Gerrymandering: Wenn Mathematik über politische Mehrheiten entscheidet

Erst Texas, dann Kalifornien: In den US-Bundesstaaten sollen die Wahlkreise neu geordnet werden. Das klingt erst mal unspektakulär, könnte aber bei den Kongresswahlen im Jahr 2026 entscheidend sein. Denn die Form des Wahlkreises kann bestimmte Parteien begünstigen. Während die Neuordnung in Texas den Republikanern einen Vorteil bringen wird, steuert Kalifornien in die entgegengesetzte Richtung. »Die Karten sind gegen uns gezinkt, also müssen wir uns wehren«, sagte die kalifornische Senatorin Lena Gonzalez, eine Mitverfasserin des Plans.
Tatsächlich sorgt die Gestaltung der Wahlbezirke seit Jahrzehnten für hitzige Diskussionen. 2019 entschied das Oberste US-Gericht, dass die Praxis undemokratisch ist. Das Problem: Es lässt sich nicht wirklich etwas dagegen tun. Denn es ist gar nicht so einfach, Regeln für eine faire Bezirksgestaltung festzulegen. Selbst Mathematikerinnen und Mathematiker zerbrechen sich über die Frage den Kopf – und rüsten inzwischen mit enormer Computerpower auf, um dem Problem gerecht zu werden.
Bei den Kongresswahlen in den USA werden der Senat und das Repräsentantenhaus neu gewählt. Jeder US-Bundesstaat stellt zwei Senatoren (insgesamt 100) und je nach Bevölkerung einen oder mehrere Abgeordnete (Kalifornien beispielsweise 52, Alaska nur 1), insgesamt sind es 435 Personen. Die Geometrie des Wahlbezirks spielt für das Repräsentantenhaus eine wichtige Rolle, weil jeder Bezirk einen Abgeordneten stellt: The winner takes it all. Wählt man die Form der Wahlkreise geschickt, lässt sich selbst mit wenigen Stimmen ein Sieg davontragen.
Das gezielte Zuschneiden von Wahlbezirken, um eine Mehrheit zu erlangen, hat sogar einen Namen: Gerrymandering, ein Kofferwort aus »Gerry« und »Salamander«. Ersteres bezieht sich auf den ehemaligen Gouverneur von Massachusetts Elbridge Gerry, der im Jahr 1812 extrem seltsam geformte Wahlkreise bewilligte, die seiner Partei einen Vorteil verschafften. Noch heute entscheiden in 25 Bundesstaaten der USA deren Parlamente über die Einteilung der Wahlbezirke, die etwa alle zehn Jahre (mit Erscheinen des neuen Zensus) erneuert wird. Immer wieder stehen die amtierenden Parteien in Verdacht, das zu ihren Gunsten zu nutzen - so, wie nun in Kalifornien und in Texas.
Ein Beispiel für Gerrymandering
Angenommen, ein Bundesstaat besteht aus 50 Wählerinnen und Wählern, von denen 20 für eine blaue und 30 für eine rote Partei stimmen. Die Wähler leben wie in Mannheims Innenstadt in einem rasterförmigen Muster, je zehn sind vertikal und je fünf horizontal angeordnet. In den ersten zwei Spalten wohnen alle Rot-Wähler, in den letzten drei die Blau-Wähler. Nun besteht die Aufgabe darin, die Wähler in fünf gleich große Wahlbezirke aufzuteilen.
Man kann beispielsweise fünf vertikale Grenzen ziehen: Dann gäbe es zwei Wahlbezirke mit ausschließlich Rot-Wählern und drei mit Blau-Wählern. Es gäbe also drei Abgeordnete der blauen und zwei der roten Partei – was die Meinung der Bevölkerung widerspiegelt.
Wenn aber eine blau eingestellte Person die Wahlbezirke einteilt, könnte diese die Grenzen horizontal ziehen. Dann sähen alle Wahlkreise gleich aus, mit je vier Rot- und sechs Blau-Wählern. In diesem Fall gewinnt in jedem Bezirk die blaue Partei, sie stellt somit alle fünf Repräsentanten. Ähnliches hat sich 2012 im Bundesstaat New York zugetragen: Dort stimmten 66 Prozent der Personen für die Demokraten, doch die Partei bekam durch geschickt gewählte Wahlbezirke sogar 21 von 27 Sitzen (drei mehr, als gerecht gewesen wären).
Eine Person, die rot favorisiert, könnte eine ganz andere Einteilung vornehmen. Dazu packt man in zwei Wahlbezirke nahezu alle Blau-Wähler, sodass in den drei verbleibenden Kreisen die rote Partei eine Mehrheit erhält. Somit gibt es drei rote und zwei blaue Abgeordnete – obwohl mehr Wählerinnen und Wähler der blauen Partei ihre Stimme gaben. Auch dafür gibt es in der US-Geschichte zahlreiche Beispiele: Zum Beispiel erhielten die Demokraten 2012 in Pennsylvania 51 Prozent der Stimmen, doch nur 5 von 18 Sitzen.
Wie soll der ideale Wahlkreis aussehen?
Die Schwierigkeit besteht darin, das Gerrymandering aufzudecken. Jeder Bundesstaat muss bei der Einteilung der Wahlbezirke eigene Regeln befolgen, wie: Die Bezirke müssen in etwa gleich viele Wähler enthalten, zusammenhängend sein, dürfen keine ethnischen Gruppierungen diskriminieren, keine County-Grenzen überschreiten und müssen natürlichen Grenzverläufen (etwa Flüssen) folgen. Solche Einschränkungen führen zu zerklüfteten Bezirken, die an Gerrymandering erinnern – ganz ohne das Wahlverhalten der Einwohner überhaupt zu berücksichtigen.
Dennoch fordern einige Personen, dass die Wahlkreise - sofern es die natürlichen Gegebenheiten zulassen - möglichst »kompakt« sein sollen. Das lässt sich zum Beispiel über die Länge der Außengrenze sicherstellen. Je zerklüfteter ein Wahlkreis, desto größer der Umfang. Ein ähnlicher Ansatz besteht darin, den kleinstmöglichen Kreis um einen Wahlbezirk zu ziehen und die Flächen beider Formen zu vergleichen. Je stärker der Wahlbezirk von einem Kreis abweicht, desto größer fällt der Unterschied aus. Auch die durchschnittliche Distanz zwischen den Bewohnern eines Bezirks kann auf Gerrymandering hindeuten.
Das Problem: Kompakte Wahlkreise führen nicht zwangsläufig zu repräsentativen Ergebnissen, so das Ergebnis einer Studie im Jahr 2013. Die Forschenden untersuchten die Wahl im Jahr 2000 in Florida, bei der etwa ebenso viele Personen für die Demokraten wie für die Republikaner stimmten, Letztere aber 68 Prozent der Repräsentanten stellten. Die Fachleute nutzten einen unparteiischen Algorithmus, der möglichst kompakte Wahlkreise ziehen sollte. Überraschenderweise lieferte auch der Computer verzerrte Ergebnisse, bei denen meist die Republikaner einen Vorteil hatten. Der Grund: Die meisten Demokraten wohnen in Städten. Damit gewinnen sie die städtischen Wahlkreise mit überwältigender Mehrheit, während sie in den ländlichen Gegenden jeweils knapp unterliegen. Wegen dieses »natürlichen Gerrymanderings« ziehen zwangsweise mehr Republikaner ins Repräsentantenhaus ein.
Statt auf Kompaktheit zu setzen, braucht man also ein anderes Maß, mit dem sich bestimmen lässt, ob jede Partei die gleiche Chance hat, ihre Stimmen in Sitze umzuwandeln. Nicholas Stephanopoulos und Eric McGhee von der University of Chicago haben 2014 eine Kenngröße dafür gefunden, die Effizienzlücke: Man zieht die »verschwendeten« Stimmen zweier Parteien voneinander ab und teilt das Ergebnis durch die Gesamtzahl aller Stimmen. Als verschwendet gelten die Stimmen, die in einem Verlierer-Wahlkreis landen oder die über den für den Gewinn nötigen 50 Prozent liegen. Je kleiner die Effizienzlücke, desto ausgeglichener das Ergebnis.
Solche Kenngrößen sind zwar hilfreich, allerdings kann es in der Praxis trotzdem schwierig werden. Denn manchmal lassen es die natürlichen Gegebenheiten (wenn etwa nahezu alle Wähler einer Partei in ein- und derselben Stadt wohnen) kaum zu, die Bezirke gerecht aufzuteilen. Um diesem Problem zu begegnen, haben Fachleute 2018 einen Algorithmus entworfen, der Wahlkreise angemessen gestaltet – anhand der vom betreffenden Bundesstaat vorgegebenen Bestimmungen.
- P-ProblemeP-Probleme sind vergleichsweise einfach zu lösen: Der Rechenaufwand steigt nur langsam mit der Größe des Problems an. Möchte man zum Beispiel zwei Zahlen miteinander multiplizieren, kann das bei sehr großen Zahlen zwar aufwändig erscheinen – aber ein Computer kann das stets bewältigen, egal wie riesig die Zahlen sind.
- NP-ProblemeBei NP-Problemen ist das hingegen anders. Diese können für einfache Spezialfälle vielleicht noch gelöst werden, aber es gibt keine effiziente Methode, um allgemeine Aufgaben dieser Art zu berechnen. Ein typisches NP-Problem besteht darin, zu einer vorgegebenen Zahl die Primteiler zu bestimmen: jene Primzahlen, die miteinander multipliziert die ursprüngliche Zahl ergeben. Für einfache Beispiele wie 15 lassen sich die Primteiler (3 und 5) schnell ermitteln. Doch wenn man die Primteiler einer 1000-stelligen Zahl berechnen möchte, sind Computer schnell überfordert. NP-Probleme zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass sich ihre Lösung einfach überprüfen lässt. Falls mir jemand eine 1000-stellige Zahl und ihre vermeintlichen Primteiler vorgibt, kann ich die Primzahlen miteinander multiplizieren (das ist ja aus mathematischer Sicht einfach, weil es ein P-Problem ist) und sofort sehen, ob das Ergebnis mit der 1000-stelligen Zahl übereinstimmt.
Allerdings ist diese Aufgabe aus mathematischer Sicht extrem komplex: Sie fällt in die Klasse der sogenannten NP-Probleme, bei denen Fachleute davon ausgehen, dass sie sich nicht effizient lösen lassen. Das bedeutet nicht, dass man keine Lösung berechnen kann – es kann aber sehr, sehr lange dauern. Eine ideale Lösung zum Gerrymandering-Problem gibt es aus mathematischer Sicht bislang also noch nicht. Aber selbst wenn man eine fände, ist fraglich, ob die Politik dieser folgen würde.
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