Glymphatisches System : Umstrittene Spülmaschine im Gehirn

Maiken Nedergaard bemüht gern das Bild einer Spülmaschine, wenn sie über die große Entdeckung ihres Lebens spricht. Sobald wir schlafen, schaltet diese sich ein und spült all den »Dreck« aus dem Gehirn, der sich dort im Lauf des Tages angesammelt hat. Die dänische Hirnforscherin prägte dafür den Begriff »glymphatisches System«, in Anlehnung an das Lymphsystem, das im Rest des Körpers unter anderem für den Transport von zellulären Abfallstoffen zuständig ist. Heute, 13 Jahre später, ist das Interesse an ihrer Entdeckung weiterhin immens. Das liegt auch daran, dass der »Dreck« unter anderem aus Beta-Amyloid und dem Tau-Protein besteht. Diese Moleküle bilden bei verschiedenen Formen der Demenz schädliche Ablagerungen im Gehirn. Ist also ein Heilmittel für Alzheimer in Sicht?
Möglich scheint das. Arbeitsgruppen weltweit forschen mit Hochdruck daran, die Spülmaschine unseres Gehirns besser zu verstehen. Die vergangenen Jahre haben hier wichtige Fortschritte gebracht, zugleich sind viele Aspekte aber noch umstritten. Manchen Fachleuten erscheint das Konzept fast zu schön, um wahr zu sein.
Eine spektakuläre Entdeckung
Worum geht es dabei genau? Das Spülmittel des glymphatisches Systems ist die Zerebrospinalflüssigkeit, auch Liquor genannt. In ihr schwimmt das Denkorgan in der Schädelhöhle, und sie füllt seine vier Hohlräume (Ventrikel). Zusätzlich strömt Liquor durch ein verzweigtes Tunnelsystem im Gehirn. Das zeigte Nedergaards Team an der University of Rochester in den USA erstmals 2012. Dafür spritzten die Fachleute einen fluoreszierenden Stoff in die Hirnflüssigkeit von Mäusen und beobachteten, was damit passierte.
Die auch als Tracer bezeichnete Substanz gelangte zunächst in den perivaskulären Raum (siehe »Neuronale Entsorgungswirtschaft«). Hierbei handelt es sich um eine flüssigkeitsgefüllte Aussparung rund um die Blutgefäße im Gehirn, also die Arterien und Venen. Dann wanderte er durch das Hirngewebe selbst – und wurde schließlich wieder über die perivaskulären Tunnel abtransportiert. Die Außenwand des Tunnelsystems bilden die Endfüßchen von Astrozyten. Diese enthalten wasserdurchlässige Poren aus Aquaporin-Proteinen, die dem Liquor helfen, ins Gehirn einzudringen beziehungsweise hinauszugelangen. Die Fachleute beobachteten, dass bei genetisch veränderten Mäusen, denen die Wasserkanälchen fehlten, schädliche Moleküle viel langsamer aus dem Hirn verschwanden.
Dieser Befund begeisterte Maiken Nedergaard besonders. »Viele Forscher vergessen, dass das Gehirn kein Computer ist«, sagte sie Ende 2024 in einem Interview. »Es ist ein komplexes Gewebe, das eine Menge Hausarbeit benötigt.« Dafür sind vor allem die Gliazellen zuständig, zu denen auch die Astrozyten gehören. Ihre Zahl übersteigt die der Neurone im Gehirn – dennoch stehen sie meist nicht im Fokus der Hirnforschung.
2013, ein Jahr nach der Entdeckung, zeigte Nedergaards Team, dass die Hirnwäsche vor allem im Schlaf abläuft. Das war eine Sensation. Womöglich hatten die Fachleute damit herausgefunden, warum Menschen und Tiere schlafen müssen. Die Neurobiologin wird nicht müde, die »Schönheit« des glymphatischen Systems zu betonen. Es sei effizient, es erklärt vieles, was bislang keinen Sinn ergab. Alles scheint perfekt zu passen. Oder etwa doch nicht?
Zweifel keimen auf
Erik Bakker ist Spezialist für Blutgefäße an der Universitätsklinik Amsterdam und forscht seit zehn Jahren am glymphatischen System. Die Idee dahinter sei zunächst »äußerst attraktiv« sagt er. »Aber wenn man auf die Details schaut, wie wir es tun, tun sich einige Fragen auf.« Zum Beispiel: Was bewegt den Liquor durch das Hirngewebe? Und wie gelangen Abfallmoleküle in die Tunnel um Venen, wenn Aquaporine nur für Wasser durchlässig sind?
Niemand bestreite heute noch, dass das System existiert, meint Bakker. »Wenn wir einer Maus einen Tracer ins Gehirn injizieren, reist er innerhalb von Minuten durch die Hirnflüssigkeit, das Lymphsystem, das Blut, die Nieren und endet schließlich in der Blase«, sagt er. Aber ob das wirklich der wichtigste Mechanismus zur Reinigung des Hirns ist? Da ist er nicht so sicher. »Ein großer Teil der Säuberung erfolgt direkt aus dem Hirngewebe ins Blut«, sagt Bakker. Dafür gibt es spezialisierte Transporter – zum Beispiel für Beta-Amyloid –, die die Blut-Hirn-Schranke durchdringen können.
Wie das System frischen von dreckigem Liquor trennt, ist ebenfalls noch ungeklärt. Nedergaards Forschung legen nahe, dass dafür eine dünne Membran zuständig ist, die den Raum um das Gehirn zweiteilt. Auch hier ist Bakker skeptisch. Er deutet auf eine anatomische Zeichnung des glymphatischen Systems auf seinem Rechner. »Wir sehen nichts, was die Flüssigkeiten eindeutig voneinander trennt«, sagt er.
Anruf bei Maiken Nedergaard während ihres Skiurlaubs in Vermont. »Heute habe ich schon mit zwei Reportern gesprochen«, beginnt sie das Gespräch. Von Zweifeln, wie Bakker sie anbringt, lässt die Dänin sich kaum aus der Ruhe bringen.
»Bei einer Spülmaschine muss sauberes Wasser rein- und Abwasser rausfließen«, sagt sie. »Das System muss so designt sein.« Dass andere Arbeitsgruppen keine trennende Membran finden, erklärt Nedergaard mit dem Gebrauch anderer Methoden. Die Membran könne man nur in lebenden Tieren sehen.
Andere Methoden, andere Ergebnisse
Hier zeigt sich ein generelles Problem. Nedergaard leitet zwei Arbeitsgruppen auf zwei Kontinenten, eine an der Universität Kopenhagen und eine in Rochester (New York). Beide haben Zugang zur modernsten Technik der Neurowissenschaft. So können sich die Forscherinnen und Forscher etwa in dreidimensionalen Videos anschauen, was im Kopf von Versuchstieren passiert, während diese sich frei bewegen. Dazu implantieren sie Miniaturmikroskope oder optische Fasern ins Gehirn von genetisch manipulierten Mäusen.
Die meisten anderen Labore arbeiten mit älteren – und günstigeren – Methoden. Die Fachleute spritzen beispielsweise Tracer ins Denkorgan von Nagetieren und schauen sich über ein Fenster in deren Schädel an, was passiert. Oder aber sie töten die Tiere, schneiden sie in dünne Scheiben, und beobachten, wohin die fluoreszierenden Substanzen gelangen. Damit lassen sich viele von Nedergaards Ergebnissen nicht replizieren. Den Arbeitsgruppen fehlt schlicht die Technologie.
Ein weiteres Beispiel dafür ist Nedergaards Befund, dass Neurone im Schlaf schrumpfen. Das führe dazu, dass der extrazelluläre Raum, also die Zwischenräume zwischen den Nervenzellen wächst. Das wiederum erleichtere es dem Liquor, ins Hirngewebe einzudringen.
»Das Gehirn ist ein komplexes Gewebe, das eine Menge Hausarbeit benötigt«Maiken Nedergaard, Neurobiologin
Was die Dänin sehr wohl aus der Ruhe zu bringen scheint, ist eine Studie von Expertinnen und Experten des Imperial College London unter der Leitung von Nicholas Frank, die 2024 im renommierten Journal »Nature Neuroscience« erschienen ist. Die kommt zu dem Schluss, dass das Gehirn im Wachzustand stärker gesäubert wird als im Schlaf – was also Nedergaards Befunden widerspricht. Die Briten injizierten einen Tracer direkt ins Gehirn von Mäusen. Dann maßen sie, wie viel davon an einer anderen Stelle des Denkorgans ankam. Wenn die Spülmaschine effektiv läuft, so die Logik, sollte die Substanz schnell abtransportiert werden und nur wenig davon in andere Teile des Gewebes diffundieren.
»Ich bin wirklich schockiert, dass diese Arbeit veröffentlicht wurde«, kommentierte Maiken Nedergaard gegenüber »Science«. Womöglich sei das Gehirn bei der Prozedur beschädigt worden. Vor allem aber hält sie die Logik der Studie für falsch: Die Säuberung des Hirns sei als Abtransport von Molekülen aus einer Hirnregion definiert. Wie stark sich ein Tracer quer durch das Hirn verteilt, sei ein komplett anderes und »fundamental falsches« Maß dafür, schreibt Nedergaard in einer Antwort im Fachjournal »Nature Neuroscience«.
Erik Bakker ist zögerlicher. Die Ergebnisse der Briten »sehen überzeugend aus«, sagt er. Sicher sein könne man sich aber nicht, der Widerspruch liege vermutlich »in den Details der Methodik« begründet. Denn das glymphatische System basiere auf minimalen Druckunterschieden und sei extrem sensibel. »Wenn man da irgendwo eine Nadel falsch hineinsteckt, kann man es leicht versauen«, so Bakker.
Neurone beteiligen sich an der Hausarbeit
Neben diesen Ungereimtheiten gibt es aber auch große Fortschritte. Sie betreffen vor allem die Frage: Was treibt die Spülmaschine an? Ein pumpendes Herz wie beim Blutkreislauf sucht man hier vergebens. Es scheint unterschiedliche Mechanismen zu geben, die den Liquor vom vierten Ventrikel in das Tunnelsystem, von dort ins Gehirngewebe und schließlich wieder hinausbefördern. Einer davon ist offenbar die neuronale Aktivität im Schlaf – und das ist höchst bemerkenswert. Im Schlaf feuern viele Nervenzellen synchron. Die entstehenden Hirnwellen haben niedrige Frequenzen von 0,5 bis 8 Hertz. Diese langsamen Schwingungen sind ein Mysterium der Schlafforschung. Niemand konnte bislang überzeugend erklären, wozu sie da sind. Doch das ändert sich gerade.
Den ersten Durchbruch schaffte 2019 eine Gruppe um Laura Lewis an der Boston University. Lewis arbeitet – ungewöhnlich für das Feld – nicht mit Versuchstieren, sondern mit Menschen. Die Forschenden ließen die Probanden im Hirnscanner schlafen. Währenddessen maßen sie gleichzeitig mittels Elektroenzephalografie (EEG) und funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) deren Hirnaktivität und ermittelten mit Letzterer ebenfalls, wie viel Liquor vom vierten Ventrikel ins Gehirn floss.
»Wenn man auf die Details schaut, tun sich einige Fragen auf«Erik Bakker, Gefäßspezialist
Mit Hilfe dieser Kombination an Methoden zeigten sie: Wenn die Versuchsteilnehmenden im Tiefschlaf waren, dann drang ungefähr alle 20 Sekunden abwechselnd ein Schwall Blut und dann ein Schwall Liquor in ihr Gehirn. Der Rhythmus war an die langsamen Hirnwellen gekoppelt, die mal stärker und mal schwächer sind. »Jede neuronale Aktivität führt zu Veränderungen des Blutvolumens«, interpretiert Nedergaard die zeitliche Korrelation. Feuern viele Neurone zugleich, entsteht ein höherer Energiebedarf, so dass mehr Blut ins Gehirn strömt. Nimmt der Blutfluss wieder ab, dringt stattdessen Liquor ein.
Eine Folgestudie von Lewis' Gruppe bestätigte diesen Mechanismus. Hier lagen die Freiwilligen wach im MRT-Scanner und sahen im Wechsel ein flackerndes Schachbrett und einen leeren Bildschirm. Flackernde visuelle Reize führen dazu, dass Neurone in der Sehrinde in derselben Frequenz feuern. Die so künstlich erzeugten Hirnwellen sorgten dafür, dass jeweils ein Schwall Hirnflüssigkeit ins Gewebe eindrang, wenn die Versuchsteilnehmer den leeren Bildschirm sahen. Nächtliche langsame Oszillationen scheinen also Liquor ins Gehirn zu pumpen. Dieser Befund ist revolutionär. Er deutet darauf hin, dass Nervenzellen nicht nur Informationen prozessieren, sondern sich auch an der Instandhaltung beteiligen.
Die Pumpen der Spülmaschine
Was mit der Hirnflüssigkeit tief im Gewebe passiert, lässt sich mit nicht invasiven Methoden nicht feststellen. Hier gibt eine Studie von Nedergaards Labor Aufschluss, die Anfang 2025 erschien und eine ganze Palette modernster Technologien vereint. Damit gelang es dem Team, die Dynamik der zerebralen Blutströme und des Liquors bei sich frei bewegenden Mäusen zu verfolgen – und zwar während des Wachzustands, im Tief- und REM-Schlaf.
Es zeigte sich, dass der Hirnstamm im Schlaf rhythmisch Noradrenalin ausschüttet. Da Noradrenalin die Blutgefäße verengt, ziehen Letztere sich im gleichen Rhythmus zusammen und dehnen sich wieder aus. Das presst die Hirnflüssigkeit aus den Tunneln um die Arterien ins Hirngewebe. Dieser Effekt prägte sich im Tiefschlaf besonders stark aus. Noradrenalinschwankungen sind demnach die zweite Pumpe der Spülmaschine.
Und was bewegt den Liquor durch das Hirngewebe? Die Frage ist noch lange nicht beantwortet und beschäftigt unter anderen Jonathan Kipnis an der Washington University in Missouri. Wie Lewis und Nedergaard leitet er eine der weltweit führenden Gruppen des Forschungsfelds.
»Das Hirngewebe ist sehr dicht«, sagt der Neurologe. »Damit Moleküle sich dort hindurchbewegen, braucht es eine Kraft, die sie antreibt.« Laut einer Arbeit seines Teams von 2024 ist hierfür ebenfalls die Aktivität von Nervenzellen zentral. Durch optogenetische Stimulation von Nervenzellen erzeugten die Experten neuronale Oszillationen im Denkorgan von betäubten Mäusen. Hierbei entstehen Wellen geladener Teilchen im extrazellulären Raum des Gehirns, die den Liquor offenbar durch das Gewebe treiben. Spätestens hier wird es unübersichtlich. »Gehirnwäsche ist kein simpler Prozess«, sagt Kipnis und lacht. »All diese Mechanismen müssen zusammenarbeiten.« Wie genau sie das tun, muss künftige Forschung noch zeigen.
Hirnwäsche und Demenz
Wie hängt all das nun mit Demenz zusammen? Viele Menschen schlafen mit zunehmendem Alter schlechter. Wer schlecht schläft, baut kognitiv schneller ab und hat ein größeres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Bei der Alzheimerdemenz sammelt sich Beta-Amyloid im Gehirn an. Dieses wird im Schlaf effektiver aus dem Denkorgan herausgeschafft als im Wachzustand. Dementsprechend führt eine schlaflose Nacht zu einer Anhäufung des schädlichen Proteins.
Zusammengenommen legen die diversen Puzzlestücke nahe: Die nächtliche Hirnwäsche wird im Lauf des Lebens ineffektiver, und das kann zu Demenz führen. Darum gibt es Ideen für Therapien, die an unterschiedlichen Punkten des glymphatischen Systems ansetzen. Der Amsterdamer Forscher Bakker konzentriert sich auf die Blutgefäße. »Wir wissen, dass Bluthochdruck mit Altern und verschiedenen Arten von Demenz zusammenhängt«, sagt er. Bei Bluthochdruck werden Arterien steifer und können sich dadurch weniger gut ausdehnen und zusammenziehen – und somit möglicherweise weniger gut Liquor ins Hirngewebe pressen.
»Das könnte Alzheimer zu einem neurochirurgischen Problem machen«Jonathan Kipnis, Neurobiologe
Bakker und seine Kollegen untersuchen nun, ob die Gefäße versteifen, weil sich bei älteren Menschen zunehmend das Protein Medin in Gefäßwänden ablagert. Trifft der Verdacht zu, dann könnte die Entfernung dieses Proteins möglicherweise bei Demenz helfen. Jonathan Kipnis schlägt in einer Übersichtsarbeit einen ganz anderen Ansatz vor: Über auditive Reize oder Hirnstimulation könnte man Gehirnwellen im Schlaf verstärken und so den Fluss der Zerebrospinalflüssigkeit anregen.
Andernorts liegt der Fokus eher auf dem Abfluss des glymphatischen Systems – also dessen Verbindung mit dem Lymphsystem. Wenn der verstopft ist, dann bringt auch das effizienteste Spülen nichts. Ende 2024 sorgten die Aussagen chinesischer Wissenschaftler für Aufruhr in den sozialen Medien. Sie berichteten, eine Operation am Nacken von Alzheimerpatienten durchgeführt zu haben, bei der sie Lymph- und Blutgefäße miteinander verbanden. Angeblich führte das zu erstaunlichen Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten.
Veröffentlicht wurde bislang jedoch nur eine Fallstudie mit einer Patientin. Die Ergebnisse sind daher als sehr vorläufig einzuschätzen. Kipnis zufolge sollte man diese Forschung aber im Auge behalten. »Das könnte Alzheimer zu einem neurochirurgischen Problem machen«, sagt er. »Das wäre sehr aufregend.«
Und Nedergaard selbst? Die hält sich mit gewagten Aussagen über künftige Therapien gegen Demenz auffallend zurück. Bislang ist kein Ansatz auch nur annähernd praxisreif. Außer einem: genug schlafen.
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