Emotionen in gesellschaftlichen Debatten: »Wer emotional polarisiert ist, hält andere für dumm, herzlos, böse«

Wie emotional gespalten ist Deutschland? Das weiß die Psychologin Jule Specht. Sie ist eine der Leiterinnen einer Berliner Forschungsgruppe, die regelmäßig Bürgerinnen und Bürger zu ihren politischen Gefühlen befragt: welche Partei sie wählen, wie sie zu politischen Themen stehen – und was sie für Menschen empfinden, die anders wählen und anders denken als sie selbst. Seit Anfang des Jahres werden die Daten erhoben, zuletzt kurz nach der Bundestagswahl. Die ersten Ergebnisse liegen ZEIT ONLINE exklusiv vor.
Frau Specht, ist die deutsche Gesellschaft gespalten?
Ich glaube, da gibt es viele Missverständnisse. Denn jeder versteht unter Spaltung etwas anderes.
Wie meinen Sie das?
Für manche bedeutet Spaltung schon, dass Menschen zu einem Thema gegensätzliche Meinungen haben. Die einen fordern mehr Klimamaßnahmen, die anderen weniger. Das ist für mich Ausdruck einer lebendigen Demokratie. Andere verstehen unter Spaltung, dass sich Meinungsmuster bilden, Blöcke, bei denen die gleichen Menschen bei verschiedenen Themen die gleichen gegensätzlichen Meinungen haben. Diejenigen, die Klimamaßnahmen befürworten, befürworten gleichzeitig auch offene Grenzen, höhere Sozialausgaben – und umgekehrt. Es bilden sich feste ideologische Lager. Auch das muss noch keine Gefahr für die Demokratie bedeuten. Und es ist eben nur ein Teil dessen, was wir in der Forschung unter Polarisierung verstehen.
Was übersehen wir, wenn wir nur auf Meinungen schauen?
Die Gefühle. Wenn wir von Spaltung sprechen, sollten wir uns auch die Emotionalität anschauen. Denn was wir als Gesellschaft befürchten, wenn wir von Spaltung sprechen, ist doch weniger, dass Menschen unterschiedliche Meinungen haben. Sondern, dass sie sich aus politischen Gründen voneinander abwenden, nicht mehr miteinander reden wollen, nicht mehr friedlich zusammenleben können.
So wie in den USA, wo sich heute zwei fast gleich große Lager unversöhnlich gegenüberstehen.
Genau. Wir schauen uns im Berliner Polarisierungsmonitor deshalb nicht nur an, wie unterschiedlich die Deutschen über politische Fragen denken. Sondern auch, was sie füreinander fühlen. Wie sehr sie mit Menschen sympathisieren, die ähnlich denken. Und wie sehr sie Menschen ablehnen, die anders denken. Wenn beides zusammenfällt, sprechen wir von affektiver Polarisierung.
Hat, wer eine starke Meinung vertritt, nicht immer auch starke Gefühle?
Das könnte man meinen. Und einerseits stimmt es auch: Entschlossene Bürgerinnen oder Wähler sind viel häufiger emotional polarisiert als unentschlossene. Andererseits zeigen unsere Daten, dass dieser Zusammenhang stark vom Thema abhängt.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Meinungen zum Klimaschutz und zu Staatsschulden sind recht ähnlich verteilt: Rund ein Drittel ist jeweils für mehr Klimaschutz oder mehr Staatsschulden, ein Drittel dagegen, ein Drittel unentschieden. Wenn wir uns aber die Gefühle ansehen, dann sind sie beim Klimaschutz deutlich aufgeladener. Menschen, denen Klimaschutz wichtig ist, verachten häufig Menschen, bei denen das nicht so ist, und umgekehrt. Auch beim Thema Asyl und Sozialleistungen sind sich die Menschen ähnlich einig: Eine Mehrheit ist für strengere Asylgesetze und weniger Sozialleistungen. Beide Themen sind stark aufgeladen. Das Thema der Sozialausgaben polarisiert allerdings etwas mehr.
Menschen empfinden mehr Ablehnung gegenüber Andersdenkenden, wenn es um das Bürgergeld geht als um Asyl?
Das hat mich auch erstaunt. Asyl war schließlich das dominierende Thema in den Talkshows vor der Wahl. Der Unterschied ist allerdings klein.
Warum emotionalisieren manche Themen mehr als andere?
Eine Erklärung könnte sein, dass Klimaschutz und Sozialleistungen ältere Politikthemen sind, die Menschen haben feste Meinungen, die Konfliktlinien sind verhärtet. Das Thema der Staatsschulden wirkt komplex, wissenschaftlich, es geht um Zahlen. Es fühlt sich dadurch abstrakt an. Beim Stichwort Klima hingegen sieht man sofort die Klimakleber vor sich oder verpestete Großstädte. So ist es vermutlich auch beim Thema Asyl und vielleicht noch mehr beim Bürgergeld: Man hat sofort Bilder im Kopf, Klischees.
»Je größer die Ränder werden, desto gespaltener fühlt sich das Land«
Studien zeigen, dass sich die Deutschen in der Sache tatsächlich einiger sind als oftmals angenommen. Gleichzeitig ist da ebendieses allgegenwärtige Gefühl der Uneinigkeit, eines Grabens, der sich auftut. Löst Ihre Forschung diesen Widerspruch nun auf?
Ich glaube, dass wir in Deutschland bei vielen Themen tatsächlich gar keinen so großen Dissens haben. Und gleichzeitig gibt es Menschen, gerade an den politischen Rändern, die Debatten emotionalisieren, die ein Gruppendenken heraufbeschwören, das verfängt. Und je größer diese Ränder werden, desto gespaltener fühlt sich das Land.
Die affektive Polarisierung nimmt mit dem Erstarken der AfD zu?
Ob die AfD die Polarisierung verschärft, werden wir erst in einigen Monaten sagen können. Aber natürlich gibt es Indizien.
Welche?
Die AfD stellt zu fast allen anderen Parteien einen Gegenpol dar. Ihre Anhänger haben eine starke Bindung zueinander. Und verschließen sich gegenüber Anhängern anderer Parteien – das BSW und teilweise die Union einmal ausgenommen. Und auch für die Anhänger der meisten anderen Parteien ist die AfD die Partei, zu der sie den größten emotionalen Abstand halten. Die AfD gegen den Rest: Diese Polarisierung zeichnet sich jetzt schon in unseren Daten ab. Und gleichzeitig ist die AfD eben kein Randgruppenphänomen mehr. Bei der Bundestagswahl haben ihr über zehn Millionen Menschen ihre Zweitstimme gegeben. Die AfD hat eine Sonderrolle, aber mit einem Fünftel der Wählerinnen hinter sich, im Osten sogar deutlich mehr.
Ist Deutschland im Osten schon ähnlich gespalten wie die USA?
Ich denke nicht. Dass reihenweise Familien zerreißen, weil sie unterschiedlich wählen, das sehe ich in Deutschland noch nicht, auch nicht im Osten. In Deutschland hängen auch nicht alle ihre Fähnchen raus, um zu zeigen, mit welcher Partei sie sich identifizieren. Und trotzdem hat die AfD unter allen Parteien das größte Potenzial, eine solche Entzweiung anzustoßen.
Sie untersuchen die affektive Polarisierung ganz bewusst nicht nur entlang von Parteien, sondern auch entlang von Themen. Warum?
Wir glauben, dass wir neue Konfliktlinien schneller und früher entdecken, wenn wir uns auch Themen anschauen. Denn sie sind viel aktueller, viel dichter dran an den Menschen als Parteizugehörigkeiten. Studenten haben Hochschulen besetzt, weil sie wütend waren über die Situation in Israel und Palästina – nicht, weil sie mit irgendeiner Partei unzufrieden waren. Die Menschen gehen protestieren für eine Willkommenskultur, für die Demokratie – aber nicht für eine spezifische Partei. Parteien greifen diese Aufregerthemen auf, aber oftmals zeitverzögert.
Die AfD scheint besonders gut darin zu sein, diese Aufregerthemen zu besetzen. Gelingt es ihr deshalb, so stark zu emotionalisieren?
Zumindest verkörpert und etabliert die AfD permanent ein Wir-gegen-sie-Denken. Das ist ein Kern der Rhetorik der Partei. Und dieses Wir-gegen-sie-Denken ist genau das, was wir mit affektiver Polarisierung meinen.
Wie fühlt ein affektiv polarisierter Mensch gegenüber Gleichgesinnten und wie gegenüber Andersdenkenden?
Er empfindet Sympathie, Freude oder Stolz gegenüber Gleichgesinnten, er hält sie für aufrichtige Menschen. Gegenüber Andersdenkenden empfindet er Skepsis, Angst, Wut, Abscheu oder Hass. Er hält sie für dumm, uninformiert, herzlos oder böse. Und lehnt sie deshalb so sehr ab, dass er mit ihnen nie einen Kaffee trinken würden, sein Kind nicht in dieselbe Kita schicken oder sich ein Büro mit ihnen teilen wollen würde.
Welche Folgen kann das für die Gesellschaft haben?
Wenn Menschen nicht mehr bereit sind, sich zu begegnen, zu diskutieren, nach Kompromissen zu suchen, dann ist das eine Gefahr für die Demokratie. Ansatzweise zeigt sich schon in unseren Daten: Stark affektiv polarisierte Menschen sind unzufriedener mit der Demokratie und haben weniger Vertrauen in den Bundestag. Politik stresst sie. Das deckt sich mit der Forschung: Solche Menschen misstrauen staatlichen Institutionen – den Gerichten, der Polizei, aber auch der Wissenschaft und dem Journalismus. Und sie radikalisieren sich eher. Im extremen Fall führt starke Ablehnung der Gegenseite zu Gewalt.
Welche Rolle spielen einzelne Gefühle dabei?
Gefühle haben immer eine Funktion. Wut ist zum Beispiel eine aktivierende Emotion. Wut bringt Menschen auf die Straßen, sie führt zu Engagement. Angst führt eher zu Rückzug. Eher dazu, dass Menschen so verunsichert sind, dass sie zum Beispiel nicht mehr wählen gehen.
Oft heißt es, die AfD würde das Land mit Angst spalten.
Ich denke, dass im Fall der AfD eher Wut im Spiel ist. Die geschürte Wut und Verachtung gegenüber Migrantinnen zum Beispiel. Oder auf Politiker. Jemand, der auf einer rechtsgerichteten Demo lautstark in ein Megafon schreit, jemand, der Geflüchtete angreift, ist gerade nicht besonders ängstlich.
»Wer andere abwertet, wertet sich selbst auf«
Warum tendieren Menschen überhaupt zu einem Wir-gegen-sie-Denken?
Weil ein solches Denken ein universelles Bedürfnis von uns Menschen ist. Selbst der kleinste gemeinsame Nenner kann Menschen zusammenschweißen – und auseinandertreiben. In einigen berühmten Experimenten wurden Menschen in zwei Gruppen eingeteilt, eine Gruppe bekam zum Beispiel rote Bändchen, eine andere blaue. Sofort entstand innerhalb der beiden Gruppen ein Gefühl von Nähe und Zusammenhalt. Und das, obwohl die Personen nichts voneinander wussten, obwohl sie vielleicht gar nichts gemein hatten – außer einem zufällig verteilten Band. An sich ist das erst mal nichts Schlechtes. Eine starke Bindung zu einer Gruppe bringt Vorteile mit sich.
Welche Vorteile?
Zugehörigkeit, Orientierung, Identität, Bestätigung. Das Gefühl: Da sind Leute, die mir helfen, mich trösten, mich loben. Die mich verstehen, die ähnlich ticken wie ich. Das Problem ist: Wenn eine Ingroup entsteht, eine Gruppe, mit der ich mich identifiziere, dann entsteht leider immer auch eine Outgroup: die anderen.
Warum sagen Sie leider?
Weil es meistens nicht beim Abgrenzen bleibt. In den Experimenten, die ich eben erwähnte, zeigte sich ebenfalls, dass die eine Gruppe Schadenfreude empfand, wenn der anderen Gruppe etwas Schlechtes widerfuhr. Wenn es darum ging, Geld zu verteilen, gaben die Probanden den Mitgliedern der anderen Gruppe deutlich weniger.
Warum ist das so?
Wer andere abwertet, wertet sich selbst auf. Eine gefestigte Gruppe erscheint uns stärker als eine diffuse – und wir fühlen uns stärker, wenn wir Teil davon sind.
Es klingt fast ein wenig so, als ginge es bei diesem Wir-gegen-sie-Denken und bei affektiver Polarisierung weniger um Inhalte als um Identität.
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass affektive Polarisierung inhaltsleer ist. Meistens schließt man sich ja einer Gruppe aus einem Grund an, wegen eines Themas, das einem wichtig ist. Aber natürlich kann es passieren, dass die Identifikation irgendwann wichtiger wird und sich von der Ursprungsmeinung löst. Dass die Bindung zu einer Gruppe so stark wird, dass die Argumente irgendwann in den Hintergrund rücken.
Sie selbst sind Persönlichkeitspsychologin. Haben alle Menschen gleichermaßen dieses Bedürfnis, sich einzuordnen und abzugrenzen?
Nein. Manche Menschen haben das sehr stark und andere deutlich weniger. Menschen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz neigen weniger zu affektiver Polarisierung. Also Personen, die Widersprüche ertragen können, die es aushalten, dass Sachverhalte oder Situationen kompliziert sind. Und somit auch, dass Menschen eine andere Meinung haben als sie selbst.
Welche menschlichen Eigenschaften können noch eine Rolle spielen?
Es gibt eine Eigenschaft, die wir intellektuelle Bescheidenheit nennen. Damit ist die Fähigkeit gemeint, anzuerkennen, dass man nie alles wissen wird – und dass es sich immer lohnt, dem Gegenüber zuzuhören. Empathie ist sicherlich auch ein Faktor. Je empathischer ich bin, desto leichter fällt es mir, zu akzeptieren, dass da jemand ist, der eine andere Meinung hat.
Hängt affektive Polarisierung auch mit Alter, Geschlecht oder Bildung zusammen?
Weniger, als man vielleicht denken mag. Ältere Menschen neigen in unseren Daten eher dazu, affektiv polarisiert zu sein. Das deckt sich mit der bisherigen Forschung. Und es passt auch zu einem Befund aus der Persönlichkeitspsychologie: Je älter Menschen werden, desto weniger offen für neue Erfahrungen werden sie – sie können Veränderungen und Neues im Schnitt schwerer ertragen. Und reagieren vielleicht auch deshalb ablehnender auf Menschen, die die Welt ganz anders sehen als sie. Ansonsten gibt es kaum pauschale Unterschiede. Frauen neigen nicht mehr zu aufgeladenen Gefühlen als Männer, Gebildete nicht mehr als weniger Gebildete. Es kommt außerdem sehr auf das Thema an. Wenn es etwa um den Erhalt unserer Demokratie geht, werden Personen sehr emotional, die eher links sind oder ein höheres Bildungsniveau haben. Wenn es um Migration geht, sind es Personen, die ein niedriges Einkommen haben und eine geringe Empathie.
Sie sagten eben, dass Gruppendenken ein menschliches Bedürfnis ist. Waren gefühlt weniger polarisierte Zeiten in der Bundesrepublik – etwa in den Anfangsjahren unter Angela Merkel – also eine historische Ausnahme?
Ich bezweifle, dass Frau Merkel universelle psychologische Prozesse ausgehebelt hat. Falls die Menschen damals weniger affektiv polarisiert waren, würde ich eher fragen: Fand die Identifikation damals mehr in anderen Lebensbereichen statt? Und ist sie heute wieder mehr verknüpft mit politischen Fragen?
»Die Grünen nehmen oft kein Blatt vor den Mund – sodass auch sie zur Polarisierung beitragen«
Nicht nur in Deutschland werden politische Identitäten und Gefühle wichtiger. Überall gewinnen populistische Parteien an Einfluss. Wie erklären Sie sich das?
Die Menschen sind heute weniger fest eingebunden als früher. Die Kirchen verlieren ihre Mitglieder, Vereine sterben aus, Parteien können sich nicht mehr auf eine Kernklientel verlassen. Stattdessen engagiert man sich mal hier, mal da. Das universelle Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird weniger nachhaltig erfüllt. Viele Menschen sind dadurch ständig auf der Suche. Und das verändert natürlich auch, wie verschiedene Gruppen, zum Beispiel Parteien, auf die Menschen zugehen.
Inwiefern?
Parteien und Politiker können sich weniger auf ihren Sympathisanten ausruhen. Sie sind viel mehr bestrebt, um neue Wählerinnen und Wähler zu buhlen, um ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse. Und das funktioniert eben sehr gut mit Emotionen. Man kann das auch in den sozialen Medien beobachten, die diese Entwicklung sicherlich mit befeuern. Im Netz sind moralisierende, aufgeladene Inhalte besonders erfolgreich, was viele dazu verleitet, selbst moralisierende, emotionalisierende Inhalte zu teilen – um überhaupt gehört zu werden. Und das kann natürlich eine Spirale lostreten, in der alle immer aufgebrachter miteinander kommunizieren.
Ist die AfD die einzige Partei, die diese Spirale antreibt?
Nein, nicht unbedingt. Das BSW macht das genauso. Und auch die Grünen nehmen oft kein Blatt vor den Mund, sie grenzen sich so lautstark von der AfD ab, sodass auch sie zur affektiven Polarisierung beitragen. Grüne und AfD stehen sich wie zwei Pole gegenüber, das zeigen auch unsere Daten. Die SPD und die Union kommunizieren hingegen gemäßigter. Was auch plausibel ist: Als ehemalige Volksparteien haben sie sich dem Anspruch verschrieben, für die gesamte Gesellschaft zu sprechen.
Gleichzeitig haben sie in den letzten Jahrzehnten zunehmend Stimmen verloren.
Ja, es ist tatsächlich eine Zwickmühle. Wer sich zurückhält, bekommt weniger Aufmerksamkeit. Wer mitmacht, befeuert die affektive Polarisierung.
Wie kommt man aus dieser Spirale wieder raus?
Wir als Forscherinnen und Forscher würden erst mal sagen, dass affektive Polarisierung per se nicht schlecht sein muss. Wie ich vorhin sagte: Die Bindung an eine Gruppe kann viele Vorteile mit sich bringen. Und starke Gefühle zu einer Meinung können Menschen antreiben, sich zu engagieren.
Und trotzdem kann affektive Polarisierung das friedliche Zusammenleben gefährden.
Ja. Deshalb wollen wir herausfinden, wie man diese Konsequenzen abwenden kann. Es gibt zum Beispiel Interventionen, die versuchen, Andersdenkende an einen Tisch zu bringen.
… zum Beispiel Deutschland spricht, eine Initiative, die wir bei ZEIT ONLINE gestartet haben.
Ja, das ist ein Beispiel. Die Idee dahinter ist: Wenn man erst mal miteinander redet, erkennt man, dass der oder die andere gar nicht so schrecklich ist.
Einer Studie zufolge können die Deutschland-spricht-Gespräche tatsächlich dazu beitragen, die affektive Polarisierung zu senken.
Ja, das Problem ist nur: Die demokratiefeindlichen Einstellungen bleiben meist bestehen. Und manchmal gehen solche Experimente auch nach hinten los, weil man während eines Gesprächs merkt: Oje, dieser Mensch denkt ja wirklich ganz anders als ich – wie furchtbar. Kontakt ist also nur unter gewissen Bedingungen Erfolg versprechend.
Hinzu kommt, dass Kontakt für solche Experimente künstlich hergestellt wird. Im Alltag ist der fehlende Kontakt ja gerade das Problem.
Deshalb sollte man vielleicht an der Bereitschaft ansetzen, sich überhaupt auf Andersdenkende einzulassen.
Wie ließe sich die fördern?
Wir haben eben über einige individuelle Fähigkeiten gesprochen. Intellektuelle Bescheidenheit, Ambiguitätstoleranz, Empathie. Darin sehe ich großes Potenzial. Wir untersuchen auch, wie Menschen miteinander sprechen, wenn sie über ein aufgeladenes Thema diskutieren – beispielsweise über ihre Mimik. Um dadurch zu lernen, was für Gespräche gut laufen, welche Fertigkeiten dafür vielleicht nötig sind.
Das klingt, als bräuchte das ganze Land psychologische Nachhilfe. Ist das nicht etwas utopisch?
Wir wollen nicht die gesamte Gesellschaft therapieren. Sondern uns eher überlegen: Was für Personengruppen sind besonders von affektiver Polarisierung betroffen? Zum Beispiel Aktivistinnen. Und ihnen dann Interventionen anbieten, zum Beispiel um mit der psychologischen Belastung besser umzugehen, die manche erleben, wenn sie besonders stark mit affektiver Polarisierung konfrontiert sind. Es gibt zum Beispiel auch gut erforschte Gruppentrainings für Empathie. Und natürlich gibt es außerdem die Möglichkeit, bestimmte Fertigkeiten in Schulen zu fördern – präventiv.
Was passiert, wenn die affektive Polarisierung nicht abnimmt – sondern weiter zu? Wenn vor allem die AfD noch mehr Wählerinnen und Wähler dazugewinnt?
Dann entwickelt sich möglicherweise eine Zweiteilung der Gesellschaft wie in den USA. Die AfD auf der einen Seite und der Rest auf der anderen – zwei feindliche Lager. Oder es kommt zu einer Normalisierung der AfD: Bisher ist sie keine akzeptierte Partei. Sie hat Schwierigkeiten, bestimmte Posten zu besetzen, wird nicht zu Koalitionsgesprächen eingeladen, man möchte nicht mit ihr gemeinsam abstimmen. Auf kommunaler Ebene arbeiten manche Parteien aber schon mit ihr zusammen. Wenn bundesweit so viele Menschen die AfD wählen, dass man an ihr nicht mehr vorbeikommt, dann könnte es sein, dass die affektive Polarisierung wieder abflaut. Ob das wünschenswert ist, ist eine andere Frage.

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