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News: Gerade bevor es kritisch wird

In den Lehrbüchern der organischen Chemie sieht es schon reichlich kompliziert aus, wie Schritt für Schritt eine komplexe Verbindung entsteht. Doch der industrielle Produktionsablauf ist noch um einiges verwirrender. Damit manche Reaktionen schnell genug oder überhaupt ablaufen, müssen Chemiker Säuren und Basen hinzufügen, Katalysatoren beimischen, die Lösungen schnell rühren - und zum Schluß alle Zusatzstoffe wieder aufwendig entfernen. Das ginge auch viel einfacher, meinen amerikanische Wissenschaftler. Mit dem nötigen Druck und bei hohen Temperaturen ändert ganz normales Wasser seine Eigenschaften so, daß sich darin auch ölige Bestandteile leicht lösen. Und die Reaktionsbereitschaft steigt wegen der vielen sauren und basischen Ionen aus dem Wasser selbst ebenfalls an.
Wasser, wie wir es kennen, ist entweder fest, flüssig oder gasförmig. Unter bestimmten Bedingungen verwischen diese Grenzen jedoch. Bei 374 Grad Celsius und 220 bar Druck – am sogenannten "kritischen Punkt" – gibt es keinen Unterschied mehr zwischen der flüssigen und der gasförmigen Phase. Die normalerweise recht zahlreichen Wasserstoffbrückenbindungen brechen leichter auf, wodurch der Zusammenhalt der Moleküle lockerer wird. Dadurch nimmt auch die Dichte des Wassers von einem auf 0,7 Gramm pro Kubikzentimeter ab. Zudem ändert sich das Verhalten gegenüber elektrischen Ladungen. Unter normalem Druck und bei mittleren Temperaturen orientieren sich die Moleküle schnell so, daß sie Ionen nach außen abschirmen. Als Maß für diese Fähigkeit dient die Dieelektrizitätskonstante, deren Wert von achtzig auf zwanzig sinkt, wenn sich das Wasser dem kritischen Punkt nähert. Insgesamt ähneln die Eigenschaften des Wassers dann also jenen organischer Lösungsmittel wie Ethanol oder Aceton.

Im Gegensatz zu diesen ist Wasser allerdings umweltfreundlich und billig. "Wasser ist so ideal als Lösungsmittel geeignet, wie Sie es sich nur vorstellen können", meinte Charles Eckert vom Georgia Institute of Technology. Er leitet eines der Institute, die sich seit Anfang der neunziger Jahre mit der Verwendung von fast-kritischem Wasser für industrielle Nutzungen beschäftigen. Während in konventionellen Anlagen viel Energie aufgewandt werden muß, um fettliebende Substanzen und Wasser durch schnelles Rühren und mit Hilfe weiterer Chemikalien zu mischen, sind "Moleküle, die normalerweise nicht im gleichen Lösungsmittel löslich sind, in fast-kritischem Wasser doch löslich und können weiterverarbeitet werden", sagt Eckert. "Nahezu alle organischen Stoffe sind bei über 250 Grad Celsius löslich oder vollständig mischbar." Reaktionen, die sonst nur an den Grenzschichten der verschiedenen Lösungsmittel ablaufen, finden dann im gesamten Flüssigkeitskörper statt. Es entfallen die Kosten für den teuren Mischvorgang und die aufwendige Extraktion der zugefügten Hilfssubstanzen.

Nicht nur die physikalischen Charakteristika des Wassers ändern sich im Bereich von 250 bis 300 Grad Celsius und fünzig bis einhundert Bar. Zusätzlich steigt der Dissoziationsgrad auf den dreifachen normalen Wert. Das bedeutet, aus neutralen Wassermolekülen entstehen durch Übertragung von Protonen mehr saure Hydroniumionen und basische Hydroxidionen. "Wir können diese nutzen, um Säure- und Basen-katalysierte Reaktionen ohne Zugabe mineralischer Säuren ablaufen zu lassen", erklärt Eckert. Dadurch erübrigt sich zugleich die spätere Zugabe von Salzen, mit denen für gewöhnlich die Säuren nach der Reaktion wieder neutralisiert werden.

Je weniger Zusatzstoffe der Ansatz enthält, umso geringer ist der abschließende Reinigungsaufwand, was wiederum günstig für die Umwelt und die finanzielle Bilanz der Produktion ist. In der Arbeit mit fast-kritischem Wasser können die Ingenieure die Hilfsstoffe meist einfach dadurch extrahieren, daß sie die Temperatur senken oder den Druck reduzieren. Die Chemikalien trennen sich dann einfach von der Wasserphase und können abgegossen werden. Wasserlösliche Katalysatoren fließen in den Produktionskreislauf zurück und werden wieder benutzt.

Einige Reaktionen kann das Team um Eckert bereits detailliert kontrollieren. Andere wiederum laufen in fast-kritischem Wasser so gut wie gar nicht ab, berichtete er am 24. August 1999 auf dem Treffen der American Chemical Society in New Orleans. Warum das neue Lösungsmittel für manche Prozesse ungeeignet ist, können die Forscher noch nicht sagen. Und noch eine weitere Hürde steht dem Großeinsatz von fast-kritischem Wasser in der Industrie entgegen: Die heutigen Fabriken verfügen bereits über teure Anlagen zur konventionellen Produktion. Aus wirtschaftlichen Gründen werden sie wahrscheinlich erst umsteigen, wenn der finanzielle Vorteil des neuen Verfahrens sehr deutlich ausfällt. Darum rechnet Eckert zunächst nur mit Anlagen im kleineren Maßstab, die nicht für die Massenproduktion gedacht sind.

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