Physik: Geometrie trifft Geologie
An einem milden Herbsttag im Jahr 2016 stand der ungarische Mathematiker Gábor Domokos in Philadelphia vor der Tür des US-amerikanischen Geophysikers Douglas Jerolmack – samt Reisegepäck, einer schlimmen Erkältung und einer verblüffenden Idee. Als die zwei Männer über einen Kiesplatz hinter dem Haus spazierten, knirschten ihre Schritte über dem zerkleinerten Kalkstein. »Wie viele Flächen haben diese Steine durchschnittlich?«, fragte Domokos unvermittelt. »Was, wenn ich dir sage, dass die Zahl immer etwa sechs beträgt?« Dann kam er zum Kern seines Anliegens: »Wie es aussieht, besteht die Welt aus Würfeln.«
Zuerst widersprach Jerolmack, der an der University of Pennsylvania lehrt. Man baue Häuser zwar aus quaderförmigen Ziegelsteinen, aber die Form der natürlich auftretenden Gesteine variiere: Mineralien wie Glimmer blättern beispielsweise dünne Schichten ab, und Kristalle brechen an scharf definierten Achsen. Doch gemäß Domokos' mathematischer Arbeit besitzen zufällig entstandene Bruchstücke durchschnittlich sechs Flächen und acht Ecken – und ähneln damit einem Würfel. Wie er betonte, habe er einen stichhaltigen Beweis dafür ausgearbeitet. Nun brauchte er Jerolmacks Hilfe, um zu zeigen, dass die Natur dieser Gesetzmäßigkeit tatsächlich folgt.
Um den Wahrheitsgehalt von Domokos' geäußerten Vorhersagen in der realen Welt zu überprüfen, untersuchten die zwei Wissenschaftler in den nächsten Jahren etliche verschiedene Proben: von mikroskopischen Fragmenten über größere Gesteinsausschnitte bis hin zu Planetenoberflächen. Dabei fanden sie immer wieder quaderförmige Gebilde. Doch ihnen begegneten auch andere Figuren, die sich ebenfalls mit Domokos' geometrischer Theorie erklären ließen. Am Ende hatten sie einen neuen mathematischen Rahmen geschaffen, der erklärt, wie Objekte zerbrechen.
Einige Geophysiker sind davon überzeugt, die Erkenntnisse könnten bei offenen Problemen ihres Fachs wie dem Verstehen der Erosion rissiger Felswände oder dem Verhindern gefährlicher Felsrutsche helfen. »Sie haben ihre Theorie sorgfältig mit der Realität abgeglichen«, so die Geowissenschaftlerin Martha-Cary Eppes von der University of North Carolina in Charlotte. »Meine anfängliche Skepsis haben sie zerstreut.«
Wenn man ein Objekt in viele kleine Teile zerbricht, entsteht ein Mosaik, das aus zahlreichen verschiedenen Formen besteht. Die Bruchstücke lassen sich jedoch ohne Überlappungen lückenlos wieder zusammensetzen. Lange bevor Domokos nach Philadelphia reiste, wollte er herausfinden, ob man allein aus geometrischen Überlegungen vorhersagen kann, wie die Bestandteile eines Mosaiks durchschnittlich aussehen.
In zwei Dimensionen lässt sich die Aufgabe umsetzen, ohne etwas zu zerschlagen. Man braucht bloß ein Blatt Papier, das man immer wieder zerschneidet, wodurch etliche kleine Schnipsel entstehen. Dann zählt man alle ihre Ecken und Kanten und bildet den Mittelwert. Für einen Geometer ist es nicht allzu schwer, die Antwort vorherzusagen: Die Vielecke haben durchschnittlich vier Ecken und Kanten.
Das gleiche Problem lässt sich in drei Dimensionen betrachten. Als der russische Atomphysiker, Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrei Dmitrijewitsch Sacharow (1921–1989) vor etwa 50 Jahren mit seiner Frau Kohlköpfe schnitt, fragte er sich, wie viele Ecken die Kohlstücke im Mittel haben. Er sprach mit seinem Kollegen Vladimir Igorevich Arnold (1937–2010) und einem Studenten darüber, doch ihre Bemühungen, das Rätsel zu lösen, waren unvollständig und gerieten weitgehend in Vergessenheit.
Ohne etwas über diese Bestrebungen zu wissen, fand Domokos einen Beweis, wonach die häufigsten dreidimensionalen Bruchstücke näherungsweise Würfel ergeben. Um seine Arbeit nochmals zu überprüfen, blätterte er in einem extrem komplizierten geometrischen Fachbuch der deutschen Mathematiker Wolfgang Weil und Rolf Schneider – und wurde fündig: Das sperrige Werk enthielt tatsächlich ein Theorem, das die durchschnittliche Form eines Bruchstücks beliebiger Dimension beschreibt. Für drei Dimensionen bestätigte es Domokos' Ergebnis: Es handelt sich um Würfel.
Mosaike klassifizieren
Mit diesem Resultat gab er sich allerdings nicht zufrieden. Er wollte herausfinden, welche Formen beim Zerbrechen mathematisch möglich sind. Mit Rechtecken und Sechsecken lässt sich beispielsweise eine Ebene ohne Überlappungen und Lücken pflastern. Fünfecke und Achtecke kann man hingegen nicht so einfach zusammenfügen – man braucht zusätzliche Vielecke, um eine Fläche zu bedecken.
Wie für Mathematiker üblich, ging Domokos das Problem strukturiert an. Er suchte nach geeigneten Eigenschaften, um die möglichen Mosaike zu klassifizieren, und entschied sich für zwei Zahlen: Die durchschnittliche Anzahl von Ecken pro Bruchstück und die durchschnittliche Anzahl der verschiedenen Bruchstücken, die sich eine Ecke teilen. Zum Beispiel haben die Kennzahlen sechseckiger Badfliesen, die ein so genanntes Voronoi-Muster bilden, die Werte sechs (Anzahl der Ecken) und drei (Anzahl der Flächen). Ein Bruchmuster kann nur bestimmte Kombinationen dieser zwei Parameter aufweisen. Das schränkt die möglichen Formen ein, die darin auftauchen können.
Mit dieser Vorarbeit fand Domokos schnell die Vielecke, die im zweidimensionalen Fall auftreten können. Für drei Dimensionen wurde es allerdings kompliziert. Würfel lassen sich zwar gut stapeln, aber das gilt auch für viele andere Formen. Um das Problem überhaupt lösen zu können, beschränkte er sich deshalb auf Muster mit geordneten, konvexen Formen (also ohne Einbuchtungen), die gleiche Ecken teilen. So gelang es ihm gemeinsam mit seinem Kollegen Zsolt Lángi, eine Vermutung aufzustellen, die ähnlich wie in zwei Dimensionen alle möglichen dreidimensionalen Mosaike dieser Art skizziert. Sie veröffentlichten ihre Hypothese und schickten sie an Rolf Schneider, der ihren Ansatz nachvollziehen konnte. »Das bedeutete mir 100-mal mehr, als in irgendeinem renommierten Journal akzeptiert zu werden«, so Domokos.
Nun verfügte er über einen theoretischen Rahmen, mit dem sich arbeiten ließ. Damit die Ergebnisse aber neben einer Hand voll Mathematikern auch für andere Personen interessant werden, musste er beweisen, dass sich die Gesetzmäßigkeiten in der realen Welt äußern.
Als Domokos 2016 nach Philadelphia reiste, hatte er bereits einige geologische Untersuchungen durchgeführt. Er und seine Kollegen an der Budapester Universität für Technologie und Wirtschaft hatten Dolomit gesammelt, das von einer Felswand des Bergs Hármashatárhegy erodiert war. Über mehrere Tage hinweg zählte ein Labortechniker akribisch die Flächen und Ecken von hunderten Stücken. Sein Fazit: Im Durchschnitt haben sie sechs Flächen und acht Ecken. Zusammen mit János Török, einem Spezialisten für Computersimulationen, und dem Physiker Ferenc Kun, fand Domokos die Quader auch in Gips und Kalkstein.
Die geometrischen Formeln im Schlepptau und mit ersten empirischen Beweisen präsentierte der Mathematiker seine Ergebnisse dem überraschten Jerolmack. Die beiden Forscher sind befreundet. Vor Jahren hatte Domokos bereits Aufsehen erregt, als er das so genannte Gömböc entdeckte. Diese merkwürdige dreidimensionale Figur mit gleichmäßiger Dichte schwenkt immer in eine aufrechte Position zurück, unabhängig davon, wie man sie anstupst. Auch damals wandte er sich an Jerolmack, um herauszufinden, ob Gömböcs in der Natur auftreten. Wie sie feststellten, ist die außergewöhnliche Form selten anzutreffen, allerdings konnten sie mit Hilfe des Konzepts erklären, wie die Rundung von Kieselsteinen auf der Erde und dem Mars zu Stande kommt. Nun stand Domokos wieder vor der Tür des Geophysikers, um die Natur von Steinen zu ergründen.
Die beiden Forscher waren sich einig, dass sie für eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Arbeit mehr als nur eine scheinbar zufällige Verbindung zwischen Geometrie und einer Hand voll Bruchstücken brauchten. Sie mussten alle Gesteinsarten untersuchen und daraus eine überzeugende Theorie entwickeln, die erklärt, wie sich strenge mathematische Konzepte in der Geophysik und der chaotischen Realität äußern.
»Zuerst schien es zu funktionieren«, erinnert sich Jerolmack. Die meisten untersuchten Proben bildeten näherungsweise Quader. Doch er erkannte bald, dass sie auch die Ausnahmen berücksichtigen mussten, um ihre Theorie zu bestätigen. Glücklicherweise bot die Geometrie eine Möglichkeit, die vielen weiteren zwei- und dreidimensionalen Figuren zu beschreiben. Aus dem Stegreif fielen Jerolmack zahlreiche Felsformationen ein, die ganz anders geformt waren. Vielleicht würden diese Beispiele ihre Theorie zu Fall bringen. Aber der Geophysiker hoffte, sie könnten die Umstände erklären, unter denen sie entstanden.
Von Permafrost über Dolomit bis zu Granit
In den nächsten Jahren arbeiteten die beiden Forscher angestrengt auf unterschiedlichen Seiten des Atlantiks an ihrem anspruchsvollen Vorhaben. Jerolmacks Team verstand immer besser, welche realen Bruchstücke Domokos' Vorhersagen folgten. Als es zweidimensionale Oberflächen untersuchte – unter anderem aufbrechender Permafrost in Alaska, Dolomitaufschluss und die Risse eines Granitblocks –, fand es wie erwartet Polygone mit durchschnittlich vier Kanten und Ecken, was die Theorie bestätigte.
Anders sah es hingegen bei Schlammschichten aus, die trocknen, rissig werden, wieder nass werden und zusammenwachsen, um schließlich nochmals aufzureißen. In diesem Fall bilden sich Flächen mit im Mittel sechs Kanten und Ecken aus, die Schicht ähnelt damit einem groben hexagonalen Voronoi-Muster. Auch Gestein aus abgekühlter Lava nimmt eine vergleichbare Form an. Die Forscher fanden heraus, dass die Bienenwabenmuster stets unter Spannung entstehen. Wenn Kräfte die Oberfläche nach außen ziehen, anstatt sie nach innen zu drücken, treten vermehrt Sechsecke auf. Die Geometrie gibt also Aufschluss über die zu Grunde liegende Geologie.
Nach Monaten trafen sich die beiden Forschungsgruppen in Budapest, um weitere natürlich auftretende Beispiele in ihre Theorie aufzunehmen. Dabei widmete sich Jerolmack einem besonders spannenden Fall: den tektonischen Erdplatten. Diese befinden sich auf der Lithosphäre, der äußersten Gesteinsschicht unseres Planeten. Auf den ersten Blick bilden die Platten ein Voronoi-Muster. Die Forscher zählten wie gewohnt die Ecken und Kanten der einzelnen Bruchstücke und kamen auf durchschnittlich 5,77 Ecken.
Für die Geophysiker lag das Ergebnis nahe genug an sechs und war ein Grund zum Feiern. Doch Domokos, durch und durch Mathematiker, sah das anders. »Ich war schlecht gelaunt, weil ich nur an die Abweichung denken konnte«, erinnert er sich. Als er heimkehrte, ließ ihn die Unstimmigkeit nicht los. Er schrieb die Zahlen noch einmal auf – und dann fiel es ihm ein: Ein Muster aus Sechsecken kann eine Ebene überdecken, aber die Erde ist nicht flach! Möchte man eine Kugel mit Polygonen bedecken, braucht man wie bei einem Fußball zusätzlich Pentagone. Als Domokos seine Berechnungen auf die Geometrie einer Sphäre anpasste, erhielt er das Ergebnis. Das entsprechende Voronoi-Muster sollte aus Flächen mit durchschnittlich 5,77 Ecken bestehen. Nun war auch er in Feierstimmung.
Tatsächlich könnten die Resultate eine wichtige offene Frage der Geophysik beantworten: Wie entstanden die tektonischen Platten der Erde? Eine Theorie besagt, sie seien ein Nebenprodukt brodelnder Konvektionszellen tief im Erdmantel. Andere Wissenschaftler gehen davon aus, die Erdkruste sei ein eigenständiges System, das sich ausdehnt, spröde wird und aufbricht. Das beobachtete Voronoi-Muster unterstützt das zweite Argument, so Jerolmack.
In drei Dimensionen gibt es nur wenige Fälle, die von der vorhergesagten Quaderform abweichen. Ein Beispiel dafür kann man an der Küste Nordirlands bestaunen, wo die Wellen gegen zehntausende Basaltsäulen mit sechseckiger Grundfläche schlagen. Auf Irisch heißen sie »Clochán na bhFomhórach«, die Trittsteine übernatürlicher Wesen; ihr englischer Name ist Giant's Causeway. Mit Hilfe von Computersimulationen identifizierten die Forscher Gesteinsformationen wie Giant's Causeway als dreidimensionale Strukturen, die aus einer zweidimensionalen Voronoi-Basis heraus entstanden. Diese wiederum erhielten – wie bei erstarrendem Schlamm, Lava oder tektonischen Platten – ihre Form durch nach außen gerichtete Kräfte.
Durch das einfache Zählen von Ecken und Kanten kann man also einiges über die verantwortlichen geologischen Umstände erfahren. »Der statistische Durchschnitt fast aller untersuchten Formen ist tatsächlich quaderförmig«, sagt Jerolmack. »Einem perfekten Würfel begegnet man allerdings so gut wie nie.«
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