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News: Haarsträubend

Wie Puzzlestücke fügen sich die Funktionen einzelner Erbanlagen langsam zu einem Gesamtbild aneinander. Bei diesem oftmals mühsamen Unterfangen bringen Wissenschaftler Licht ins Dunkel, indem sie mitunter Gene gezielt ausschalten. So legten nun Mäuse mit einem geringfügig veränderten Bauplan eine ungewöhnliche Körperpflege an den Tag: Sie verletzten sich nicht nur selber, sondern rissen sich sogar eigene Haare aus. Schuld an diesem anormalen Verhalten ist offensichtlich allein das mutierte Gen Hox b8.
Inzwischen gerät es fast zur Routine, die genetische Buchstabenkette verschiedener Lebewesen abzulesen. Weitaus schwieriger gestaltet es sich jedoch, die genaue Funktion der einzelnen Erbanlagen zu entschlüsseln. Oftmals offenbart sich deren Rolle im Gesamtorganismus erst, wenn der Bauplan gezielt "Schwachstellen" aufweist und infolgedessen Defekte auftreten.

Auch Mario Capecchi und Joy Greer von der University of Utah bedienten sich dieses Hilfsmittels, indem sie bei Mäusen eine spezifische DNA-Sequenz veränderten. Die Erbanlage Hox b8 zählt zu den so genannten Homöobox-Genen, die auf die Musterbildung während der Embryonalentwicklung einwirken. Und die Forscher wurden fündig: Jene Versuchstiere, bei denen die Mutationen in reiner Form, also homozygot vorlagen, wiesen neben charakteristischen Verletzungen ihrer Haut auch unbehaarte Flecke auf ihrem Körper auf.

Anfangs führten die Wissenschaftler jene "Körpermale" auf einen Fehler im peripheren Nervensystem zurück. Aber diese These erwies sich als unzutreffend, denn in Reiz-Tests zeigten alle Nager-Mutanten normale Reaktionen. Auch gab es augenscheinlich keinerlei Anzeichen einer Entzündung oder einer ungewöhnlichen Immunantwort an den unbehaarten Körperstellen. Doch merkwürdigerweise entdeckten die Forscher an den Zähnen und im Magen ihrer Versuchstiere beachtliche Mengen an Körperhaaren. Sollten die Mäuse gar selber Löcher in ihr Fell reißen?

Und tatsächlich: Wie Videoaufnahmen rund um die Uhr enthüllten, verbrachten jene mutierten Nager doppelt so viel Zeit mit der Körperpflege wie ihre normalen Artgenossen. Auch der Pflege ihrer Käfiginsassen widmeten sie sich ausgiebig. Jenes Verhalten beobachteten die Wissenschaftler sowohl bei Mäusen mit anormalen Rippen als auch bei solchen ohne eine derartige Deformation. Gemeinsam war beiden Gruppen, dass sie jeweils Veränderungen im Homöobox-Gen Hox b8 aufwiesen – jedoch an verschiedenen Stellen.

Wie eine nähere Untersuchung ergab, zeigte zwei Drittel aller Mäuse mit Rippenmissbildungen ein ungewöhnliches Ablesungsmuster eines anderen Homoöboxgens. Vermutlich hat die Mutation hier eine regulatorische Funktion ausgeschaltet, spekulieren die Forscher. Bei den Nagern ohne Rippendeformationen waren hingegen keine derartigen Wechselwirkungen mit benachbarten Genen festzustellen.

Offensichtlich gelang es den Wissenschaftlern, die Funktion von Hox b8 aufzuklären. Wahrscheinlich ist es normalerweise dafür zuständig, die Körperpflege der Tiere zu regulieren. Doch bei den Mäusen mit modifiziertem Erbgut ist die Wirkungsweise dieses Gens vermutlich infolge eines gestörten Rückkopplungsmechanismus aus dem Gleichgewicht geraten. Interessant ist diese neue Erkenntnis nicht zuletzt deshalb, weil deutliche Parallelen zu einer seltenen Krankheit des Menschen existieren: Die so genannte Trichotillomanie äußert sich bei den Betroffenen ebenfalls in einem zwanghaften Haareausreißen.

Eventuell könnten die Forschungsergebnisse auch für andere menschliche Zwangsstörungen von Bedeutung sein, denn das Hox b8-Gen wird in der Zerebrospinalflüssigkeit und in Gehirnregionen abgelesen, die mit zwanghaften Handlungen offensichtlich in Verbindung stehen. Als nächsten Schritt plant das Team um Capecchi nun, die Erbanlage von betroffenen Menschen näher zu untersuchen. Zudem wollen die Wissenschaftler Versuchstiere kreieren, deren Homöobox-Gen sich nach Belieben an- und abschalten lässt.

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