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Ichthyologie: Großer Streit um kleine Fische

Größenvorschriften sind schon seit Jahrzehnten ein Teil der Fischwirtschaft, aber es gibt Befürchtungen, dass sie mehr schaden als nützen.
Zum Trocknen an der Luft aufgehängter Kabeljau auf den Lofoten

An einem schönen Tag im April zog ein Fischer namens Johan Norman in der Nähe des norwegischen Moskenes, wo sich schneebedeckte Gipfel direkt aus dem Meer erheben, ein Kabeljauweibchen aus dem Wasser. Er maß den Fisch: 82 Zentimeter von der Maul- bis zur Schwanzspitze. Dann zog er sein Messer und schabte einige Schuppen ab, die er in einem kleinen Umschlag an das norwegische Meeresforschungsinstitut in Bergen zur dortigen Lagerung übergab. Das war 1913.

In den nächsten 100 Jahren, während die Schuppen im Archiv ruhten, waren die Weltmeere radikalen Veränderungen unterworfen. Die kleinen Segelboote der norwegischen Fischer und anderer Nationen wurden durch industrielle Fangschiffe mit Grundschleppnetzen ersetzt. 1968 begannen die Erträge beim Kabeljaufang rapide einzubrechen. Bei anderen Fischarten wie Lachs, Seezunge und Hummer sah es auch nicht besser aus. Dann, Anfang der 1980er Jahre, meldeten erste Wissenschaftler ein weiteres Besorgnis erregendes Phänomen: In einigen Regionen wuchsen die Fische langsamer, reiften früher und laichten weniger Eier ab als zuvor [1]. Dies war mehr als nur ein bedenkliches Zeichen für die Nachhaltigkeit dieser Fischgründe, denn kleinere Fische sind weniger wert, da sie kleinere Filets ergeben.

Kabeljauschwarm | Der Kabeljau oder Dorsch war lange der Brotfisch der Europäer: Überfischung ließ dann in den letzten Jahrzehnten die Bestände zusammenbrechen. Langsam erholen sie sich jedoch wieder.

Erklärungen für das Schrumpfen der Fische reichten von einer Veränderung der Salzwassertemperaturen bis hin zu einem Rückgang der Nahrungsressourcen [2]. Der wahre Übeltäter könnten jedoch gerade die Methoden zum Schutz der Fischbestände sein. Verschiedenen Gesetzen und Verträgen entsprechend verwenden die meisten Schleppnetzfischer weitmaschige Netze, aus denen kleine Jungfische entkommen können. Die Gründe liegen auf der Hand: Man erntet nur die ältesten, dicksten Exemplare der Population und lässt junge Fische weiterleben, damit sie sich vermehren und zur nächsten Generation beitragen können. Fischereiforscher und Umweltschützer befürworten Größenvorschriften, da sie die Populationen schützen sollen, und Fischer konzentrieren sich gerne auf die großen, hochwertigen Fische.

Retrograde Evolution

Was aber, wenn die Theorie dahinter falsch ist? In den letzten fünf Jahrzehnten konnten Wissenschaftler kaum Beweise vorlegen, dass ein verminderter Fang von jungen oder kleinen Fischen die jährlichen Erträge verbessert. Stattdessen argumentiert eine kleine Gruppe von Forschern jetzt, dass Fische sich an die Größenbeschränkungen anpassen, indem sie ihre Energie darauf verwenden, früher geschlechtsreif zu werden, anstatt zu wachsen. Und auf Grund ihrer geringeren Größe produzieren sie weniger Eier. Diese Wissenschaftler leugnen zwar nicht, dass eine Überfischung die größte Gefahr für die Fischbestände darstellt, betonen jedoch, dass dieser Selektionsdruck einen schädlichen Einfluss haben wird, der nur schwer umkehrbar ist. "Man kann das ruhig ein paar Jahre außer Acht lassen, aber der Effekt ist kumulativ, und so wird das Problem immer größer", erklärt der Biologe Mikko Heino von der Universität in Bergen.

Die Theorie ist umstritten, und viele Wissenschaftler zeigen sich nicht überzeugt. Darum zog Heino letztes Jahr Normans 100 Jahre alte, konservierte Kabeljauschuppen zu Rate. Er extrahierte ihre DNA und sequenziert nach und nach das vollständige Genom dieses und anderer Fische, auf der Suche nach Veränderungen in Wachstums- und Entwicklungsgenen, die das Schrumpfen der Art erklären könnten.

Doch selbst wenn diese Evolutionsidee zutreffen sollte, ist man sich immer noch nicht einig, was zu tun ist. Nur eine "abnehmende Minderheit von Narren" geht davon aus, dass ein erhöhter Befischungsdruck auf Jungtiere klug oder nachhaltig wäre, meint Carl Walters von der kanadischen University of British Columbia in Vancouver.

Die Theorie der Selektion durch Befischung lässt sich bis 1981 zurückverfolgen. Damals mutmaßte der kanadische Fischereiforscher William Ricker, dass Silberlachs (Oncorhynchus kisutch) und Buckellachs (Oncorhynchus gorbuscha) mit geringerer Größe geschlechtsreif werden, da japanische Stellnetzfischer sich nur auf die größten Hochseefische konzentrierten [1]. 1990 konnten Forscher das gleiche Phänomen bereits auch bei anderen Arten beobachten. Viele Jahre lang machte man jedoch einmütig Umweltfaktoren wie den Klimawandel und die Verschmutzung dafür verantwortlich und nicht die Genetik.

Dann veröffentlichten David Conover und Stephan Munch von der New Yorker State University in Stony Brook 2002 ein umstrittenes Experiment [3]. Sie fingen vor der Küste von Long Island Mond-Ährenfische (Menidia menidia) und hielten diese in sechs Populationen mit jeweils etwa 1000 Exemplaren. Nach 190 Tagen entnahmen sie aus jeder Population 90 Prozent der Fische. Aus den ersten beiden Populationen nahmen sie nur die größten Fische, aus den nächsten beiden nur die kleinsten und aus den letzten beiden Exemplare zufälliger Größe. Danach regten sie die verbleibenden zehn Prozent zur Vermehrung an. Nach vier Generationen betrug das Durchschnittsgewicht der Fische in der Population, aus der die größten abgefischt wurden, etwa ein Drittel derjenigen, die nach dem Zufallsprinzip befischt wurde.

Kritiker bezeichnen das Experiment jedoch als unrealistisch. Die stimulierte Vermehrung erzeugte im Grunde eine Population, die zu einem festgelegten Alter geschlechtsreif wurde. Daher war es nicht verwunderlich, dass ein Entfernen der größeren Fische diejenigen begünstigte, die mit einer kleineren Größe reiften. In einem natürlichen Fischbestand ist die Größe zur Geschlechtsreife hingegen relativ stabil, aber das Alter variiert. Langsamer wachsende Fische reifen später, schneller wachsende früher. Auf diese Weise können Größenbeschränkungen eine Selektion für schnelleres Wachstum begünstigen. Diese Möglichkeit war jedoch im Versuch von Conover und Munch ausgeschlossen. "Ich war außer mir", erinnert sich Walters. "Sie haben ein Experiment gemacht, das nur ein Ergebnis zuließ."

Frühreife Dorsche

Die Debatte faszinierte den theoretischen Biologen Heino, der beim Studium der Lebensgeschichte von Fischen einen eigenen Ansatz verfolgte. Früher klassifizierten Forscher eine Population nach der Reaktionsnorm der Laichreife, also den typischen Werten für Reifegröße und Reifealter der Fische. Heino erkannte jedoch, dass ein Vergleich der Reife-Reaktionsnormen verschiedener Populationen irreführend sein kann, da durch unterschiedliche Nahrungsverfügbarkeit, Klima und weitere Umweltfaktoren variierende Wachstumsraten darin nicht berücksichtigt werden. Daher entwickelte er ein Wahrscheinlichkeitsverfahren, das veränderliche Wachstumsraten einbezieht.

Mit Hilfe dieser Methode zeigte er 2004 [4], dass 1987 geborene Kabeljau-Exemplare (Gadus morhua) jünger und kleiner geschlechtsreif wurden als 1980 geborene. Diese Veränderungen gingen dem dramatischen Rückgang der Population dieser Art an der kanadischen Küste Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre voraus. "Das war der größte Einbruch in jüngster Zeit", erklärt Heino. "Man würde hier ein Potenzial für eine schnelle Evolution erwarten." Der Hauptgrund für die Veränderungen lag Heino zufolge in der starken Befischung, aber die Größenselektierung trug zu dem Problem bei. Kritiker betonen, dass der Trend mit geringeren Wassertemperaturen, einer starken Meereisdecke und weiteren Faktoren einherging [2].

Heinos Methode eröffnete jedoch ein neues Feld, die so genannte darwinistische Fischwirtschaft. Evolutionsbiologen versuchten bald zu messen, wie stark sich die Größenbeschränkungen auf andere wilde Fischbestände auswirkten. Eine 2009 nach Heinos Methode angefertigte Studie [5] kam zu dem Schluss, dass der Großteil von 37 kommerziellen Fischbeständen jünger und mit geringerer Größe laichreif wurde als in der Vergangenheit und dass sich diese Auswirkungen in stark befischten Beständen am deutlichsten zeigten.

Der Genetiker Jeff Hard vom Fischereidienst der Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten NOAA in Seattle, Washington, erklärt, dass die längste Klasse von Lachsweibchen, diejenigen über 100 Zentimeter Körperlänge, 1976 für mehr als 20 Prozent der in einem Fluss in Alaska geschlüpften Fische zuständig waren. Heute liegt ihr Anteil unter vier Prozent, und die Zahl der von Weibchen produzierten Eier ist um 16 Prozent zurückgegangen. Ohne genetische Daten dieser und anderer Bestände lassen sich diese Ergebnisse jedoch immer irgendwelchen Umweltbedingungen zuschreiben. "Es ist fast unmöglich, so etwas zu beweisen", meint der Evolutionsökologe Andrew Hendry von der McGill University im kanadischen Montreal.

Darum ziehen Heino und weitere Forscher die DNA historischer Proben von Kabeljau und anderen Fischarten zu Rate. Filip Volckaert von der niederländischsprachigen Katholischen Universität Leuven in Belgien sequenziert beispielsweise die DNA aus Otolithen oder Ohrsteinen der Pazifischen Kliesche (Limanda aspera) für jedes Jahrzehnt seit den 1950er Jahren und sucht dabei nach genetischen Veränderungen, die mit dem Wachstum zusammenhängen könnten.

Das Guppy-Experiment

Und Heino ergänzt die genetische Arbeit durch seine eigene Art von Laborversuchen. In einem Spezialraum seiner Universität hält er derzeit neun Guppy-Populationen, von denen er je nach Größe ein Viertel bis zur Hälfte des Bestands abfischt. Um die Versuchsbedingungen natürlicher zu gestalten als bei Conover und Munch, lässt er eine Vermehrung der Guppys in jedem Alter zu. Und die Zuchtbestände umfassen wie in der Natur eine größere Bandbreite hinsichtlich Alter und Länge der Fische. Er hat das 2009 gestartete Experiment bis 2014 angelegt.

Doch die Skeptiker werden sich nur schwer überzeugen lassen. "Eine durch Befischung verursachte Evolution ist ein interessanter Nebeneffekt, aber er wird stark überbewertet", meint der Fischereiforscher Ray Hilborn von der University of Washington in Seattle. Es stehe außer Frage, dass befischte Bestände einer Entwicklung unterworfen seien, so Hilborn, doch manche Eigenschaften, wie etwa das frühere Reifealter, könnten die Produktivität einiger Fischpopulationen eher erhöhen statt vermindern. Auch die Daten über langsamere Wachstumsraten seien seiner Einschätzung nach noch nicht überzeugend. Der beste Weg, Fischbestände zu erhalten, bestehe einfach darin, weniger zu fischen, erklärt er.

Heino stimmt ihm zu. Doch er möchte auch an anderen Stellen Änderungen in der Meerespolitik sehen. Er teilt zum Beispiel nicht die Ansicht hinter den herkömmlichen Umweltschutzstrategien, dass Meeresschutzgebiete nur Laichgründe abdecken sollten. Dadurch erhalten früh reifende Fische nämlich einen weiteren Vorteil, da sie früher zu den Laichgründen zurückkehren, um sich zu vermehren, als spät reifende Fische. Zum Zweiten ist es seiner Meinung nach Zeit, die meisten Größenvorschriften abzuschaffen.

Diese Überlegungen gewinnen zunehmend Unterstützung. Letztes Jahr veröffentlichte eine internationale Gruppe von Fischereifachleuten ein Strategiepapier [6], das Größenbeschränkungen aus verschiedensten Gründen, unter anderem evolutionsbedingt, ablehnt. Jeppe Kolding von der Universität Bergen hat bei seinen Forschungen zur Kleinfischerei in Afrika herausgefunden, dass Gebiete, in denen Fischer illegale Netze verwenden, mit denen sie sowohl große als auch kleine Fische fangen, eher über artenreiche, intakte Nahrungsnetze verfügen, die unbefischten Gebieten ähneln, jedoch weniger Biomasse aufweisen. Mit einem Befischungsdruck, der sich auf alle Arten und Größen verteilt, so sein Argument, können Fischer einen größeren Fang einbringen und riskieren dabei weniger, einzelne Bestände auszumerzen. "Wie kann man da behaupten, das sei eine schlechte Fischfangmethode?", fragt er.

Heino weiß, dass eine Umwälzung festgefahrener Fischereipraktiken Jahrzehnte dauern kann. Er konzentriert sich jetzt erst einmal auf die Daten. "Das erfordert Geduld", sagt er. "Die praktischen Auswirkungen werden sich noch eine lange Zeit weiterentwickeln."

Der Artikel erschien unter dem Titel "A big fight over little fish" in Nature 493, S. 597-598.

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  • Quellen
[1] J. Fish. Aquat. Sci. 38, S. 1636–1656, 1981
[2] J. Trends Ecol. Evol. 22, S. 652–659, 2007
[3] Science 297, S. 94–96, 2002
[4] Nature 428, S. 932–935, 2004
[5] Evol. App. 2, S. 260–275, 2009
[6] Science 335, S. 1045–1046, 2012

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