nach Indien segelnden Kaufleute« nach Informationen über die tatsächlichen Gegebenheiten in Übersee zu befragen, kam der Geograf offenbar nicht, hielt er sie doch für »ungebildet und zur Erforschung der Länder untauglich«.

Was Strabon in Alexandria erblickte

»Strabons eigene Reisen fanden nicht im Dienst seiner Forschungen statt«, erläutert Olshausen. Weshalb er sich auf den Weg machte, ist unklar. Er war allerdings privilegiert, gut vernetzt und reiste für seine Ausbildung bis nach Rom. »Die Schilderungen der bereisten Gegenden sind deutlich lebendiger und auch von besserer Qualität als die angelesenen Gebietsschilderungen.« So hinterließ Strabon eine besonders ausführliche Beschreibung von Alexandria. Die ägyptische Küstenmetropole »voll von Baudenkmälern und Tempeln« war damals eine der bedeutendsten Städte des Imperiums, übertroffen an Reichtum, Ruhm und Glanz nur von Rom, der grandiosen Hauptstadt mit ihren gepflasterten Straßen und riesigen Plätzen, ihrer Wasserversorgung und dem Abwassersystem, mit den »vielen und schönen Prachtwerken«, die »Pompeius, Cäsar der Göttliche, sodann Augustus, seine Söhne und Freunde, seine Gattin und seine Schwester« dort in jüngster Zeit hatten errichten lassen.

Bei Strabon erfährt man aber auch von den Sitten und Gebräuchen in anderen Ländern. So berichtet er über die ekstatischen Riten für den Zeus auf Kreta, die junge Männer in Gestalt der mythischen, mit Waffen tanzenden Kureten vollführten. Er erzählt auch von Menschenopfern bei den Kelten oder wie die unterworfenen Gallier allmählich die römische Kultur annahmen. Für ein Mitglied der griechisch-römischen Elite berichtet er zudem mit auffallender Sympathie von den Ursprüngen des Judentums oder schildert als Augenzeuge den Triumphzug des Feldherrn Germanicus, der den nach der Varusschlacht unumgänglich gewordenen Vergeltungsschlag gegen die Germanen geführt hatte. Im Jahr 17 n. Chr. präsentierte der Feldherr dem Volk von Rom im Pulk der Gefangenen auch Thusnelda und den dreijährigen Thumelicus, Frau und Sohn des Arminius also, »der bei dem Hinterhalt gegen Varus der Oberfeldherr der Cherusker war und auch jetzt noch den Krieg fortsetzt«.

Zu manchen historischen Ereignissen findet sich bei Strabon entweder der einzige oder der detaillierteste Bericht. Beispielsweise erzählt er von der Belagerung Maribs, der Hauptstadt des Königreichs Saba (heute Jemen), unter dem Kommando des bereits erwähnten Präfekten Aelius Gallus. »Von diesem gescheiterten Feldzug in die ›Arabia Felix‹ 25/24 v. Chr. wüssten wir nur wenig durch eine kleine Notiz des Cassius Dio – und noch weniger aus dem Tatenbericht des Augustus«, sagt Olshausen. »Ausführlich berichtet darüber nur Strabon, der mit Gallus befreundet war.«

Auch scheinbare Randnotizen des Geografen gewähren einen einzigartigen Einblick in den heute so fremden Alltag im alten Rom. Dazu zählt Strabons Augenzeugenbericht von der grausamen Hinrichtung eines sizilischen Räuberhauptmanns in Rom: Ein gewisser »Selurus, Sohn des Ätna genannt«, hatte lange Zeit mit seiner »bewaffneten Schar« die Gegend um den Vulkan unsicher gemacht. »Auf ein hohes Gerüst gestellt, als stünde er auf dem Ätna, fiel er, als jenes plötzlich auseinandergerissen wurde und zusammenbrach, in leicht zerbrechliche Käfige wilder Tiere hinab« – und wurde von diesen zerfleischt.

Was sich Strabon von seiner Leserschaft wünschte – und was er bekam

Strabon hielt auch fest, für wen seine Werke bestimmt waren. Er wünschte sich eine gebildete Leserschaft, die »teilgenommen hat an einem bei Freigeborenen und Freunden der Philosophie gewöhnlichen enzyklopädischen Unterricht«. Der Autor wandte sich also im Grunde an seinesgleichen – vor allem aber an »Personen in gehobenen politischen oder militärischen Positionen, die aus seiner ›Geographika‹ praktischen Nutzen ziehen sollten«, so Olshausen.

Rekonstruktion des Pharos | In seiner Weltbeschreibung erwähnt Strabon auch die Sieben Weltwunder, darunter den Leuchtturm von Alexandria, der im frühen 3. Jahrhundert v. Chr. errichtet worden war. Ein Erdbeben um 1303 ließ den Pharos einstürzen. Der kolorierte Druck aus dem 18. Jahrhundert zeigt eine Vorstellung des berühmten Baus.

Diese zeigten jedoch allem Anschein nach kein Interesse an den Schriften des Historikers und Geografen – und darüber hinaus auch sonst kaum jemand. Zu Lebzeiten blieb Strabons Werk offenbar weitgehend unbemerkt. Bei seiner »Geografie« ist das nicht weiter verwunderlich, schließlich starb ihr Verfasser, ehe er sie fertigstellen konnte. Doch auch die »Historika Hypomnemata« scheinen kaum auf breite Aufmerksamkeit gestoßen zu sein; eine Geschichte Alexanders des Großen, die Strabon möglicherweise verfasst hat, ebenso wenig.

»Selbst Plinius der Ältere erwähnt Strabon mit keinem Wort«, sagt Johannes Engels, außerplanmäßiger Professor am Historischen Institut der Universität Köln. Dabei zitierte der um 23/24 n. Chr., also etwa zur Zeit von Strabons Tod geborene Vielschreiber in seiner »Naturalis historia« (Naturgeschichte) aus den Werken Hunderter zeitgenössischer und verstorbener Autoren. Der Geograf aus Amaseia war nicht darunter. Dass Strabon keinen Eingang in Plinius' Mammutwerk fand, legt nahe, dass ihm keine große Leserschaft beschieden war. Vermutlich schrieb er zu ausschweifend und traf auch nicht die sprachlichen und inhaltlichen Vorlieben des Publikums.

»Ab dem frühen 6. Jahrhundert wird Strabon jedoch häufiger von byzantinischen Autoren rezipiert, und schon bald gilt er im Oströmischen Reich als der kanonische Geograf schlechthin«, erläutert Engels. Als Strabons Werk in der frühen Neuzeit ins Lateinische übersetzt wurde und in Druckausgaben erschien, stieg seine Bedeutung schließlich auch in Westeuropa.

Der aktuelle Hype um Strabon

Im 19. und 20. Jahrhundert sei der Autor hingegen zum »Stellenlieferanten« degradiert worden, erklärt Engels. Ähnlich wie bei Plinius hätten Kulturwissenschaftler verschiedener Disziplinen zwar aus der Fülle von archäologischen, historischen und ethnografischen Einzelheiten in Strabons Werk geschöpft, sich aber nicht weiter für den Mann selbst interessiert. Ganz anders heute: Die Strabonforschung erlebe gegenwärtig eine Renaissance. »Seit in den 1990er-Jahren mit dem ›spatial turn‹ in den Kulturwissenschaften die Bedeutung des geografischen Raums als kulturelle Größe immens gestiegen ist, steht auch Strabon wieder im Fokus des Forschungsinteresses.« Aktuell, so Engels, könne man geradezu von einem wissenschaftlichen Hype um den antiken Geografen sprechen – zwei Jahrtausende nach seinem Tod.

Wann genau Strabon starb, ist allerdings nicht bekannt, selbst das Todesjahr ist ungewiss. Seine »Geografie« enthält jedoch einige Hinweise, die auf die Mitte der 20er-Jahre hindeuten. So erwähnt er den »kürzlich eingetretenen« Tod des Königs von Mauretanien, Iuba II., und den Regierungsantritt von dessen Sohn Ptolemaios, der sich nachweislich um 23/24 n. Chr. ereignete. An anderer Stelle bezeichnet Strabon die Stadt Kyzikos am Marmarameer (heute Nordwesttürkei) als »bis heute frei«. Kyzikos war 25 n. Chr. in die römische Provinz Asia eingegliedert worden. »Das mag er tatsächlich vor dem Jahr 25 geschrieben haben, als die Stadt ihre Freiheit verlor«, sagt Eckart Olshausen. »Möglicherweise aber auch später, falls er nicht zeitnah informiert war.« Sicher ist: Strabon hinterließ seine »Geographika« unvollendet, er hatte immer wieder Passagen geändert. Wie viel er noch schreiben wollte, weiß aber keiner.

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  • Quellen

Olshausen, E., Strabon von Amaseia, 2022

Strabo, Geographica, 2005

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