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News: Gruppenunterricht an Hauptschulen: Lehrkräfte im Konflikt

Frontalunterricht, Partnerarbeit, Einzelbeschäftigung, Gruppenunterricht - unter den vier gängigen Formen, in denen an unseren Schulen gelehrt und gelernt wird, soll die letztere neben der Leistung vor allem Selbständigkeit, soziale Kompetenz und Kreativität der Kinder fördern. Die Auswirkungen kooperativen Lernens auf die Schüler und die Bedingungen, unter denen sie auftreten, sind seit einigen Jahren bereits recht gut erforscht. Wenig bekannt war dagegen zu Beginn des Projekts darüber, was sich in den Arbeitsgruppen im einzelnen ereignet, wie Lehrkräfte die Aufgabe stellen, die Arbeitsphase begleiten und die Ergebnisse bewerten und welche subjektiven Wissensbestände und Sichtweisen sie in die Unterrichtssituationen einbringen. Aus einer langjährigen Studie an Hauptschulen lassen sich nun konkrete Empfehlungen ableiten.
Im Klassenzimmer arbeiten Elf- und Zwölfjährige in Vierergruppen an einer gemeinsamen Aufgabe. Es geht laut und lebhaft zu; hier bahnt sich ein Streit an, anderswo scheint das Gekicher nicht enden zu wollen, und die Lehrerin fühlt sich hin- und hergerissen. Wäre es angebracht, jetzt einzugreifen? Ist es besser, abzuwarten und die Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Weg finden zu lassen? In der Praxis mischen sich Lehrer eher zu häufig als zu selten in die Gruppenarbeit ein, was zu völlig anderen Situationen führen kann als beabsichtigt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Hanns-Dietrich Dann, Prof. Dr. Theodor Diegritz und Prof. Dr. Heinz S. Rosenbusch haben Psychologen, Linguisten und Pädagogen von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Otto-Friedrich-Universität Bamberg in einer mehrjährigen Feldstudie verfolgt, wie Gruppenunterricht an Hauptschulen in den Augen externer Beobachter abläuft, wie die Lehrkräfte ihn sehen und was ein Vergleich dieser beiden Betrachtungsweisen ergibt. Für den Schulunterricht ließen sich konkrete Empfehlungen ableiten, die zum Teil bereits als Fortbildungsmaterialien vorliegen.

Die Untersuchungen zielten zum einen darauf ab, alle Prozesse zu erfassen, die während des Gruppenunterrichts ablaufen. Zum anderen war von Interesse, wie die Lehrkräfte den Ablauf interpretieren, welches Wissen sie aktivieren und wie sie es anwenden. Außen- und Innenperspektive sollten anschließend in einen Zusammenhang gestellt werden. Dabei gerieten auch die inneren Konflikte, mit denen Lehrkräfte im Gruppenunterricht zu kämpfen haben, ins Blickfeld. Nicht zuletzt war die theoretisch wie praktisch bedeutsame Frage nach der Qualität des Unterrichts zu klären. Um diesem umfassenden und vielschichtigen Ansatz zu entsprechen, war das Projekt interdisziplinär und problemzentriert angelegt. In Intensivstudien über eine vergleichsweise kleine Zahl von Fällen wurden interpretative und quantifizierende Methoden zusammengeführt. Die Ergebnisse sollten sich so in ihrer Aussagekraft ergänzen und gegenseitig stützen.

16 Klassen der 5. und 6. Jahrgangsstufe an Hauptschulen, die im nordbayerischen Raum sowohl in ländlichen Gegenden als auch in größeren Städten ausgewählt wurden, waren insgesamt einbezogen. Auf Lehrerinnen und Lehrer, kurze und langjährige Diensterfahrung entfiel jeweils der gleiche Anteil. Alle Lehrkräfte nahmen an der Innensichterhebung teil, alle Klassen wurden während des Gruppenunterrichts besucht. Audio-visuelle Aufzeichnungen des Unterrichts, die zur Außensichterhebung über etwa eine Woche hinweg liefen, wurden in zehn Klassen herangezogen. Während der Gruppenarbeit sollten möglichst authentische, unverfälschte Geschehnisse beobachtet werden.

Die Faktoren, die – der empirischen Analyse nach – die Kommunikation innerhalb dieser Schülergruppen bestimmten, bestätigten ein zuvor entwickeltes Modell: Jede Schüleräußerung beeinflußt die Prozeßaspekte, nämlich die aufgabenorientierte, inhaltliche Arbeit, die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander und die Gesprächsregelung, in der sich beispielsweise entscheidet, wer im Moment zu Wort kommt. Die Führungsstruktur, die sich innerhalb der Gruppen ausbildet, ist für den Verlauf der Gruppenprozesse weniger bedeutsam als erwartet. Doch erzielen sozio-emotional geführte Gruppen deutlich bessere Arbeitsergebnisse als autoritär geführte. Schülergruppen, in denen es keine starre Rangordnung gibt, wo sich Gruppenfunktion und Führungsrollen also situations- und themenspezifisch abwechseln, erweisen sich als erfolgreicher. Entgegen oft geäußerten Befürchtungen sind "Trittbrettfahrer", die die Arbeit den anderen überlassen, kaum zu finden.

Der inhaltliche Fortschritt der Gruppenarbeit wie auch die Arbeitsergebnisse hängen in hohem Maße davon ab, ob der Arbeitsauftrag präzise gestellt und verständlich formuliert ist. Als besonders vorteilhaft erwies es sich, wenn Lehrkräfte sich vor Beginn der Arbeit davon überzeugten, daß die Gruppen den Auftrag verstanden hatten, was in der Hälfte der untersuchten Fälle jedoch ausblieb. Ist den Schülerinnen und Schülern nicht völlig klar, was sie zu tun haben, verlieren sie weitaus häufiger während des Arbeitsprozesses die Orientierung, so daß die Lehrkraft eingreifen muß. Gerade allzu zahlreiche und ausgiebige Interventionen wirken sich aber ungünstig aus.

Tritt ein Lehrer oder eine Lehrerin an den Gruppentisch, ist meist zu beobachten, daß die Kommunikation zwischen den Schülern abbricht und einem "Mini-Frontalunterricht" weicht. Die Gruppenmitglieder konzentrieren sich auf die erwachsene Autoritätsperson und damit zwar kurzfristig verstärkt auf die Aufgabe; verläßt die Lehrkraft aber die Gruppe, so steigt die Bereitschaft, sich vom Thema ablenken zu lassen, sehr schnell an. Obwohl die Lehrkräfte das entgegengesetzte Ziel verfolgen und ihre Handlungen auch entsprechend einschätzen, bringen sie so die Gruppenarbeit immer wieder zum Erliegen. Berichte über den Stand der noch nicht abgeschlossenen Gruppenarbeit zu verlangen wirkt sich besonders hinderlich aus: Die Gruppen tendieren dann dazu, ihre Aufgabe als erledigt zu betrachten. Lob wie Tadel fördern nur dann den inhaltlichen Fortschritt, wenn ein hoher Bezug zur Arbeitssituation besteht.

Trotz dieser problematischen Auswirkungen war zu beobachten, daß viele Lehrkräfte während der Gruppenarbeit fast pausenlos intervenierten. Nur zwei von vierzig Schülergruppen blieben unter sich; im Höchstfall fanden zehn Eingriffe bei ein und derselben Gruppe statt. Dies lenkte die Aufmerksamkeit der Forscher auf einen Grundkonflikt, der allen Lehrkräften zu schaffen machte, die an der Untersuchung teilnahmen. Einerseits sollte der Gruppenunterricht die Selbständigkeit ihrer Zöglinge fördern; andererseits glaubten sie, alles unter Kontrolle haben zu müssen. In einer konkreten Situation wußten sie deshalb oft nicht, ob sie eingreifen sollten oder nicht.

Ein solches Dilemma tritt ein, wenn ein Imperativ – ein Bewußtseinsinhalt, der ein "darf nicht" oder "muß sein" enthält – entweder mit der Wahrnehmung der Realität oder mit einem zweiten, gleich starken Imperativ nicht zu vereinbaren ist. Daraus entspringen Unsicherheiten, die im Fall der Lehrkräfte den Handlungsprozeß im Unterricht nachweislich belasten. Dennoch wichen die Handlungen der Lehrerinnen und Lehrer relativ selten von ihren jeweiligen "Subjektiven Theorien" ab; Denken und Handeln waren in unerwartet hohem Maße konsistent.

Qualitativ hochwertigen Gruppenunterricht konnten diejenigen Lehrkräfte leisten, die auf ein reichhaltiges, differenziertes und gut organisiertes Wissen zurückgreifen konnten, wie es ihren weniger erfolgreichen Kollegen fehlte. In den handlungsleitenden individuellen Wissensbeständen ließen sich Anteile von überindividuellem, sozial konstruiertem Wissen ausmachen. Drei Typen solchen Wissens wurden abgegrenzt, die unterschiedliches Rollenverhalten begründeten: die Rolle der wissenden und kontrollierenden Autorität, die der Instanz für Beratung und Hilfe und schließlich eine sehr flexible Haltung, in der sich kaum Elemente des traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnisses wiederfinden. Für die Didaktik des Gruppenunterrichts läßt sich dieser letzte Typus als Maßstab heranziehen.

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