Delfinarien : »Wale sollten niemandem gehören«

Der Marineland-Park in Niagara Falls (Kanada) musste vor mehr als einem Jahr schließen. Wohin also mit den 30 Belugawalen, die man dort zu Showzwecken hielt? Der geplante Export nach China wurde von der Regierung untersagt. Nun droht der Park damit, die zwischen drei und sechs Meter langen und mehr als eine Tonne schweren Meeressäuger zu töten, falls er keine staatliche Soforthilfe bekommt. Bislang gibt es kaum Meeresrefugien, die für die Auswilderung solcher Tiere geeignet wären. Und frühere Versuche, Wale aus der Gefangenschaft zu entlassen, zeigen, wie komplex und kostspielig solche Projekte sind. Was wären also mögliche Zufluchtsorte? Und wie ließe sich das Problem langfristig lösen? Ein Gespräch mit der Meeresbiologin Tamara Narganes Homfeldt von der Organisation Whale & Dolphin Conservation über Tierwohl, Meeresrefugien und die Verantwortung der Delfinarien.
Frau Narganes Homfeldt, Marineland in Kanada ist geschlossen, nimmt also kein Geld mehr ein und kann sich die Versorgung der 30 Belugawale nicht mehr leisten. Jetzt droht der Park mit der Tötung der Tiere, weil er diese nicht nach China exportieren darf. Was wären die Alternativen?
Es wäre natürlich eine Möglichkeit, die Wale im Marineland-Park zu belassen. Dann muss man sich aber bestmöglich um sie kümmern. Und das kostet selbstverständlich Geld, das der Park alleine nicht mehr aufbringen kann. Die Belugas könnten auch in andere Einrichtungen umgesiedelt werden. Da würde ich allerdings zwischen solchen in westlichen Ländern und jenen in Asien unterscheiden. In Asien boomen die Delfinarien, alles ist auf Show ausgelegt. Die Situation dort ist ein wenig vergleichbar mit den 1960er bis 1980er Jahren in Europa und den USA. Die Haltungsbedingungen sind vergleichsweise schlecht und die Tierschutzrichtlinien noch nicht so streng wie hierzulande – wenngleich auch bei uns viel Verbesserungspotenzial besteht. Denn artgerecht ist nur die Freiheit. Daher finde ich es gut, dass die kanadische Regierung interveniert hat und die Belugas nicht nach China exportiert werden dürfen.
Wäre es also sinnvoll, die Wale in einen Park in Europa oder den USA zu bringen?
In den Vereinigten Staaten gibt es ein paar entsprechende Parks, die Belugas halten. In Europa gibt es einen im spanischen Valencia. Dies wären vielleicht Optionen. Allerdings muss man sagen: 30 Belugas sind sehr viel, realistischerweise müssten sie dann aufgeteilt werden.
Ist Auswildern eine Möglichkeit?
Wenn Wale bereits zu lange in Gefangenschaft gelebt haben oder sogar dort geboren wurden, dann ist eine Auswilderung nicht möglich. Das trifft auf einen großen Teil der 30 Belugas zu. Und es gibt momentan eh kein passendes Refugium, in dem die Tiere unterkommen könnten. Ein solches abgegrenztes Meeresschutzgebiet ist die Voraussetzung für eine Auswilderung – hier bereitet man die Individuen gründlich auf ein Leben in Freiheit vor. Eine dauerhafte Unterbringung in einem Refugium wäre aber grundsätzlich die beste Lösung für die Belugawale. Sie könnten dort in einer naturnahen Umgebung abseits der ausbeutenden Unterhaltungsindustrie leben.
Gibt es denn überhaupt schon fertige Meeresrefugien für Wale?
Das Whale Sanctuary Project errichtet in der kanadischen Provinz Nova Scotia aktuell ein Refugium, in dem bisher in Gefangenschaft gehaltene Wale und Delfine in einem abgeschirmten küstennahen Meeresabschnitt leben können. Allerdings ist das Vorhaben noch nicht abgeschlossen, künftig wäre es aber vielleicht eine Möglichkeit für Belugas. In Island gibt es ein Auswilderungsprojekt mit den Belugaweibchen Little White und Little Grey. Die beiden kamen 2019 im Rahmen des Little-Step-Programms der Organisation SEA LIFE Trust aus Shanghai nach Island. Irgendwann könnten in dem Schutzgebiet vielleicht noch ein paar weitere Belugas ein Zuhause finden, wenn auch nicht sofort. Der Plan ist außerdem, dort nur Weibchen zu halten, damit sich die Wale nicht fortpflanzen.
Soweit ich weiß, gestaltet sich die Auswilderung der beiden Belugas bisher sehr schwierig.
In der Tat. In der künstlichen Welt eines Delfinariums sind die Wale fast komplett von natürlichen Reizen abgeschottet. Sie können darin nicht jagen und sind vollkommen abhängig vom Menschen. Vor allem Little White hat sich bei der Umgewöhnung an die neue Umgebung etwas schwergetan. Daher hat man nachträglich ein Zwischenhabitat in das Refugium eingebaut, in dem sich die Tiere langsam an die Bedingungen im Meer gewöhnen können. Little Grey wurde aber 2023 krank, sodass sie zurück in das Pflegebecken an Land musste, damit man sie medizinisch behandeln konnte. Und da Belugas sehr sozial sind, nahm man auch Little White mit.
Und da sind sie bis jetzt?
Genau. Die Infrastruktur des Refugiums wurde aber in der Zwischenzeit nachgebessert. Man hat einen weiteren Bereich eingerichtet, um in zukünftigen Krankheitsfällen die Belugas auch im Meer behandeln zu können und sie dafür nicht wieder in den Pflegepool umsiedeln zu müssen. Heißt: Man arbeitet langsam, aber stetig daraufhin, dass die beiden Wale wirklich über das gesamte Jahr im Meeresrefugium leben können.
»Artgerecht ist nur die Freiheit«
Das bedeutet aber: Selbst wenn es ein Meeresrefugium gäbe, in dem 30 Belugas unterkommen könnten, wäre es ein extrem schwieriges Unterfangen, sie dort einzugewöhnen?
Definitiv. Wie man bei Little White und Little Grey sieht, muss man sehr individuell auf die Meeressäuger eingehen. Jedes Individuum ist anders, jedes hat andere Erfahrungen in der Gefangenschaft gemacht. Daher sind Refugien, wie auch Auswilderungen, komplexe Learning-by-Doing-Projekte mit vielen Herausforderungen. Ein Refugium im Meer einzurichten, ist außerdem ein recht neues Konzept und viel aufwändiger und teurer als eines an Land – wie etwa für Elefanten oder Bären.
Von welchen Summen sprechen wir hier?
Das ist schwer zu sagen. Aber ein Beispiel: Für den Auswilderungsversuch von Keiko, der aus dem Film »Free Willy« bekannt ist, hat eine Stiftung mehr als 20 Millionen US-Dollar aufgewandt. Auch für ihn ging es vom Delfinarium erst einmal nach Island, wo er sich ebenfalls in einer geschützten Meeresbucht schrittweise an das Leben im freien Ozean gewöhnen konnte. Seine tatsächliche Freilassung hat dann leider nicht so geklappt, wie man sich das erhoffte. Keiko hatte weiterhin eine stärkere Bindung zu Menschen als zu seinen Artgenossen. Er schloss sich keiner Orca-Gruppe für längere Zeit an, sondern suchte immer wieder menschliche Nähe. Seine Pfleger mussten ihn manchmal auch füttern, weil er nicht eigenständig jagte. 2003 bekam er eine Lungenentzündung und starb mit 27 Jahren an der Küste Norwegens.
Gab es bereits erfolgreiche Auswilderungen von Meeressäugern?
In Südkorea wurden eine Handvoll Großer Tümmler nach wenigen Jahren Gefangenschaft und einem kurzen Aufenthalt in einem Meeresrefugium wieder erfolgreich in die freie Wildbahn entlassen. Manche von ihnen haben sogar Nachkommen bekommen.
Wie kann man sich ein Meeresrefugium eigentlich vorstellen?
In Island, wo Little Grey und Little White jetzt leben, ist es eine Meeresbucht, die mit einem Netz vom offenen Meer getrennt ist. Das Areal hat eine Fläche von etwa fünf Fußballfeldern und eine Tiefe von bis zu zehn Metern. Dadurch haben die Belugas zwar einen begrenzten, aber zumindest naturnahen Lebensraum. Hier begegnen sie zum Beispiel Algen und Fischen und erleben Gezeiten. Das geplante Meeresrefugium für den Orca Corky an der Ostküste der USA in British Columbia ist hingegen nur ein kreisrundes Netz in Küstennähe. Der Menschenkontakt beschränkt sich auf Pfleger und Tierärzte, die sich vor Ort um die Tiere kümmern. Die Wale sollen aber keine Attraktionen mehr sein.
Was genau meinen Sie damit?
Es geht eben nicht darum, eine Bucht abzusperren, in der sie weiterhin für Touristen zugänglich sind, etwa um von ihnen unterhalten zu werden oder gar um mit ihnen zu schwimmen. Im Englischen spricht man daher von einem »Authentic Sanctuary« – also so authentisch wie möglich und im Sinne der Wale und Delfine. Sie sollen selbst entscheiden können, was sie machen. Es darf keine Industrie um sie herum entstehen – eine, die sie am Ende sogar noch züchtet, nur damit zahlende Urlauber ein Foto von einem Walbaby machen können.
Sie erwähnten Corky. Das ist ein Orcaweibchen, das bereits seit 56 Jahren im SeaWorld-Park San Diego in den USA lebt. Eine Stiftung, die Double Bay Sanctuary Foundation, setzt sich für ihre Befreiung ein und hat sogar schon das erwähnte Refugium eingerichtet. Doch der Park macht keine Anstalten, das Tier freizulassen.
Seit mehr als 20 Jahren gibt es Bemühungen, Corky aus der Gefangenschaft zu entlassen, aber bisher tut sich nichts von Seiten des Parkbetreibers. Dabei ist das Refugium für sie eigentlich fertig, sogar die Mitarbeiterräume sind eingerichtet.
»Die Delfinarien müssten bereits im laufenden Betrieb für die Zukunft der Wale und Delfine sorgen«
Langfristiges Ziel der Stiftung wäre sogar, Corky gänzlich in die freie Wildbahn zu entlassen?
Im Idealfall könnte sie irgendwann wieder in Freiheit leben und sich ihrer Familie anschließen. Denn man kennt ihre Angehörigen; sie leben in der Nähe des Refugiums. Das heißt, Corky könnte mit ihren Verwandten kommunizieren, weil sie denselben Dialekt »sprechen«. Die Aussicht auf Erfolg ist daher größer als bei Keiko. Er hat seine Verwandten wahrscheinlich nie gefunden. Und genauso bei Toki, einem Orcaweibchen aus dem Miami Seaquarium, wäre das für sie geplante Refugium in einem Gebiet gewesen, in dem auch ihre Familie lebt. Das Aquarium hatte das Tier freigegeben, und ein Milliardär wollte die Auswilderung finanzieren. Kurz vor ihrer Freilassung verstarb Toki allerdings – mit 57 Jahren und nach 53 Jahren in Gefangenschaft.
Für Corky ist es womöglich also bald auch zu spät?
Nicht unbedingt. Weibliche Orcas können über 80 Jahre alt werden. Wenn es gut läuft, könnte Corky also noch viele Jahre in Freiheit verbringen. Das Problem ist, dass sie SeaWorld »gehört« und das Unternehmen daher entscheiden darf. Ich finde das verrückt. Aber aus dem Besitztum entsteht ja auch eine Verantwortung: Wenn es aus rechtlicher Sicht so ist, dass den Parks die Wale und Delfine »gehören«, dann haben sie die Pflicht, diese Individuen zu betreuen und zu pflegen – und im Fall einer Schließung, wie bei Marineland, die bestmögliche Lösung im Sinne des Tierwohls zu finden und zu finanzieren.
Marineland verdient ja kein Geld mehr. Für die Einrichtung ist es daher schwierig, weiterhin für die Wale zu sorgen.
Natürlich, das verstehe ich. Marineland hat aber so viele Jahre finanziell von den Meeressäugern profitiert. Die Delfinarien müssten bereits im laufenden Betrieb für die Zukunft ihrer Wale und Delfine sorgen, etwa für den Fall, dass sie pleitegehen.
Sie sehen also die Einrichtungen in der Verantwortung?
Ja. Aber mir ist auch bewusst: Es gibt derzeit schlichtweg keine fertigen Meeresrefugien für die Tiere. Wo sollen sie also hin? Und wie soll das bezahlt werden, wenn man nicht vorgesorgt hat? Daher müsste die Delfinarien-Industrie endlich mal anfangen, sich zu fragen »Hey, sollten wir vielleicht nicht mal aufhören, Wale und Delfine zu züchten?« Das wäre verantwortungsbewusst.
»Die Zucht könnte man von heute auf morgen einfach einstellen«
Wäre das aus Ihrer Sicht die einzige langfristige Lösung?
Auf jeden Fall. Das ist auch der unkomplizierteste Weg. Die Zucht könnte man von heute auf morgen einfach einstellen. So würde sich das Problem langsam, aber stetig von selbst lösen. Natürlich ist es keine Hilfe für jene Meeressäuger, die aktuell noch in Gefangenschaft leben. Man muss also gleichzeitig versuchen, deren Situation zu verbessern.
Weshalb ist die Haltung in Becken eigentlich so belastend für sie?
Alle Individuen, die in Gefangenschaft gehalten werden, zählen zu den Zahnwalen. Diese Arten sind körperlich und physiologisch perfekt auf das Jagen von Fisch und anderen Beutetieren ausgelegt. Dafür brauchen sie viel Platz, und sie sind es gewohnt, sich viel zu bewegen. Statt in einem riesigen Ozean schwimmen sie aber Tag für Tag in einem für ihre Verhältnisse winzigen Becken umher. Außerdem sind die Meeressäuger sehr soziale und intelligente Tiere. Das Familiengefüge ist extrem wichtig für ihr Wohlbefinden und sie teilen überlebenswichtiges Wissen miteinander. Um in Gefangenschaft zu landen, wurden sie entweder aus ihren Familien gerissen oder sind im Betonbecken geboren. Diese Umstände sind sowohl physisch als auch psychisch sehr belastend für sie.
Ihre Organisation setzt sich schon viele Jahre für Wale und Delfine in Gefangenschaft ein. Sehen Sie eine positive Entwicklung?
Was die öffentliche Aufmerksamkeit anbelangt, ja. Das Bewusstsein für die Probleme der Meeressäuger in Gefangenschaft ist auf jeden Fall gewachsen. Bei den Einrichtungen sehe ich das jedoch nicht unbedingt. Selbst wenn sie beispielweise aus finanziellen Gründen schließen müssen, blockieren sie oft weiterhin das Gespräch zu Organisation wie unseren, die versuchen, zusammen mit ihnen eine Lösung im Sinne des Tierwohls zu finden. Meist möchten sie die Wale und Delfine mit möglichst viel Gewinn weiterverkaufen. Wir können nur unsere Argumente kommunizieren und die jeweiligen Regierungen darauf aufmerksam machen. Letztlich dürfen die Parks entscheiden, weil die Meeressäuger ihr Eigentum sind. Noch mal: Ich finde das Wahnsinn; Wale sollten niemandem gehören.
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