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Gesundheitspolitik in Deutschland: Zu teuer, zu ineffizient, zu wenig fundiert

In kaum ein Gesundheitssystem fließt so viel Geld wie in das deutsche. Gemessen daran ist seine Erfolgsbilanz eher schlecht. Vor allem die Krankheitsvorsorge scheitert spektakulär. Warum eigentlich?
Eine Gesundheitskarte liegt neben Euro-Banknoten und -Münzen. Ein Stethoskop ruht auf der Karte, während daneben zwei Kapseln und eine Tablette liegen. Das Bild symbolisiert das Thema Gesundheitskosten und Versicherung in Europa.
Deutschland hat ein strukturelles Problem in der öffentlichen Gesundheitsversorgung, wie eine Übersichtsstudie ergeben hat. Statt Krankheiten zu verhindern, konzentriere sich das System zu sehr auf teure Behandlungen – und das mit oft ineffizienten Strukturen.

»Wie geht es uns heute?« Es ist die Standardfrage in der Arztpraxis, doch in Bezug auf die Menschen in Deutschland ist sie gar nicht so leicht zu beantworten. Die Gesundheitspolitik bräuchte gute Daten, um verlässliche Auskünfte darüber zu geben. Im Robert Koch-Institut (RKI) hat man schon lange erkannt, dass diese fehlen – und rannte jahrelang gegen Mauern an in dem Versuch, etwas daran zu ändern.

Bereits 2013, berichten Beteiligte, gab es in Deutschlands wichtigster Gesundheitsbehörde den Plan, eine dauerhafte Kohortenstudie einzurichten: eine große, möglichst repräsentative Langzeituntersuchung, in der sich ein Teil der Bevölkerung regelmäßig zur Gesundheit befragen und untersuchen lässt. Ob es um die Entwicklung von Übergewicht oder Diabetes geht, um Ernährungstrends oder Bewegungsmuster – eine solche Kohortenstudie würde einen ungemein wertvollen Datenschatz hervorbringen, von dem die Gesundheitspolitik enorm profitieren würde, darin sind sich die Fachleute einig. Unter anderem ließen sich damit in einer Pandemie wie der, die ab 2019 für weltweite Disruptionen sorgte, das Infektionsgeschehen sowie die Wirkung von Schutzmaßnahmen aussagekräftig bewerten.

In der Politik jedoch fand das RKI kein Gehör. Die Gesundheitsminister kamen und gingen, eines aber blieb: Es gab kein Geld für die Kohortenpläne. Dann schlug mit Covid-19 tatsächlich eine weltweite Pandemie zu, worauf im März 2022 die Institutsleitung um den damaligen Präsidenten Lothar Wieler einen neuen Anlauf nahm. Sie legte ein 104 Seiten langes Konzept vor, das eine Neuaufstellung der RKI-Abteilung für »Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring« skizzierte. Das interne Dokument liegt »Spektrum« nach einer Informationsfreiheitsanfrage vor. Und anders als öffentlich dargestellt, wo das RKI bis heute die Datengrundlage »während der gesamten Covid-19-Pandemie« als »ausreichend« beschreibt, legt das Papier schonungslos die Wissenslücken offen.

Tradierte Abläufe, die an Grenzen stoßen

Der Bedarf nach »empirischer Evidenz zur Unterstützung der Eindämmung der Pandemie« hätte »nicht vollumfänglich gedeckt werden« können, heißt es in dem Dokument. »Zeitnah« seien Sonderstudien »nicht umsetzbar« gewesen. Die Rede ist von »Ressourcenproblemen« und »tradierten Prozessabläufen«, die »schnell an ihre Grenzen stoßen«. Gemeint ist unter anderem: Endete ein bewilligtes Forschungsprojekt, verließen die dafür befristet eingestellten qualifizierten Fachleute das Institut – um schmerzlich vermisst zu werden, wenn später wieder Geld für ein neues Projekt da war. Eine kontinuierlich laufende Kohortenstudie, in der Fachsprache auch Panel genannt, wurde in dem Dokument als mögliche Lösung dieses Problems vorgestellt.

Im zurückliegenden Jahr war es dann so weit. 47 500 Menschen schloss das RKI bis Mai 2024 in seine Dauerstudie »Gesundheit in Deutschland« ein. Die Langzeituntersuchung dürfte die künftige Gesundheitspolitik maßgeblich beeinflussen. Obwohl die Notwendigkeit einer solchen Studie längst erkannt war, hatte es mehr als zehn Jahre und eine globale Pandemie gebraucht, bis sie endlich gestartet wurde. Die Geschichte steht beispielhaft für vieles, was Expertinnen und Experten am deutschen Gesundheitssystem verzweifeln lässt.

Jeder achte Euro, der hier zu Lande erwirtschaftet wird, fließt in die Gesundheit. Mit Ausgaben von deutlich mehr als 5000 Euro pro Kopf und Jahr leistet sich die Bundesrepublik das teuerste Gesundheitssystem Europas und eines der teuersten der Welt. OECD-Daten zufolge liegt sie mit 7,8 Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner sehr deutlich über dem EU-Durchschnitt von 4,8. Auch die Zahl der Ärzte (4,5 gegenüber 4,1) und Krankenpflegekräfte (12 gegenüber 8,5) übersteigt den europäischen Mittelwert. Gemessen daran sind die Gesundheitsleistungen, die das System erbringt, ziemlich mau.

Auf 100 000 Einwohner ließen sich laut EU-Daten für 2022 fast 250 Sterbefälle bei unter 75-Jährigen vermeiden. Die meisten davon (165) wären durch Prävention abwendbar, die übrigen durch Behandlungsmaßnahmen. Nicht übertragbare Krankheiten wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebs- und Diabeteserkrankungen sind in Deutschland für 90 Prozent aller vorzeitigen Todesfälle verantwortlich. Die größten Risikofaktoren dafür sind lange bekannt und weit verbreitet: Bluthochdruck, Rauchen, Übergewicht, erhöhter Blutzucker, ungesundes Essen und ein zu hoher Alkoholkonsum. Die Lebenserwartung Neugeborener ist in Deutschland zuletzt sogar unter den EU-Durchschnitt gesunken. Länder wie Spanien, Frankreich, Italien oder Österreich stehen deutlich besser da.

»Das (deutsche) Gesundheitssystem ist teuer, aber ineffizient«, bilanziert Hajo Zeeb, Leiter der Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS). In einer kürzlich veröffentlichten Analyse haben er und sein Team drei Gründe als ausschlaggebend hierfür benannt. Erstens die fehlende zentrale Steuerung der Gesundheitspolitik. Zweitens zu wenig Prävention. Drittens schädliche Lobbyeinflüsse.

Für den international etablierten Begriff »Public Health« gibt es nicht einmal eine gängige deutsche Entsprechung

Die Probleme fangen demnach schon mit jenen Datenlücken an, die künftig die RKI-Kohortenstudie füllen soll. Zwar gibt es bereits große nationale Gesundheitsstudien und aufwändige Datenbanken wie die Krebsregister. Doch handelt es sich hierbei entweder um schwer vergleichbare Einzeluntersuchungen in großen zeitlichen Abständen, oder die Daten sind über viele Ebenen bis hinab zu lokalen Gesundheitsämtern verteilt, was ihre Zusammenführung erschwert. Falls sie sich überhaupt verknüpfen lassen, greift »die große Sorge um den Datenschutz« um sich, wie es in der Analyse heißt.

Einst Vorreiter bei der »Volksgesundheit«

Zeeb und sein Team benennen historische Gründe für diese Situation. Auffällig ist, dass es für den international etablierten Begriff »Public Health« nicht einmal eine gängige deutsche Entsprechung gibt. Dabei war Deutschland einmal ein Vorreiter in Sachen »Volksgesundheit«. Der preußische Armenarzt Salomon Neumann beschrieb die Medizin im Revolutionsjahr 1848 als »sociale Wissenschaft«. Sein Freund, der Arzt und liberale Reformpolitiker Rudolf Virchow, spann diesen Gedanken mit seinem berühmten Zitat fort: »… und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen«.

1935 jedoch bauten die Nationalsozialisten das System radikal um. Mit ihrem Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens zentralisierten sie den öffentlichen Gesundheitsdienst und machten ihn zum Instrument der Rassenhygiene und der Organisation von Krankenmorden. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Bruch. Während in der sowjetisch beeinflussten DDR staatlich gesteuerte Präventionsprogramme prägend waren, setzte die Bundesrepublik auf eine dezentrale Krankenversorgung. Behörden hatten eine schwache Stellung, im Zentrum standen die Behandlungsansätze niedergelassener Ärzte und Kliniken.

Mit der Wiedervereinigung verdrängte die individualisierte Medizin auch in Ostdeutschland das Konzept der »Volksgesundheit«. Was laut Zeeb & Co. einerseits zu Überversorgung und starker Profitorientierung führte, während andererseits die gesetzliche Krankenversicherung gerade einmal 0,2 Prozent ihrer Ausgaben von 306 Milliarden Euro (Wert für 2023) in Präventionsmaßnahmen investierte. Für die Krankheitsvorsorge fehlten der politische Wille und jegliche Strategie – weshalb Deutschland hier »langsam und ineffizient« sei, zu erkennen beispielsweise an unzureichender Tabak- und Alkoholprävention wie auch mangelnder Förderung einer gesunden Ernährung. Und das, obwohl hier zu Lande mehr als jeder zweite erwachsene Mensch übergewichtig ist und der Alkoholkonsum wie auch die Quote der täglichen Raucher höher liegen als in den meisten anderen EU-Ländern.

Übergewicht und Alkoholkonsum | In Deutschland ist jeder zweite erwachsene Mensch übergewichtig, und der Alkoholkonsum wie auch die Quote der täglichen Raucher liegen höher als in den meisten anderen EU-Ländern. Das alles sind bekannte Risikofaktoren für chronische Krankheiten, weshalb die Krankheitsprävention hier ansetzen sollte – was nur unzureichend geschieht.

Die Wissenschaft ist mit ihrem Erkenntnisfortschritt längst weiter. An den Hochschulen sind seit den 1990er Jahren mehrere Public-Health-Institute entstanden, etwa an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo der Mediziner Peter von Philipsborn forscht. Die Analyse des Teams um Zeeb stuft er als »sehr treffend« ein; auch er vermisst einen Akteur, der in Sachen öffentliche Gesundheit den Takt vorgibt. »Es gibt kein zentrales Public-Health-Institut mit starkem Mandat«, beklagt Philipsborn. Schon im Bundesgesundheitsministerium fehle das Bewusstsein für »alles, was nicht Krankenversorgung im engen Sinne ist«.

Wirksame Zuckerabgabe

Dass es einem Land wie Großbritannien gelingt, eine Zuckersteuer für Limonadenhersteller einzuführen, Deutschland bislang aber nicht, überrascht Philipsborn wenig. Der Public-Health-Experte hatte die Wirksamkeit solcher Maßnahmen als Hauptautor einer Cochrane-Übersichtsstudie untersucht. Das Gesundheitssystem in Großbritannien sei steuerfinanziert, weshalb die dortigen Haushaltspolitiker daran interessiert seien, die enormen Kosten der Volkskrankheiten in den Griff zu bekommen. In Deutschland hingegen konkurrierten 90 beitragsfinanzierte Krankenkassen darum, überlebensfähig zu bleiben. Prävention bedeute für sie erst einmal, Geld auszugeben – während die erwarteten Einsparungen in ferner Zukunft liegen.

Wie kompliziert alles ist, bekommen vor allem chronisch Kranke zu spüren – und das sind nicht wenige. Asthma, permanente Rückenschmerzen, Depressionen: Je nach Quelle leidet jeder dritte oder sogar jeder zweite erwachsene Mensch in Deutschland an mindestens einer chronischen Krankheit. Herz-Kreislauf-Beschwerden und Diabetes verursachen jedes Jahr Milliardenkosten und gehören zu den häufigsten Todesursachen.

Trotzdem bleibt die Beziehung Deutschlands zur Krankheitsvorsorge kompliziert. Als Demoskopen des Instituts Allensbach Ende 2019 im Auftrag der Stiftung Gesundheitswissen mehr als 1200 Menschen befragten, darunter 521 chronisch Erkrankte, stellten sie fest: Wirklich etwas für seine Gesundheit tat vor allem, wer bereits krank war. Und je stärker die gesundheitlichen Einschränkungen fortgeschritten waren, umso mehr war das Vertrauen in den Nutzen von Prävention geschwunden.

Eine politische Antwort darauf sind die so genannten Disease-Management-Programme, kurz DMP. 2001 gab ein Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen den Anstoß, das Konzept der DMP aus den USA zu übernehmen, damit der Umgang mit chronisch Kranken auf eine solidere Evidenzbasis gestellt wird. Einer der führenden Autoren des Gutachtens war der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach – 20 Jahre vor seiner Ernennung zum Gesundheitsminister.

Disease-Management-Programme wirken nachweislich lebensverlängernd; paradoxerweise stehen sie zugleich symbolhaft für das Scheitern des deutschen Gesundheitssystems

Nach Auskunft des Bundesamts für Soziale Sicherung nahmen Ende Februar 2025 insgesamt 7,5 Millionen Patienten an einem oder mehreren DMP teil. Vor allem die Programme für Diabetes Typ II, koronare Herzkrankheit und Asthma bronchiale werden demnach gut angenommen. Zudem können Kassenärzte ihre Patientinnen und Patienten auch in DMPs für Lungenerkrankungen (COPD), Brustkrebs, Diabetes Typ I und Osteoporose einschreiben. Das Konzept gilt als durchaus erfolgreich, vor allem, weil es chronisch Kranke auf strukturierte Behandlungspfade mit festen Untersuchungsrhythmen führt. Studien haben den Disease-Management-Programmen eine gute Wirkung bescheinigt, die Programme für koronare Herzkrankheit und Diabetes Typ II wirken nachweislich lebensverlängernd.

Erfolgreiche Konzepte, zum Scheitern verurteilt

Paradoxerweise stehen die DMP zugleich symbolhaft für das Scheitern des deutschen Gesundheitssystems. Zu kompliziert, zu wenig präventiv, zu sehr interessengeleitet: Viele der Probleme, die Zeeb und sein Team ausgemacht haben, zeigen sich in diesen Programmen.

Auf dem Papier gibt es noch viel mehr Disease-Management-Programme als jene sieben, die regen Zuspruch finden, und zwar zum Teil schon seit vielen Jahren. In aufwändigen Recherchen, in denen sie die medizinische Evidenz durchforsteten, haben führende Fachleute strukturierte Programme für den Umgang mit chronischen Rückenschmerzen, Depressionen, Herzinsuffizienz, rheumatoider Arthritis und Fettleibigkeit entwickelt. Und der Gemeinsame Bundesausschuss hat diese Programme längst beschlossen. Manche davon gehen sogar auf einen Beschluss des Bundestags zurück. Nur in der medizinischen Versorgung kamen sie nie an.

Dass ein Disease-Management-Programm fertig entwickelt und beschlossen ist, heißt in Deutschland nämlich noch gar nichts. Damit ein Arzt einen Patienten in solch ein Programm einschreiben kann, muss zunächst die Kassenärztliche Vereinigung seines Bundeslands mit der Krankenkasse des Versicherten einen Regionalvertrag ausgehandelt haben, der die Behandlungsdetails und die Vergütung regelt. Bevor ein DMP bundesweit zur Verfügung steht, sind somit Dutzende von Vertragsverhandlungen nötig. Als der Ansatz noch neu war, ging das relativ schnell. Es änderte sich jedoch mit der Gesundheitsreform 2009. Bis dahin hatten die Krankenkassen einen Bonus für jeden Versicherten erhalten, der an einem DMP teilnahm. Ein echter Anreiz, den die Reform zunichtemachte: Sie strich den Bonus – und wies den Kassen über den so genannten Risikostrukturausgleich zusätzliches Geld aus dem Gesundheitsfonds zu, wenn sie besonders viele chronisch Kranke versichern.

Absurde Auswirkungen

Die Folgen sind grotesk. Im Juni 2024 mahnte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zahlreiche Änderungen an dem DMP für chronische Rückenschmerzen an, weil das Programm nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung entspricht. Zuvor bereits musste der Gemeinsame Bundesausschuss eine Aktualisierung der ebenfalls überholten Programme für Herzinsuffizienz und Depression beschließen. Was im Klartext heißt: All die Arbeit – aufwändige Evidenzrecherche, langwierige Beratungen, mühsam ausgehandelte Beschlüsse – beginnt von vorn. Und das bei drei Programmen, die zwar auf dem Papier seit Jahren fertig entwickelt sind, von denen jedoch noch nie auch nur ein einziger Patient profitiert hat. Denn es gibt für sie schlicht keine Regionalverträge.

Gespräch zwischen Ärztin und Patientin | Disease-Management-Programme dienen der besseren Betreuung von Personen, die an chronischen Krankheiten wie Diabetes, Herzkomplikationen oder Asthma bronchiale leiden. Von einigen dieser Programme hat in Deutschland nie ein Patient profitiert – schlicht, weil es für sie keine Regionalverträge gab.

Auch ihr Versprechen, für eine solide Evidenzbasis zu sorgen, lösen die Disease-Management-Programme nicht ein. Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses durchforsten die Fachleute zwar länderübergreifend die medizinischen Leitlinien, wenn sie ein DMP entwickeln. Doch wer erwartet, dass ins Programm kommt, was am besten hilft, irrt sich gewaltig. Hineinschreiben dürfen die Experten nur, was bereits als Kassenleistung anerkannt ist. Dass sie den Patienten mitunter ausgerechnet die wirkungsvollsten Therapien vorenthalten müssen, zeigt das Beispiel des Diabetes Typ II.

Jeder fünfte Erwachsene in Deutschland trägt auf Grund seiner Blutzuckerwerte ein erhöhtes Risiko für diese Stoffwechselerkrankung. Die meisten, bei denen sich die Krankheit auszuprägen beginnt, kennen ihren Stoffwechselstatus jedoch nicht, beklagen Diabetesexperten. Und Präventionsmaßnahmen dagegen würden kaum angeboten und bezahlt. Selbst wenn sich ein Diabetes bereits klinisch manifestiert hat, zeigen Studien wie der 2018 veröffentlichte »DiRECT«-Versuch: In vielen Fällen lässt sich die Erkrankung zurückdrängen, nach Meinung mancher Fachleute sogar dauerhaft. Der Weg dorthin führt vor allem über eine individuelle Ernährungstherapie. Die jedoch ist keine Kassenleistung und darf folglich kein Bestandteil der DMP sein.

Nur bei einem von zehn Diabetikern des Typs II setzen die Ärzte ausschließlich auf Lebensstilmaßnahmen wie eine Ernährungstherapie

Das Ergebnis ist ein pharmabasierter Reparaturbetrieb, wie ihn auch Zeeb & Co. beschreiben. Für die mindestens 9,1 Millionen Diabetiker des Typs II in Deutschland heißt das: Ihr Medikamentenkonsum steigt seit Jahren, die größten Zuwachsraten gab es ausgerechnet mit Einführung des entsprechenden Disease-Management-Programms. Im ersten Halbjahr 2024 zahlten die Krankenkassen mehr als zwei Milliarden Euro für Antidiabetika. Und während neun von zehn Betroffenen Medikamente einnehmen, setzen Ärzte nur bei einem von zehn ausschließlich auf Lebensstilmaßnahmen wie eine Ernährungstherapie.

Herzgesundheit: Viele Lebensjahre verloren

Die »strukturellen Defizite« des Gesundheitssystems sehe auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, betont ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage. Er bestätigt Zeebs Analyse insoweit, als »die Ergebnisse nicht den eingesetzten Ressourcen entsprechen«.

Vorhaben wie die Krankenhausreform sollten daran etwas ändern. Alle Initiativen Lauterbachs jedoch waren hochumstritten oder blieben unvollendet. Für die Prävention wollte der SPD-Politiker sogar eine neue Bundesbehörde gründen, das Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM), welches sich um Fragen des Gesundheitsmonitorings und um nicht übertragbare Krankheiten kümmern sollte. Zahlreiche Public-Health-Experten und medizinische Fachgesellschaften kritisierten jedoch, dass dafür das RKI zerschlagen werden sollte, statt die Kompetenz für infektiöse ebenso wie nicht infektiöse Krankheiten in einer starken zentralen Behörde zu bündeln. Das BIPAM wurde nie gegründet, weil der dazu nötige Bundestagsbeschluss nicht mehr zu Stande kam, bevor die Ampelkoalition zerbrach. Stattdessen beschränkte sich Lauterbach darauf, die kleine, allein für Öffentlichkeitsarbeit zuständige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung per Erlass in das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) umzubenennen.

Karl Lauterbach | Der Bundesgesundheitsminister wollte eine neue Behörde für Prävention gründen, das Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin. Dazu kam es nicht, weil der dazu nötige Bundestagsbeschluss nicht zu Stande kam, bevor die Ampelkoalition zerbrach.

Auch das Elend der Disease-Management-Programme wollte Lauterbach beenden. Im Zuge seines – vom Ampelkabinett bereits bestätigten – Gesundes-Herz-Gesetzes hätte er die Kassen dazu verpflichtet, DMP umzusetzen. Dieser Entwurf schaffte es vor der Neuwahl ebenfalls nicht mehr durch den Bundestag.

Ohnehin waren die Diskussionen noch nicht beendet, denn das Vorhaben hatte ein geteiltes Echo hervorgerufen. Es sollte ärztliche Check-ups sowie die Verordnung von cholesterinsenkenden Statinen und Arzneimitteln zur Tabakentwöhnung fördern – worin Kritiker abermals einen Fokus auf Reparaturmaßnahmen statt auf Prävention erkannten. Dass Lauterbach aber politisch in die sonst sakrosankte Selbstverwaltung des Gesundheitssystems eingreifen wollte, um Therapien zu fördern, fand durchaus Unterstützer.

Nur mit politischem Druck

Derartige Anstöße hält beispielsweise Philipp Wild, Leiter des Instituts für Präventive Kardiologie und Medizinische Prävention der Universitätsmedizin Mainz, für nötig, um die Krankheitsvorsorge gegenüber der Gerätemedizin zu stärken. »Das System hat Schwierigkeiten, sich zu ändern – das wird nur mit äußerem politischem Druck geschehen«, glaubt er.

Unstrittig ist, dass bei der Herzgesundheit erheblicher Änderungsbedarf besteht: Jeder dritte Todesfall geht auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurück. Im Frühjahr 2025 rechnete ein internationales Forscherteam um die Hamburger Kardiologin Christina Magnussen in einer Studie vor, dass 50-Jährige mehr als zehn Lebensjahre verlieren, wenn bei ihnen die wichtigsten Risikofaktoren vorliegen: Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte, Über- oder Untergewicht, Diabetes und Rauchen – all das, was in Deutschland verbreitet ist. Die zu Grunde liegenden Daten von mehr als zwei Millionen Erwachsenen aus 39 Ländern zeigen aber auch, dass es zum Gegensteuern fast nie zu spät ist: Wem es gelingt, im Alter zwischen 55 und 60 seinen Blutdruck zu senken oder mit dem Rauchen aufzuhören, kann sein Leben statistisch noch um jeweils rund zwei Jahre verlängern. Nur passiert dies eben viel zu selten.

Aus Sicht des Mainzer Präventionsmediziners Wild muss das Bewusstsein für Krankheitsvorsorge innerhalb wie außerhalb des Gesundheitssystems wachsen. »Wir haben bessere Möglichkeiten, Volkskrankheiten zu verhindern, als sie nachher zu behandeln. Aber wir sind erst dann bereit, etwas für unseren Körper zu tun, wenn wir die Folgen schon spüren.« Der Weg, den er vorschlägt: gesundheitliche Aufklärung bereits in Kindergarten und Schule – und die Ausgaben nicht so einseitig wie bisher in die Gerätemedizin zu lenken, sondern verstärkt auch ärztliche Aufklärungsgespräche zu honorieren.

»Erschreckend rückschrittlich«

Nicht zuletzt rücken Fachleute die Gestaltung des Lebensumfelds in den Blick der Politik. Die Verantwortlichen der künftigen Bundesregierung sollten die Analyse von Zeeb & Co. diesbezüglich aufmerksam lesen, mahnt Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands. Denn: »Deutschland ist erschreckend rückschrittlich bei bevölkerungsweit wirksamen Maßnahmen der Prävention. Insbesondere bei Maßnahmen, bei denen der Gesundheitsschutz mit kommerziellen Interessen der Lebensmittel-, Alkohol- und Tabakindustrie im Konflikt steht, sind wir hier zu Lande zögerlich.«

In der vergangenen Wahlperiode war Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) innerhalb der eigenen Ampelkoalition mit dem Ziel gescheitert, die an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel zu beschränken. Für andere von Wissenschaftlern geforderte, aber von Industrielobbys bekämpfte Maßnahmen – eine stärkere Tabak- und Nikotinregulierung, Werbeverbote für Alkohol, eine Zuckersteuer – fanden sich keine Mehrheiten. »Ohne eine mutige Präventionspolitik, die die Gesunderhaltung priorisiert, werden wir unsere sozialen Sicherungssysteme langfristig nicht aufrechterhalten können«, warnt AOK-Chefin Reimann. Eine stärkere Regulierung gesundheitsschädlicher Industrien sei unabdingbar, um die gesunde Wahl zur einfacheren zu machen.

»Wenn man das so framt, spricht das ein linkes politisches Spektrum an – wir haben strukturell aber eher liberal-konservative Mehrheiten in Deutschland«Peter von Philipsborn, Public-Health-Forscher

Dass dies nicht gelingt, liege womöglich auch an den typischen Debattenmustern, meint Public-Health-Forscher Philipsborn. Primärprävention werde in Deutschland stark als Thema sozialer Gerechtigkeit diskutiert, auch weil Benachteiligte überdurchschnittlich oft von chronischen Krankheiten betroffen sind. »Wenn man das so framt, spricht das ein linkes politisches Spektrum an – wir haben strukturell aber eher liberal-konservative Mehrheiten in Deutschland.«

Wie es anders geht, hat Argentinien vorgemacht. Seit 2022 schreibt dort eines der weltweit ambitioniertesten Gesetze zur Förderung gesunder Ernährung unter anderem Warnhinweise für hochverarbeitete Lebensmittel vor. Als Wissenschaftler der Universität Göttingen verschiedene Akteure aus dem südamerikanischen Land befragten, wie dies gelingen konnte, erhielten sie eine aufschlussreiche Antwort: Das Gesetz war stark mit dem Recht auf transparente Information begründet worden, was das Ganze in ein positives Licht rückte.

Frühes Plädoyer für Konsumsteuern

Wissenschaftler, aber auch Nichtregierungsorganisationen und Gesundheitsbehörden müssten »inklusive Narrative« in diesem Sinn verwenden, regt Philipsborn an. Er erinnert daran, dass die älteste ihm bekannte Begründung für Konsumsteuern ausgerechnet von dem schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723-1790) stammt, der vielen als Vordenker des Neoliberalismus gilt. In seinem Hauptwerk über den »Wohlstand der Nationen« schrieb Smith 1776, dass »Zucker, Rum und Tabak« gleichermaßen allgegenwärtig wie überflüssig seien, weshalb eine Steuer auf diese Produkte äußerst sinnvoll sei.

Michael Bosnjak sieht noch eine weitere Hürde, die einer besseren Gesundheitspolitik entgegensteht: »Der Wille zur Evidenzbasierung fehlt«, sagt der Psychologieprofessor von der Universität Trier. Er meint damit ein fehlendes Bestreben, die Medizin an empirisch gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten. Hier unterscheide sich Deutschland etwa von Großbritannien, wo eine neoliberal-konservative Regierung die Zuckersteuer eingeführt hat und wo nicht zufällig das wissenschaftliche Cochrane-Netzwerk entstanden ist, das mit seinen Übersichtsstudien die Grundlage für eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik schaffen will. »In Deutschland wird Evidenzbasierung gern zur Bestätigung der eigenen Meinung herangezogen«, meint Bosnjak. »Wenn die Evidenz konträr dazu geht, wird sie weggeschoben.« Auch in der Coronapandemie habe man dies erlebt.

Während der Hochphase von Covid-19 war Bosnjak für ein Jahr als Abteilungsleiter ans RKI abgeordnet und dort verantwortlich für das Gesundheitsmonitoring. Der Psychologe entwickelte maßgeblich jenes Konzept, das dem Institut endlich die Mittel für eine systematische Kohortenstudie bescherte. Und weil vieles nur mit guten Daten beginnen kann, freut er sich darüber, dass die Langzeituntersuchung mit Befragungen zur körperlichen und psychischen Gesundheit, zum Gesundheitsverhalten, zur Polio-Impfung bei Kindern und vielem mehr nun endlich gestartet ist. »Die Datengrundlage ist der erste Schritt. Aber es wäre nur begrenzt hilfreich, Daten ohne konkrete Vision zu erheben.«

Die vermisst der Ex-RKI-Mann ganz im Einklang mit Zeeb und dessen Team. »Es gibt zu viele Akteure, zu viel Ineffizienz und Doppelstrukturen«, meint er. Allein auf Bundesebene würden Gesundheits- und Forschungsminister ständig versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen und zudem zu kurzfristig denken, nämlich in Wahlperioden. Besser wäre es seiner Ansicht nach, alle Gesundheitsthemen im Gesundheitsministerium zu bündeln und die komplexen föderalen Strukturen für kreative Prozesse zu nutzen: »Man könnte gemeinsam mit allen Akteuren Visionen entwickeln«, sagt Bosnjak. Zum Beispiel ein konkretes Ziel für die Reduktion der Häufigkeit von Diabetes. Bei der Umsetzung müsse es dann aber eine zentrale Steuerung geben – am besten durch das politisch unabhängige Robert Koch-Institut.

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  • Quellen

Lean, M. E. J. et al.: Primary care-led weight management for remission of type 2 diabetes (DiRECT): An open-label, cluster-randomised trial. The Lancet 391, 2018

Rosenfeld R.M. et al.: Dietary interventions to treat type 2 diabetes in adults with a goal of remission: An expert consensus statement from the American College of Lifestyle Medicine. American Journal of Lifestyle Medicine 16, 2022

Von Philipsborn P. et al.: Environmental interventions to reduce the consumption of sugar‐sweetened beverages and their effects on health. Cochrane Database of Systematic Reviews 2019

The Global Cardiovascular Risk Consortium: Global effect of cardiovascular risk factors on lifetime estimates. The New England Journal of Medicine, 2025

Zeeb, H. et al.: Public health in Germany: structures, dynamics, and ways forward. The Lancet Public Health 10, 2025

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