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News: Gezackte Kurven und die Frage: 'Was ist eigentlich wichtig?'

Aachener Wissenschaftler stellen ein neues Forschungsgebiet vor, die 'Synergetische Physiologie'. Hier geht es vor allem um die Auswertung von Körperaktivitäten per Computer und das Entdecken der zugrundeliegenden Prinzipien. Anwendungsmöglichkeiten bieten sich zum Beispiel in der medizinischen Lehre und in der Sportmedizin.
"Eigentlich hat das Kind einen falschen Namen bekommen, die 'Chaosforschung' sollte vielmehr 'Ordnungsforschung' heißen", schmunzelt Professor Holger Schmid-Schönbein, Physiologe im Klinikum der Universität Aachen. Aus der Menge der gezackten Kurven eines EKGs wählt sein Rechner gezielt aus, was wichtig ist. "Keine Disziplin ist derart gewachsen wie das Computerwesen. Steil ansteigende Leistung bei fallenden Preisen, so etwas hat es noch nie gegeben." Und diese Leistung machen sich die Aachener Physiologen zunutze. Sie zeichnen Körperaktivitäten auf, filtern das Wichtige heraus und interpretieren es. "Auf diese Weise läßt sich deutlich feststellen, ob jemand einen gesunden Herzrhythmus besitzt oder krank ist", so der Universitätsprofessor.

Schmid-Schönbein hält eine solche Darstellung – etwa auf CD-ROM – in Zukunft in der Lehre für unerläßlich. Die Studierenden können sich zu Hause am Computer die Bilder und Töne zu Gemüte führen und entscheiden lernen, ob ein Patient gesund ist. Die Aachener Physiologen beschränken sich aber nicht nur auf das EKG, sondern fertigen oft gleichzeitig und über mehrere Stunden EEGs und Analysen der Atmungstätigkeit an. Und siehe da: Diese Faktoren reagieren aufeinander abgestimmt, adaptiv, wie der Physiologe sagt. Damit stürzen sie das Bild vom Chaos in der Medizin, und an dessen Stelle tritt die Adaptivität.

Die Physiologen machten eine Reihe von Versuchen. Etwa gaben sie den Probanden Begriffe vor, die diese wie beim Memory-Spiel aus einer vorhandenen Menge suchen mußten. Die Erkenntnis: Solange der Proband suchte, war seine Herzfrequenz deutlich erhöht. Fand er die richtige Darstellung, beruhigte sich auch die Herzfrequenz. Interessante Ergebnisse erzielte man zudem bei sprachgestörten Personen, denen man Nonsense-Worte als Begriffe nannte. Die Probanden erkannten nicht, daß es sich um sinnlose Worte handelte. Ihre Herzfrequenz blieb über eine längere Zeit deutlich erhöht. "Generell haben wir festgestellt, daß beim Kranken alle Systeme geordneter sind. Die Adaptivität ist gestört", erklärt Professor Schmid-Schönbein. Beispiel Herztransplantation: Dabei ist es nicht möglich, die Herznerven mitzutransplantieren. Die Anpassung des Herzens an veränderte Bedingungen funktioniert daher wesentlich langsamer als bei gesunden Menschen.

Neben der Anwendung in der Lehre ist die Anwendungsskala dieser "Synergetischen Physiologie" nach oben offen. Etwa die Sportmediziner können davon profitieren, bei denen es darum geht, die körperlichen Funktionen der Athleten zu überwachen. Die betreffenden Aufzeichnungsgeräte werden an Rechner angeschlossen, die mit ihrer Filterfunktion das Augenmerk des Arztes auf die interessanten Punkte lenken. Professor Schmid-Schönbein: "So kann ein einziger Arzt eine ganze Mannschaft überwachen."

Die "Synergetische Physiologie" beschäftigt sich aber nicht nur mit zeitlichen Abläufen. Auch bei der Lokalisation einer Fehlfunktion kann sie helfen. Um etwa kranke Gefäße sichtbar zu machen, ist es möglich, einen fluoreszierenden Farbstoff in die Vene zu spritzen, der mit speziellen Videokameras sichtbar gemacht werden kann. Wenn Mikroregionen nicht oder unzureichend durchblutet werden, ist dies an der langsamen Entfärbung der betreffenden Region erkennbar. Auf dem Computer können davon farbige Bilder entwickelt werden, die genau aufzeigen, wo der Farbstoff zu welchem Zeitpunkt aufgefunden wurde. Bei solchen Untersuchungen fallen Unmengen von Daten an, so daß es nicht verwundert, daß die Räume, in denen Professor Schmid-Schönbein und seine Mitarbeiter tätig sind, nur so von Rechnern gepflastert sind. Sie kooperieren eng mit Informatikern.

Psychische Reaktionen meßbar zu machen, ist ein weiteres Gebiet, auf dem die Aachener Physiologen arbeiten – natürlich ebenfalls im Sinne einer "Synergetischen Physiologie" mit Computerauswertung. Beispielsweise diagnostizieren sie ein bestimmtes zeitliches Muster in der Durchblutung der Haut als absoluten Entspannungszustand. Der Rechner kennt dieses Muster. Taucht es während der Messung der Durchblutung auf, meldet er dies. Die Methode ist leicht anwendbar und beeinflußt den Patienten kaum, so daß er sich ungehindert entspannen kann. Um den Entspannungszustand meßbar zu machen, tauschen sich die Physiologen mit indischen Yogaforschern aus und kooperieren mit Psychosomatikern des Universitätsklinikums.

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