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Umweltchemie: Gift aus dem Eis

Das "dreckige Dutzend" der Chemie hat im ewigen Eis der Pole und Gebirgsgletscher sein Produktionsverbot überdauert. Nun setzt die Erderwärmung es wieder frei – und DDT und Co kehren in die Nahrungskette zurück.
Zeppelin-Observatorium, Svalbard
Mehr als 40 Jahre lang versprühten Bauern, Forstwirte und Seuchenbekämpfer raue Mengen DDT, um Schwarmspinner, Borkenkäfer oder Malariamücken in Schach zu halten: Mehr als 1,8 Millionen Tonnen des Insektengifts landeten weltweit auf Äckern, Wäldern und Sümpfen – und einiges davon auch in der Nahrungskette, wo sich das Dichlordiphenyltrichlorethan verhängnisvoll anreicherte. Es gelangte in die Muttermilch und führte bei vielen Vogelarten zu drastischen Bestandseinbrüchen, weshalb das Mittel ab 1970 nach und nach in immer mehr Staaten verboten wurde. Heute beschränkt sich sein Gebrauch auf eine überschaubare Menge in 15 Ländern, wo es Krankheitsüberträger zurückdrängen soll – ansonsten steht DDT auf dem Index der Stockholmer Konvention: Zusammen mit elf weiteren langlebigen chlororganischen Verbindungen, den POP (persistent organic pollutants) wurde das Pestizid 2004 endgültig verboten.

Doch mit dem Bann der dreckiges Dutzend genannten Chemikalien verschwanden die Stoffe noch lange nicht aus der Umwelt – im Gegenteil: Nach Jahren des Rückgangs messen Forscher nun wieder steigende Konzentrationen verschiedener POP in der Umwelt, darunter auch von DDT. "Die Rückstände von POP im Sediment des Oberaarsees in der Schweiz sind seit Mitte 1990er Jahren deutlich angestiegen. Und das gleiche Phänomen haben wir im Steinsee beobachtet", sagt zum Beispiel Christian Bogdal von der ETH Zürich. Der kanadische Forscher Jianmin Ma von der Behörde Environment Canada in Toronto bestätigt diesen Trend für das Nordpolarmeer: "Der Arktische Ozean hat sich von einer Senke zu einer Quelle für bestimmte chlororganische Schadstoffe entwickelt. Diese Chemikalien zirkulieren nun erneut frei durch die Arktis und könnten auch wieder in niedrigere Breiten gelangen." Ähnliche Beobachtungen machten Wissenschaftler zudem im Pazifik und auf der Antarktischen Halbinsel.

Von der Senke zur Quelle

All diese Gebiete galten bislang als Senken für DDT und Co: Wind und Wasser hatten sie von ihren Einsatzgebieten in Europa, Ostasien oder Nordamerika herangetragen und auf dem Meer- und Gletschereis der Polarregionen und Gebirge abgelagert. Dort überdauerten sie die folgenden Jahrzehnte nahezu unverändert, erklärt Ma: "Die niedrigen Temperaturen und der Mangel an Sonnenlicht verhinderten weit gehend, dass sich die Verbindungen um- oder sogar abbauten." Stattdessen konzentrierten sie sich im Eis, während in vielen anderen Weltregionen ihre Bedeutung langsam abnahm.

Zeppelin-Station, Spitzbergen | Weit von der Zivilisation entfernt – und trotzdem belastet: Eigentlich könnte die Luft über Spitzbergen so sauber wie in einem Reinluftraum sein, doch Waldbrände und Gletscherschmelze sorgen dafür, dass hier PCB und andere flüchtige Chemikalien in steigenden Konzentrationen nachgewiesen werden können.
Nun kehrt sich der Trend allerdings um, und aus den Senken werden Quellen. "Die Erwärmung der Arktis hat die erneute Freisetzung der POP angestoßen", verweist der kanadische Wissenschaftler auf den Schuldigen. Zusammen mit seinen Kollegen hat er langzeitige Messreihen von der Zeppelin-Forschungsbasis auf Spitzbergen und der Alert Station in der kanadischen Arktis ausgewertet, deren Sprache eindeutig ist [1]: Seit den 1990er Jahren zeigen die atmosphärischen POP-Konzentrationen in der Region wieder einen Aufwärtstrend – parallel zu den steigenden Durchschnittstemperaturen vor Ort. Denn der Klimawandel trifft die Arktis wie kaum eine andere Region der Erde, weshalb sich hier das Eis besonders stark zurückzieht: Seit Beginn der satellitengestützten Aufzeichnungen 1979 schrumpfte die durchschnittliche Ausdehnung des Meereises um mehr als ein Drittel, gleichzeitig wurde es vielerorts um die Hälfte dünner. Und an Land ziehen sich die Gletscher zurück; Grönlands Eisschild verliert mittlerweile jährlich mehr als 100 Gigatonnen an Masse.

Ähnlich geht es den Alpengletschern: Mehr als 90 Prozent der Eiszungen des Gebirges schwinden – und geben dabei Schadstoffe ab, wie Christian Bogdal festgestellt hat [2]. Der Schweizer Forscher untersuchte mit seinen Kollegen Bohrkerne aus verschiedenen Gewässern wie dem Oberaarsee, in denen die Sedimente in Jahreslagen abgelagert wurden und so eine eindeutige zeitliche Zuordnung zulassen. "Wir konnten anhand der Schichten bestätigen, dass von 1960 bis 1970 in großem Stil POP produziert wurden und sich im Bergsee ablagerten", so der Chemiker.

Ins Meer und in die Luft

Danach nahm ihre Menge ab, weil die Substanzen in der Schweiz und den Nachbarländern zunehmend verboten wurden. Ab etwa 1990 änderte sich das Bild jedoch wieder: "Die Menge an chlorhaltigen Chemikalien liegt ab Ende der 1990er Jahre zum Teil sogar höher als in den 1960ern und 1970ern." Als Quelle kommt vor allem der Oberaargletscher in Frage, der allein seit der Jahrtausendwende um 120 Meter kürzer wurde: "Wir konnten den Anstieg auf die Freisetzung von diesen POP aus dem Oberaargletscher zurückführen. Sein Schmelzwasser fliesst direkt in den gleichnamigen See." Im benachbarten Engstlensee, in dessen Einzugsbereich kein Gletscher liegt, veränderten sich die Schadstoffkonzentrationen dagegen nicht nach oben.

Gletscherschmelze | Auch der Gletscher, der den Steinsee in der Schweiz speist, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgezogen. Durch die Schmelze wurden DDT und andere Schadstoffe freigesetzt, die in den Seesedimenten nachgewiesen werden konnten.
Durch die Aufheizung gelangen die Schadstoffe jedoch nicht nur zurück ins Meer oder in Seen, sie verflüchtigen sich auch in die Atmosphäre. Entsprechend beobachtete Mas Team einen Anstieg von Hexachlorcyclohexan – Wirkstoff des berüchtigten Insektizids Lindan – in der Luft über der Hudson Bay und der Beaufort-See oder von PCB (polychlorierte Biphenyle, lange gängige Weichmacher und Hydraulikflüssigkeiten) über Spitzbergen. "Die POP werden nun wieder mit Luft- und Meeresströmungen verteilt. Der atmosphärische Transport geht allerdings schneller und führt dazu, dass sie sich großflächig verteilen", meint Rainer Lohmann von der University of Rhode Island in Narragansett, der die erneute Mobilisierung verschiedener Umweltgifte im Pazifik untersucht [3].

In welchem Ausmaß dies geschieht, können die Wissenschaftler allerdings noch nicht sagen. "Unsere bisherigen Studien erlauben uns keine fundierte Aussage über die insgesamt freigesetzten Mengen. Die von uns nachgewiesenen Konzentrationen in Gletscherseesedimenten sind sehr gering und stellen deshalb eine analytische Herausforderung dar", erklärt Christian Bogdal. Seine US-amerikanische Kollegin Heidi Geisz of the Virginia Institute of Marine Science in Gloucester Point wagt immerhin eine Schätzung für Teile der Westantarktis im Umfeld verschiedener Brutkolonien von Adeliepinguinen (Pygoscelis adeliae): Mindestens 2 bis 4 Kilogramm altes DDT sickern hier mittlerweile jedes Jahr wieder mit der Gletscherschmelze in die Umwelt [4].

Was sich im ersten Moment nach verschwindend geringen Mengen anhört, entfaltet seine Wirkung durch eine besonders nachteilige Eigenschaft der Chemikalien. "Ganz allgemein tendieren POP dazu, sich in organischen und fetthaltigen Medien anzureichern", sagt Bogdal. Und seine Kollege Lohmann ergänzt: "Die remobilisierten POP können sich nun wieder in der Nahrungskette ansammeln und größere Konzentrationen erreichen." Und das hat Folgen für die Umwelt, denn die DDT und Konsorten wirken im Körper wie künstliche Hormone und können dadurch die Fortpflanzung von Tieren durcheinanderbringen – vor allem von Arten, die am oberen Ende der Nahrungskette stehen.

Eisbären als Opfer?

"Es gibt einige Hinweise darauf, dass Eisbären bereits von der Anreicherung der Schadstoffe negativ betroffen sind", so Lohmann. Die Topraubtiere des Nordens leiden zum Beispiel immer noch verbreitet unter Knochenerweichung, Immunschwäche und Nachwuchssorgen, weil PCB oder Chlordan – ein weiteres Insektizid – in ihrem Körper die Knochendichte herabsetzen und den Hormonhaushalt stören. Allerdings stammt nur ein Teil der Gifte aus dem Eis: Wald- und Buschbrände in Russland oder Kanada setzen immer wieder im Boden gespeicherte PCB frei und verfrachten sie über den Wind in die Arktis. Spitzbergens Eisbären tragen deshalb die Bürde, dass sie unter allen Landtieren weltweit die höchste bislang gemessenen Belastungen an PCB aufweisen.

Gefährdeter Topräuber | Viele Eisbären sind auch heute noch – oder schon wieder – mit toxischen Chemikalien belastet, die ihre Fortpflanzung beeinträchtigen. Da sie an der Spitze der Nahrungskette stehen, reichern sich die Gifte in ihrem Fettgewebe besonders stark an.
Besser sieht es dagegen noch bei den von Heidi Geisz untersuchten Adeliepinguine aus: Plankton nimmt zwar das ins Meer geschwemmte DDT auf und wird dann vom Krill gefressen, der wiederum zahlreichen anderen Meeressäugern und Seevögeln wie den Pinguinen als Hauptnahrung dient. Die DDT-Belastung der Vögel liegt wegen dieser Zufuhr weiterhin so hoch wie in den 1970er Jahren, als das Pestizid seinen Verbrauchshöhepunkt erlebte. Doch insgesamt reichen die Mengen bislang nicht aus, um den Tieren zu schaden – zumindest konnte die Wissenschaftlerin keine Belege dafür entdecken.

Derek Muir von Environment Canada glaubt auch nicht daran, dass die nun wieder frei werdenden POP auf Dauer ein Problem werden – auch nicht in der Arktis, wo das Eis wegen der Nähe zu Großverbrauchern deutlich mehr DDT und andere Substanzen im Laufe der Zeit gespeichert hat als sein antarktisches Pendant: "Die DDT-Konzentration in Robben und Seevögeln in der kanadischen Arktis oder in Eisbären aus Ostgrönland nimmt ab. Das legt nahe, dass die neuerlich freigesetzten POP kaum eine Wirkung haben dürften."

Seine Kollege Jianmin Ma ist diesbezüglich allerdings etwas weniger optimistisch: "Wenn sich die Erwärmung der Arktis fortsetzt, ist die Remobilisierung der POP unausweichlich. Die Region wird dann sehr wahrscheinlich zu einer sekundären Quelle für toxische Chemikalien." Zumal es noch dauern werde, bis die Stoffe zerfallen, erklärt Lohmann: "Sie begleiten uns in der Umwelt seit Jahrzehnten. Und bestenfalls dauert es nur ein paar Jahrzehnte mehr, bis wir sie los sind." Man könne deshalb kaum etwas dagegen tun, dass sie wieder freigesetzt werden – außer die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, um die Erderwärmung zu verlangsamen. Deshalb sollte die Menschheit an anderer Stelle ansetzen, so der Wissenschaftler: "Wir müssen dafür sorgen, dass wir nicht immer neue Substanzen entwickeln, die ähnlich aufgebaut sind und wirken wie die POP. Doch davon werden jährlich hunderte bis tausende neu freigesetzt. Das macht mir Sorgen."

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  • Quellen
[1] Ma, J. et al.: Revolatilization of persistent organic pollutants in the Arctic induced by climate change. In: Nature Climate Change 10.1038/NCLIMATE1167, 2011.
[2] Bogdal, C. et al.: Blast from the Past: Melting Glaciers as a Relevant Source for Persistent Organic Pollutants. In: Environmental Science and Technology 43, S. 8173–8177, 2009.
[3] Zhang, L., Lohmann, R.: Cycling of PCBs and HCB in the Surface Ocean-Lower Atmosphere of the Open Pacific. Environmental Science and Technology 44, S. 3832–3838, 2010
[4] Geisz, H. et al.: Melting Glaciers: A Probable Source of DDT to the Antarctic Marine Ecosystem. In: Environmental Science and Technology 42, S. 3958–3962, 2008

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