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Verhalten: Globalisierung von Geben und Nehmen

Zum Menschsein gehört, anderen wenn nötig zu helfen - auch wenn dies nur unter eigenen Mühen möglich ist. Dabei bleibt unklar, wie dieser Altruismus im Laufe der Evolution überhaupt entstanden sein könnte. Weil es uns allen gut tut? Weil es uns allen sonst schlecht geht? Oder finden sich überall auf der Erde andere Gründe?
Politisch ganz schön unkorrekt, was Joseph Henrich da so herausgefunden haben will. Jedenfalls, wenn es in der üblichen Kürze knackig zusammengefasst präsentiert wird. Zum Beispiel so: Die Hadza-Nomaden aus den Savannen Tansanias gönnen ihrem Mitmenschen nicht mal das Schwarze unterm Fingernagel – sobald eine milde Gabe an diesen auf eigene Kosten ginge. Hadza-Menschen sind also hartherzige Egoisten?

Ganz anders dagegen die sesshaften Sanquianga-Fischer aus den Mangrovenwäldern Kolumbiens, berichtet Henrich: Sie geben fast die Hälfte eines unverhofft erhaltenen Besitzes gern auch einem fremden Gegenüber – mal weniger, aber oft auch noch mehr. Also sind Sanquiangas gerechte und altruistische Gutmenschen?

Henrich, er arbeitet als Anthropologe an der Emory-Universität in Missouri, ging aus guten Gründen das Wagnis ein, ein wenig in die falsche Ecke gestellt zu werden. Der beste dieser Gründe: Bei der überwältigenden Mehrheit aller Untersuchungen zum Sozial- und Kooperationsverhalten der Menschheit werden Mitglieder einer ganz speziellen Personengruppe als Versuchskaninchen rekrutiert. Nicht an Sanquiangas oder Hadza, sondern an der Ethnie "Student in einer Industriegesellschaft" bestimmen die Forschereliten in Amerika und Europa, wie sich die Menschheit in bestimmten Konfliktsituationen und im sozialen Umfeld verhält.

Die Menschheit – also eigentlich die Masse an leicht verfügbaren studentischen Probanden – zeigt zum Beispiel in bestimmten Situationen nicht selten die freundliche Bereitschaft, anderen Menschen Gutes zu tun, auch wenn es auf eigene Kosten geschieht: Sie ist altruistisch. Damit bereitet sie manchen Evolutions- und Verhaltensforschern schon lange Kopfzerbrechen, denn in einer Welt, in der Egoisten und Ellbogen reüssieren, sollte derartiges Verhalten längst ausgestorben sein. Außer natürlich, es bringt die Gemeinschaft insgesamt nach vorne. Trotzdem schadet auch dann der heldenhafte Einsatz für die abstrakte Gemeinschaft dem konkreten Einzelnen – sollte der nicht lieber ganz schnell zum pragmatischen Trittbrettfahrer werden? Was aber, wenn die Gesellschaft das merkt und ihn straft? Willkommen im Gefangenendilemma.

Dieses Dilemma steht im Zentrum der Spieltheorie. Überprüft wird sie schon lang und ausgiebig in Versuchen, in denen meist zwei anonyme, nicht miteinander kommunizierende Partner mitgehangen, mitgefangen ins selbe Boot gesetzt werden. Dann bekommt der erste zum Beispiel einen symbolischen oder ganz realen Geldbetrag, von dem er einen selbst zu bestimmenden Teil weitergeben muss. Der andere darf aber vorher sagen, ob er den erhaltenen Betrag als fair geteilt annimmt – oder nicht, woraufhin dann beide alles verlieren. Sind beide Spieler gnadenlose Egoisten, wird Spieler Zwei immer alles annehmen. Bekommt Spieler Eins das aber mit, so wird er immer nur den minimalsten Betrag weiterreichen. Registriert dies wieder Nummer Zwo, so bekommt er einen verführerischen Anreiz zu bestrafen: Irgendwann dürfte er zu schmerzhaften Sanktionen greifen und per General-Veto auch Nummer Eins alles wegnehmen.

Klar wird bei solchen Versuchen zum ersten, dass altruistisches Verhalten weit verbreitet ist. Warum dies so ist, darüber gehen die Meinungen aber weit auseinander – die einen meinen, das gegenseitiges Helfen die Wahrscheinlichkeit erhöht, selber einmal Hilfe zu erhalten: Tu Du mir gut, dann helf' ich auch Dir. Die andere Wissenschaftlergruppe glaubt eher daran, dass ohne die Komponente "Bestrafung von Abweichlern" altruistisches Verhalten längst ausgestorben wäre: Hilf mir gefälligst, sonst werd' ich dir helfen, aber hallo! Letzterer Meinungsfraktion gehört auch Henrich an – und noch mehr nach seinen neuen Untersuchungen.

Diese haben ihn in alle Welt geführt – zu den schon erwähnten Hadzda und Sanquiangas, aber auch zu nicht studentischen Bewohnern des ländlichen Missouri, Waldbauern in Papua-Neuguinea, Jägern der sibirischen Tundra, dem urbanen Proletariat der ghanaischen Hauptstadt Accra und zu acht weiteren Gesellschaften unterschiedlichster Lebensgestaltung und Herkunft. Jeweils rund 15 bis 30 Pärchen von Freiwilligen unterzogen sich unter anderem dem oben beschriebenen Tauschexperiment und ähnlichen Untersuchungen ihres Kooperationsverhaltens. Die materialistische Belohnung wurde übrigens stets qualitativ und quantitativ bestmöglich an die lokalen Besonderheiten angepasst.

Nach allerlei statistischen Analysen des langwierig gewonnenen Datenmaterials glaubt Henrichs nun ein paar wenige global geltende Trends herausschälen zu können. Zum ersten ist Bestrafung, auch zum eigenen Schaden, in allen Gemeinschaften mehr oder weniger stark verbreitet – und Unfairness generell verpönt. Wobei einige Gruppen übrigens auch "Ultrafairness" der Spender in den Experimenten sanktionierten: Nicht nur die Sursurungas aus Papua-Neuguinea etwa straften fast genauso gerne Geber, die mehr als die Hälfte ihrer Habe weitergaben, wie jene, die alles für sich behielten.

Besonders interessierten sich die Anthropologen aber dafür, ob die Tendenzen zu Bestrafung und Selbstlosigkeit innerhalb der einzelnen ethnisch unterschiedlichen Versuchsgruppen irgendwie korrelierten. Und dies, so errechnet der Forscher, ist offensichtlich der Fall: Wo Bestrafung generell seltener an der Tagesordnung ist, zeigen sich die Menschen auch generell weniger selbstlos.

"Man wird kooperativer, wenn man in einer Gesellschaft mit Bestrafern aufwächst"
(Joseph Henrich)
Was dann zum Beispiel die oben angeprangerten, angeblich so hartherzig-selbstsüchtigen Hadza-Nomaden auch wieder in ein positiveres Licht rückt: Sie geben zwar tatsächlich selten, strafen aber eben auch andere sehr selten ab. Die Sanquianga-Gutmenschen dagegen geben zwar wie wild – sanktionieren dafür aber häufig und mit Begeisterung zu hohe oder zu niedrige Spenden edler oder geiziger Geber. Andere untersuchte Ethnien gruppieren sich im Mittelfeld, stützen aber den generellen Trend.

Dass Gesellschaften, in denen mehr gestraft wird, insgesamt auch altruistischer sind, spiegelt die Evolution der Selbstlosigkeit insgesamt wider, meinen die Forscher: Sie muss entstanden sein und sich durchgesetzt haben, weil die Gesellschaft sich selbst kontrollierte und asoziale Abweichler mit möglichen Sanktionen bedrohte – auch wenn dies anfänglich kostspielig erscheint. "Man wird kooperativer, wenn man in einer Gesellschaft mit Bestrafern aufwächst", so Henrichs. Nur so haben sich im Laufe der Zeit dann altruistische Psychologien durchsetzten können.

Andere Wissenschaftler, etwa John Tooby von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, sind noch nicht überzeugt. Tooby gibt zu bedenken, dass Experimente mit zwei anonymen Partnern ohne direkten Kontakt kaum die Situation simulieren könne, die während langer Zeiträume der Evolution des Menschen und seines Sozialverhaltens herrschten: "Die Möglichkeit zu anonymen Strafsanktionen gab es in den kleinen, untereinander wohl vertrauten Gruppen früher Menschen sicherlich nie", so Tooby – ein Einfluss auf die Evolution des Verhaltens erscheint ihm unwahrscheinlich. Sein Lob findet dagegen die Anstrengung Henrichs, das Verhalten kulturell unterschiedlicher Gruppen sorgfältig und systematisch zu erfassen.

Neben viel Diskussionstoff liefern die Daten übrigens auch Beruhigendes: Im Vergleich zu allen unterschiedlichen unter die Lupe genommenen Ethnien verhielten sich die studentischen Versuchskandidaten von Henrichs Universität durchaus typisch – sie liegen tatsächlich sogar ziemlich im Mittelfeld der Verhaltensbandbreite bei Altruismus und Bestrafung. Also Entwarnung: Immerhin müssen die meisten bisherigen Untersuchungen zum Thema nicht in den Papierkorb.

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